8. März 2025
Charakterstark und selbstbestimmt: Elisabeth Richter aus Zendersch mit 103 gestorben
Im Juni 2024 vollendete Elisabeth Richter, geborene Prudner, ihr bemerkenswertes 103. Lebensjahr. Mit ihrem Tod am 9. Dezember 2024 verlieren wir die älteste Zenderscherin und eine Frau von außergewöhnlicher Stärke, beeindruckendem Durchhaltevermögen und einem unermüdlichen Lebenswillen. Ihre Geschichte ist zugleich Zeitgeschichte und ein Zeugnis für den unbeugsamen Lebensmut und die mehrfachen Neuanfänge, die viele Siebenbürger Sachsen verbinden.

Sie wuchs mit zwei jüngeren und vier Halbgeschwistern in Zendersch auf. Mit 15 Jahren lebte sie kurzzeitig bei Tante und Onkel in Halvelagen, danach in Kronstadt bei anderen Verwandten. 1942 lernte sie ihren späteren Ehemann Gerhard Richter in Kronstadt kennen. Gerhard Richter, Tischlermeister, war als deutscher Soldat dort stationiert. Lisi und der 16 Jahre ältere Gerhard verliebten sich und sie begleitete ihn nach Bukarest, wo Lisi als Dolmetscherin beim Militär Arbeit fand. Im Oktober 1944 wurde Gerhard Richter für fünf Jahre als Kriegsgefangener nach Sibirien verschleppt. Auch Lisi war für die Kriegsgefangenschaft vorgesehen, aber sie war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Sohn Gerhard schwanger und wurde aus diesem Grund von dem Transport nach Sibirien verschont.
Im April 1945 wurde ihr Sohn Gerhard in Bukarest geboren. Drei Tage nach der Entbindung verließ Lisi das Krankenhaus – ohne Wohnung, Familie oder Kleidung für das Baby. Als sie erschöpft Wasser holen wollte, legte sie das Baby auf einer Bank ab. Doch als sie zurückkam, war es verschwunden. Verzweifelt schrie sie, bis Herr Ionescu, ein Mitarbeiter des ehemaligen rumänischen Königshauses, auf sie aufmerksam wurde. Er hatte das Baby gefunden und mitgenommen, um es in Sicherheit zu bringen. Herr Ionescu nahm Mutter und Kind für eineinhalb Jahre bei sich auf, versorgte sie medizinisch und mit Lebensmitteln – eine Rettung in der entbehrungsreichen Zeit.
Während Gerhards Kriegsgefangenschaft zog Lisi den Sohn allein groß und arbeitete in der Milchwirtschaft. In den Wirren des Krieges verlor sie den Kontakt zu ihrer Familie und den Zenderschern. Ihre Briefe blieben unbeantwortet – die Zenderscher waren unterdessen 1944 evakuiert worden, ihre Evakuierung wurde zur Flucht. Ihre Familie glaubte, Lisi sei bei den Luftangriffen auf Bukarest ums Leben gekommen.
Trotz der widrigen Umstände blieb sie zuversichtlich und tatkräftig, bis ihr der Zufall erneut half. Sie begegnete einem Bekannten aus Zendersch, der ihr von den Ereignissen in Zendersch und der Situation ihrer Familie berichtete. 1946 holten ihre Eltern sie und Enkel Gerhard zurück nach Zendersch.
Um ihrem Mann in Sibirien ein Lebenszeichen zu senden, ließ Elisabeth ein Foto ihres Sohnes machen, nähte es auf ein Stoffstück und schickte es los – so erfuhr Vater Gerhard von seinem Sohn. 1948 kam das erste Lebenszeichen von Gerhard Richter, der Ende 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. 1951 siedelten Lisi und Söhnchen Gerhard nach Döbern/Niederlausitz zu Gerhard um. Im September 1951 feierten sie Hochzeit, kurz darauf kam Tochter Christine zur Welt. Im Sommer 1952 setzte Lisi mit den beiden Kindern nach Hamburg über; Gerhard war zuvor bereits nach Westdeutschland gegangen und empfing die Familie.
Seither lebte Familie Richter in Hamburg-Farmsen. Im eigenen, 1962 selbst gebauten Haus fand Lisi ihr dauerhaftes Zuhause. Von Anfang an bewirtschaftete Lisi den Garten, machte Obst und Gemüse ein, kochte nach siebenbürgischen Rezepten und feierte mit Freunden in fröhlicher Runde. Ihr Trinkwasser holte sie bis zuletzt aus dem eigenen Gartenbrunnen. Lisi lebte für ihre Familie. Ihr Sohn Gerhard wanderte mit 18 Jahren nach Kanada aus und gründete dort eine Familie. Gemeinsam mit ihrem Mann besuchte sie regelmäßig Gerhard und die Enkel Stefan und Adrian, die ihr großes Glück waren.
Nach dem Tod ihres Mannes (1993), den sie zuvor zehn Jahre lang liebevoll gepflegt hatte, lebte sie weitere 31 Jahre lang in ihrem geliebten Zuhause – zuletzt mit Unterstützung durch Tochter Christine. Immer, wenn es eine Möglichkeit gab, reiste Lisi gern. Nebst Kanada auch in die USA, nach Rumänien, Österreich, Ungarn oder Italien. Kurz vor ihrem 100. Geburtstag flog sie zum letzten Mal nach Kanada, um Sohn, Enkel und die Urenkelin Maelle zu besuchen.
Elisabeth Richter hinterlässt eine Lebensgeschichte, die von Stärke, Liebe und Heimatverbundenheit geprägt ist. Jeden Winter kochte sie aufwendige „Hetschempetsch“ (Hagebutten)-Marmelade ein und stiftete diese bis knapp vor ihrem 100. Lebensjahr für die Spendensammlung der Siebenbürger Sachsen. Erwähnt sei die Höchstleistung von 180 Gläsern dieser Leckerei in einem Jahr.
Wir als jüngere Generation können uns an unserer Lisi ein Vorbild nehmen: Trotz der vielen Herausforderungen, die 103 Jahre Lebenszeit mit sich bringen, hat sie ihr Leben mit Ausdauer, Pragmatismus und einer positiven Einstellung gemeistert. Sie hat sich Fortschritt gegenüber nicht verwehrt, war stets interessiert am Leben der Jüngeren und ist dabei ihren Werten wie Zuverlässigkeit, Fleiß und Gemeinschaft treu geblieben.
Unsere Lisi und ihre Geschichten, ihr Humor und ihre Geselligkeit werden uns Zenderschern fehlen, aber insbesondere schauen wir mit Dankbarkeit auf ihr bis zum Ende selbstbestimmtes und in Würde gelebtes Leben zurück.
Dietlinde Lutsch
Schlagwörter: Porträt, Zendersch, Nachruf
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