4. September 2025

Über das geteilte Gedächtnis Europas im Werk von Hans Bergel

Am 26. Juli jährte sich der Geburtstag des im Februar 2022 verstorbenen Schriftstellers und Journalisten Hans Bergel zum 100. Mal. In einem feierlichen Akt am 27. Juli 2025 auf Schloss Horneck, musikalisch umrahmt von der Pianistin Eva Fabini, wurde die vom Künstler Kurtfritz Handel gestaltete Bronzebüste des siebenbürgischen hommes des lettres Hans Bergel dem Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim übergeben (diese Zeitung berichtete). Die Literaturhistorikerin Dr. Olivia Spiridon vom Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL) in Tübingen hielt den Vortrag „Die ‚Realität‘ der Fiktion. Über das geteilte Gedächtnis Europas im Werk von Hans Bergel“, der im Folgenden in einer gekürzten Fassung abgedruckt wird.
Olivia Spiridon hielt den Festvortrag über Hans ...
Olivia Spiridon hielt den Festvortrag über Hans Bergel. Foto: Ingrid Schiel
Hans Bergel führte sein schriftstellerisches Profil immer wieder auf die Leidenschaft für Geschichte und das Erzählen von Geschichten zurück. Seine Berufung, Geschichten zu erzählen und Geschichte zu deuten, brachte er häufig zum Ausdruck, unter anderem im Gedicht „Credo“: „Ich leb umgrenzt von meiner Zeit / Ich denke dies und wage das. / Was soll ich in der Ewigkeit, / wenn ich’s nicht hier und heute fass?“ Der hundertjährige biografische Meilenstein stellt einen Anlass für eine „Begehung“ des literarischen Werks von Hans Bergel dar, das er als Glosse zur Zeitgeschichte und Hinwendung zum Diesseits verstand. Die enge Verflechtung von Geschichte und Geschichten bildet den Ausgangspunkt für eine Betrachtung zum einen der Auffassung von Geschichte im Spannungsverhältnis von Faktizität und Fiktionalität und zum anderen des kulturellen Gedächtnisses, mit dem das Werk Hans Bergels interagiert. Sicherlich nimmt dieser Zugang nur einige Aspekte des über 50 Bände umfassenden und häufig analysierten Werkes in den Fokus. Dazu gehören Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, literarische Reisebeschreibungen, Übersetzungen, journalistische Texte und unter anderem Features für den Rundfunk, für die Hans Bergel zahlreiche Preise und Ehrungen in der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien erhielt.

Hans Bergels konstantes Interesse für Geschichte beleuchtet allgemein das Verhältnis von individuellem Denken und Handeln einerseits und Geschichte andererseits, hängt aber auch mit der Einsicht über die gravierenden Auswirkungen historischer Abläufe für den Einzelnen zusammen, wie er sie im Rumänien der 1950er Jahre erfahren hatte. Seine 1955 von der Bukarester Zeitung Neuer Weg in einem Wettbewerb ausgezeichnete historische Erzählung „Fürst und Lautenschläger“, die zwei Jahre später im Jugendverlag der rumänischen Hauptstadt erschien, wurde ihm 1959 zum Verhängnis. Das Regime der Volksrepublik Rumänien inszenierte ihm und anderen Literaten einen Schauprozess und verurteilte ihn – unter anderem aufgrund der Umdeutung des ehemals preisgekrönten Textes als staatsfeindlich – zu 15 Jahren Haft. Wie Menschen von der Walze der Politik überrollt wurden, wie ihr biografischer Lauf vom Strom der Geschichte umgeleitet wurde, stellt Hans Bergel in den Jahren nach seiner Auswanderung aus Rumänien 1968 häufig dar – in zahlreichen Erzählungen und unter anderem in den historischen Romanen „Der Tanz in Ketten“ (1977), „Wenn die Adler kommen. Die Geschichte einer Familie aus Siebenbürgen“ (1999) und „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006).

Geschichte und Geschichten, die erzähltheoretisch, lexikalisch und phonetisch aneinandergrenzenden Bereiche, beschäftigten Hans Bergel insbesondere auch in Verbindung mit der Frage nach der „Realität“ der Fiktion. Die Antwort erhalten wir indirekt, etwa durch die gewollt unscharfe Abgrenzung zwischen den verschiedenen professionalisierten Instanzen des Umgangs mit der Vergangenheit – dem Historiker und dem fiktionalen Schriftsteller. Auf die Frage: „Warum sind Sie kein Historiker geworden?“ antwortete Bergel in einem Interview mit Hans-Ulrich Engel mit der Gegenfrage: „Bin ich es denn nicht?“ Den Sinn für historische Abläufe zählte er nämlich gleichermaßen zu den Fähigkeiten des Schriftstellers wie auch zu jenen des Historikers, und die Ablehnung einer festen Positionierung im Spannungsfeld zwischen dem Fiktionalisieren und der Auseinandersetzung mit Fakten war bei Hans Bergel Programm.

Dabei ist der Abstand zwischen Dichtern und Historikern im 20. Jahrhundert keineswegs konstant, wie Walter Hinck in seinem Buch über „Geschichtsdichtung“ erläutert. Zeitlich nicht allzu weit entfernt liegt die Vergabe des Literaturnobelpreises an einen Historiker – an Theodor Mommsen im Jahr 1902. Der Abstand zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion wird bis heute debattiert. So weist etwa der amerikanische Historiker Hayden White in den 1970er Jahren auf die Entstehung historischer Werke mithilfe narrativer Modellierung und der Verwendung fiktionaler Mittel. Auch die Geschichte besteht aus Geschichten und beide setzen die Narration als Medium der Vermittlung ein: Man denke etwa an die Wahl des Anfangs und des Endes einer Erzählung und ihre Bedeutung für die Sinngebung. Zur „Klärung und Aufklärung von Lebensumständen“, stellt Hans Bergel in einem Gespräch mit Jacob Popper fest, nehmen Schriftsteller und Historiker gleichermaßen Selektionen vor, sodass im Erzählakt – sei er historisch oder literarisch codiert – kein unmittelbares Abbild der Wirklichkeit geliefert werden kann.

Das Streben nach Wahrheit ist Dichtern und Historikern gemeinsam, so Michael Lützeler in „Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit“, auch wenn Literatur und Geschichte zwei verschiedene Wahrheitsauffassungen zugrunde liegen. Gerade im Zusammenhang mit diesem anhaltenden Dialog zwischen den Metiers des Historikers und des (fiktionalen) Erzählers tritt die Modernität der Auffassung Hans Bergels zum Vorschein. Wie sich der Erzähler in den Texten Hans Bergels dem Einzelnen und seinem Verhältnis zur Geschichte annähert, wie die komplexe Beziehung zwischen Subjektivität und Faktizität, Dichtung und Wahrheit in seiner Funktionsweise sichtbar gemacht wird, soll ein konkretes Beispiel im Folgenden illustrieren.

Im Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ nimmt sich die Autoreninstanz die Freiheit, nicht nur breite Zusammenhänge der siebenbürgischen Geschichte darzustellen, sondern auch Einblicke in die Schreibwerkstatt der Erzählinstanz zu geben. Auf diese Weise beobachtet man den dichtenden Historiker bei seiner Arbeit. Er sichtet und sammelt „zerknitterte alte Briefe, Post- und Ansichtskarten, zufällig erhaltene Notizen und Bruchstücke von Tagebuchaufzeichnungen, dazu in umständlichen Korrespondenzen bei Verwandten, Freunden, Bekannten und Kennern der Umstände erfragte Mitteilungen und bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückliegende Zeitungsausschnitte, lose Buchseiten und Fotos. […] Das sind ungefähr zwanzig Quadratmeter übereinander gehäufte Familiendokumente, mit deren Hilfe ich die Ereignisse aus den zurückliegenden Jahren rekonstruiere, sie zueinander in Verbindung setze und hier niederschreibe. Die Arbeit verschafft mir vielerlei Befriedigung. Die nachhaltigste empfinde ich jedes Mal, wenn ich einen Vorgang nach freiem Ermessen schildere, an dem ich nicht teilhatte, zu dessen Wiedergabe mir auch keins der gehorteten Zeugnisse die Unterlage lieferte, der aber wegen belegter nachfolgender Vorgänge stattgefunden haben muss – und wenn mich dann, oft erst zu einem viel späteren Zeitpunkt und oft auch nur zufällig, die Nachricht erreicht, die mir die Richtigkeit meines Verfahrens bestätigt. Wenn sich also meine Intuition als zuverlässige Vollenderin des lückenhaften Quellenmaterials bewährte. […] Beim Ordnen der vielen Erinnerungsfragmente zur sinnvollen Einheit vertraue ich meinem Gespür für Zusammenhänge.“

In solchen Passagen zeigt die Erzählung nicht nur den dichtenden Historiker, dessen Arbeit mit Dokumenten von der Vorgehensweise des Historikers nicht allzu weit entfernt ist, sondern auch den advocatus poetarum, der die Methode der fiktionalen Verknüpfung im narrativen Akt zur schöpferischen Ausgestaltung der Lücken zwischen den Dokumenten und zur Aufdeckung grundlegender Wahrheiten für berechtigt hält. Die „Realität“ der Fiktion und nicht etwa der Gegensatz zwischen den beiden kommen dadurch zum Vorschein. In den historischen Fiktionalisierungen Hans Bergels werden Realität und Fiktion, gefiltert durch die Erzählinstanz des Dichter-Historikers, geradezu miteinander verschmolzen.

Die Freiheit der Fiktion macht die Vielstimmigkeit und Multiperspektivität der Geschichtsdarstellung möglich, wie man sie etwa in den Romanen „Wenn die Adler kommen“ und „Die Wiederkehr der Wölfe“ antrifft. Diese erzählen das Schicksal eines Kindes und Jugendlichen aus Siebenbürgen und rollen zugleich siebenbürgisch-deutsche, siebenbürgische und europäische Geschichte breitflächig auf. Der erzählte Raum weist eine hohe Dichte an Geschichten auf, denen das Hin und Her zwischen verschiedenen Perspektiven und Kompetenzen – der Fakten und Fiktionen erzählenden Instanz – gerecht werden können.

Mit seinem Verständnis als dichtender Historiker folgt Hans Bergel einer älteren siebenbürgisch-deutschen Tradition. Darauf hat Gerhardt Csejka in dem denkwürdigen Aufsatz „Der Weg zu den Rändern, der Weg der Minderheitenliteratur zu sich selbst. Siebenbürgisch-sächsische Vergangenheit und rumäniendeutsche Gegenwartsliteratur“ (1993) hingewiesen. Darin stellt Csejka die These auf, dass Vertreter einer Minderheitenliteratur stets die direkte Referenz zur Realität und Geschichte suchen. Gerade in Zeiten verspürter Krisen und historischer Zäsuren – die es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur Genüge gab – ist die Anbindung einzelner Schicksale, die literarisch aufgegriffen werden, an die Minderheitengeschichte häufig zu beobachten. Gerhardt Cseja führt die bekanntesten siebenbürgisch-deutschen Erzähler aus der Zwischenkriegszeit als Beispiele an, wie etwa Adolf Meschendörfer, Erwin Wittstock und Heinrich Zillich mit ihren gesellschaftlichen Fresken, denen nach 1945 weitere folgten, etwa Paul Schuster, Georg Scherg und in den letzten Jahrzehnen Joachim Wittstock. In dieser Erzählertradition ist auch Hans Bergel zu sehen, der in seinen Texten an einer Minderheitengeschichte mitschreibt und literarisch mit weiteren Blickperspektiven bereichert. Die Versöhnung zwischen der Arbeitsweise des Historikers und Schriftstellers erfolgt gerade durch die Narration als gemeinsames Substrat bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Nicht zufällig ist dem Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ folgendes Zitat von José Ortega y Gasset (1883-1955) als Motto vonrangestellt: „Wer etwas erklären will, muss eine Geschichte erzählen.“

Durch seine Positionierung an der Schnittstelle zweier narrativer Formen zur Darstellung seiner Herkunftsregion kann man Hans Bergel als einen Dichter-Historiker Siebenbürgens bezeichnen. Die Faszination für Siebenbürgen hat ihn nie losgelassen und sie hat jene großformativen Erzählungen hervorgebracht, in der die geradezu zügellose Lust am Erzählen zum Vorschein tritt, aber auch kluge Analysen der Region in literarischen Essays. „Nirgendwo ist Europa so vielschichtig wie im Südosten“, schreibt Hans Bergel im 2005 erschienenen Essay „Gedanken über Europa“. Der „geistige, kulturelle, ethnographische Reichtum“ und das Bild der „unübersehbaren Einheitlichkeit“, das die Menschen bieten, dürfen jedoch nicht über eine „tragische Zerrissenheit“ des häufig hart umkämpften, von Gewalt heimgesuchten Lebensraums hinwegtäuschen. Auch im einleitenden Text des Bandes „Wir Siebenbürger“, das von Hans Bergel und Walter Myß 1986 herausgegeben wurde, beschwört Bergel den Zwiespalt zwischen Siebenbürgen als „Heimat der Völker“ und deren unruhigem Schicksal, das von einer „geheimnisvollen Schleuderkraft dieses Hochlands am Rande Europas“ bestimmt wird. Die Einzigartigkeit und kulturelle Diversität, die Hans Bergel Siebenbürgen bescheinigt, hat sich in seine Identität eingeschrieben, etwa wenn er sich zu einer „doppelten Kulturzugehörigkeit“ bekennt. Zu der deutschen kommt die „Dimension des eminent Südöstlichen als persönliche Bereicherung“ hinzu, wie Hans Bergel im Gespräch mit Jacob Popper festhält. „Wir sind doch alle das Ergebnis von Mischungen, vor allem im Geistigen.“

Hans Bergels Romane und Essays zu Siebenbürgen sind Teil des kulturellen Gedächtnisses – des „Archivs“ dieser Region –, in das neben Texten Bilder, Artefakte und etwa auch Zeremonien einfließen, zu denen auch die Festveranstaltung für Hans Bergel in Gundelsheim zählt. Sein Beitrag für die Vermittlung eines geteilten Gedächtnisses des Kontinents, wie im Titel des Vortrags formuliert, setzte zeitlich insbesondere nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland ein und hängt mit seinen Erfahrungen mit der bundesdeutschen Verlagslandschaft zusammen. Diese stimmen auch mit jenen anderer Autoren überein, und stellvertretend seien Franz Hodjak aus Siebenbürgen, Richard Wagner aus dem Banat oder etwa Johannes Weidenheim aus der Vojvodina genannt, die das mangelnde Interesse großer Verlage an den Schreckensgeschichten aus den Ländern von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zur Kenntnis nehmen mussten. Die Rezeption von Erzählungen, die das multikulturelle Siebenbürgen schilderten, wurde auch dadurch gehemmt, dass man diese Schriftsteller durch die verzerrende Linse des historisch belasteten Begriffs der „Auslandsdeutschen“ betrachtete. Hans Bergel hielt jedoch an der regionalen Tradition in der Manier des bürgerlichen Realismus fest und erzählte Siebenbürgen, Rumänien und Südosteuropa voller Faszination und gleichermaßen kritisch. Zu nennen sind seine journalistischen Texte aus den 1970er und 1980er Jahren, in denen er, wie Peter Motzan in einem 2020 erschienenen Beitrag hervorhebt, die naive Sicht des Westens auf das Ceaușescu-Regime und die Transformation des Landes im Sinne des Sozialismus schreibend zu korrigieren versuchte.

Auch für jene, die in Rumänien nach der politischen Wende von 1989 ein Gedächtnis der kommunistischen Verbrechen etablieren wollten, war Hans Bergel ein Weggefährte. Die Schriftstellerin Ana Blandiana, Mitbegründerin des „Memorial für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands“, lernte den Redner Hans Bergel auf einer Sommerschule in Sighet und den Schriftsteller durch die Übersetzungen der Romane „Der Tanz in Ketten“ und „Wenn die Adler kommen“ kennen. In einer 2020 veröffentlichten Hommage an Hans Bergel nennt sie ihn einen der wichtigsten Darsteller „des spezifisch Siebenbürgischen als multiethnisches Gebiet“. Das Titelbild des Romans „Der Tanz in Ketten“, das den Hirten Gordan, einen Widerstandskämpfer aus den Karpaten, in einem kommunistischen Gefängnis beschreibt, wertet Blandiana als „die kräftigste künstlerische Darstellung des Widerstands gegen den Kommunismus und die rührendste Hommage an das rumänische Volk“.

Die Begegnung zwischen Blandiana und Bergel, der auch ihren Gedichtband „Die Versteigerung der Ideen“ ins Deutsche übertrug, wie auch andere Wechselwirkungen von Schriftstellern vor dem Hintergrund geteilter Erfahrungen und ästhetischer Positionen, könnten Eingang in eine südosteuropäische Literaturgeschichte finden, die bislang ein Desiderat bleibt. Eine Literaturgeschichte der Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit hätte Anteil an der Formung eines anderen kulturellen Gedächtnisses der Großregion. In einer solchen Literaturgeschichte, in der der Raum und nicht etwa Sprache oder ethnische Zugehörigkeit als ordnendes Prinzip gelte, hätte Hans Bergel durch die Darstellung der siebenbürgisch-sächsischen Eigenart, der kulturellen Vielfalt und der regionalen kulturellen Interferenzen einen besonderen Platz.

Abschließend soll neben der eingangs erwähnten Leidenschaft Hans Bergels für Geschichte und Geschichten auch die Frage nach dem Grund für die Faszination sowohl des Schriftstellers als auch der Zuhörer und Leser für das Erzählen eruiert werden. Diese wurde von Erzähltheoretikern immer wieder aufgegriffen und beschäftigte auch Hans Bergel, etwa im Essay „Der Tod des Hirten oder Die frühen Lehrmeister. Erfahrungen im Umgang mit der Sprache“ (1985). Die Schilderung seiner Begegnung mit einem Hirten, bei dem er den „Urlaut der Erzählung“ kennenlernte, geht nicht nur mit der Entdeckung des Zaubers mündlichen Erzählens einher, sondern auch mit der Einsicht über den natürlichen Ursprung der Erzählung und ihrer tiefen Verwurzelung im menschlichen In-der-Welt-Sein. In diesem Essay beschreibt Bergel, wie er im mündlichen Erzählen den Gleichklang mit der Natur, etwa in der Konkordanz zwischen der „ruhigen Lebendigkeit des Flusses“ und der „heiteren Sicherheit des Gedankens“, entdeckt hat. Diese mache den Erzählfluss im Zustand der „Naivität“ so nachahmenswert für die Sprache der Dichtung.

Die Einsicht, die Hans Bergel formuliert, „dass die Erzählung ein Element der Schöpfung ist wie das Feuer und das Wasser, dass sie im Wind und im Atem der Erde ist“, stellt eine poetische Umschreibung erzähltheoretischer Grundsätze dar, die das Erzählen und deren Träger – die mündliche oder geschriebene Sprache, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das Zusammenspiel all dieser Substanzen – als Grundlage des Menschlichen und seiner Wechselwirkung mit der Welt betrachten. Das Narrative ist in einer „ursprünglicheren“ Schicht des Daseins angesiedelt, die unterhalb von Gegensätzlichkeiten wie „Spiel und Ernst, Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, Phantasie und Realität“ liegt (Albrecht Koschorke, „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie“). Die Funktion der Erzählung, Leitbilder zu vermitteln, denkt man etwa an Mythen und ihre kathartische Wirkung, ist offensichtlich so zentral, dass das Bedürfnis zu erzählen die Differenzen zwischen Fakt und Fiktion übersieht. In dieser Denktradition ist Hans Bergel zu verorten, wenn er etwa im Essay über Erfahrungen im Umgang mit der Sprache das Erzählen als Voraussetzung seines Lebens bezeichnet.

Die Primordialität des Erzählens hebt die Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität auch deshalb auf, weil sich der Mensch im Erzählen in seiner doppelten Beschaffenheit zeigt: als Erzählender und Spielender, als homo narrans und homo ludens, sodass Erzählungen auch als „Erzählspiele“ aufzufassen sind. Erzählungen sind eine Spielwiese, wo gesellschaftliche Formationen, ihre Probleme und Lösungen, mögliche Aushandlungen ohne konkrete soziale Folgen erprobt werden. Sie verhandeln sozial Bedeutsames in einem freien Rahmen. Sie bieten sich für multiple Perspektivierungen, Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit an. Durch das Erzählen erlebt man multiple Versionen des eigenen Lebens und man erlebt die einzigartige Freiheit der Bewegung vorwärts und rückwärts in der Zeit, was der Erzähltheoretiker Paul Ricœur zu den außerordentlichen Eigenschaften der Narration zählt.

An so einer Schaltstelle der menschlichen Mitteilsamkeit verortet man den Schriftsteller Hans Bergel. Indem er fiktionalisiert, kreiert er sich immer wieder selbst neu, mit einem immensen Willen, die eigene Existenz, den Raum und die Geschichte poetisch zu verdichten. Es geht ihm auch darum, Existenz im Allgemeinen zu mythisieren, indem er diese als Konfrontation zwischen archetypischen Gegensätzen narrativ vorführt: etwa Freiheit und Unterdrückung, Widerstand und Unterwerfung, den Willen zur Bewahrung des Besonderen und das Vergessen. Sein Imaginiertes ist gesellschaftlich relevant. Durch die Rückkopplungseffekte der Erzählung auf soziale Verhaltensweisen fließen Erzählungen in die soziale Praxis und ins kulturelle Gedächtnis ein, sodass das Fiktionale als Bestandteil des „Stoffwechsels“ der Gesellschaft betrachtet werden muss. Für Hans Bergels literarisches Werk gilt das ohne Einschränkung.

Dr. Olivia Spiridon

Schlagwörter: Hans Bergel, Literatur, Vortrag

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