28. April 2011

Literatur und nationale Identität

Wer Annemarie Webers Publikation „Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944-1971)“in die Hand nimmt, kann sie nicht nebenbei oder diagonal lesen. Sie erfordert vom Leser volle Konzentration und zeitliche Kontinuität. Bringt man Geduld und Ausdauer auf, so wird man mit hohem Erkenntnisgewinn belohnt. Die vorliegende Arbeit beansprucht im Wissenschaftssystem zu ressortieren. Wissenschaft codiert Wirklichkeit bekanntlich nach „wahr – unwahr“, während das politische Teilsystem dieselbe Wirklichkeit unter Machtkriterien wahrnimmt, also nach Machterhalt oder Machtgewinn fragt und entscheidet. Die kürzlich geführte, heftige Diskussion um Karl Theodor zu Guttenberg belegt das Gesagte. Eine Vermengung beider Teilsysteme bringt Ärger – für Wissenschaft und Politik.
Laut Selbstauskunft präsentiert das von Annemarie Weber vorgelegte Buch die Hauptergebnisse aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt. Unklar ist, ob der gesamte Text auch als Doktorarbeit der Universität Bielefeld eingereicht wurde. Auf den ersten Blick ist die Hypothese simpel, stellt sich aber auf den zweiten Blick als höchst komplex dar. Gefragt wird: Wie kommt es zu einem scheinbar gesicherten Bestand „rumäniendeutscher Literatur“ im Zusammenhang mit einer nationalen Identität? Die Autorin untersucht, „wann und aus welchen Gründen diese Konzepte erfunden wurden und sich als historische Zuschreibungen durchgesetzt hatten“ (vgl. Vorbemerkungen). Sie vermutet weiter, dass sowohl der Oberbegriff „rumäniendeutsche Literatur“ als auch das Konzept „Rumäniendeutsche“ Endprodukte eines öffentlichen Diskurses sind. Um dies zu untermauern, schaut sie genauer in solchen Medien nach, in denen diese Diskurse stattgefunden haben. Doch versuchen wir, ihrem Gedankengang – möglichst ohne große Abschweifungen – zu folgen.

Kurzschlussformel

In einem einleitenden Kapitel untersucht die Autorin wesentliche literaturhistorische Publikationen zur „rumäniendeutschen Literatur“, die in den letzten rund zwanzig Jahren in Rumänien und Deutschland erschienen sind. Sie analysiert informativ, kritisch und kompetent, auf welche älteren Beschreibungsmuster diese Publikationen zurückgreifen. Die „rumäniendeutsche Literatur“ wurde im Ceaușescu-Rumänien in „Literatur der deutschen mitwohnenden Nationalität“ (so u. a. Peter Motzan schon 1980) umgetauft. Dies ist historisch gesehen eine Kurzschlussformel; sie wurde später nur geringfügig variiert (vgl. S. 11). Das Problematische an dieser Formel ist u.a. ihre scheinbare Zeitlosigkeit; mit Luther gesprochen: etwas „Mäusdreck unter Pfeffer“ mischen. Konkret: Hier wurde alles politisch instrumentalisiert, was irgend möglich war. Oder anders gewendet: In der Rückschau werden literarische Entwicklungen zusammengeschaut, die unabhängig voneinander bzw. gegenläufig zueinander und zeitlich versetzt verlaufen sind, divergente Identitätsmuster werden harmonisiert und geografische Zentren ignoriert. Unbeschadet der hier angedeuteten Verkürzungen hat die „rumäniendeutsche Literatur“ als Literatur eine große integrative Kraft entwickelt. Auch als Selbst- und Fremdbeschreibungsmuster hat sie sich nicht nur in ihrem Entstehungsraum, sondern auch in westlichen Gefilden nachhaltig durchgesetzt.

Als Träger besagter Literatur treten in den 1970er Jahren die „Rumäniendeutschen“ in Erscheinung – wir fragen: erst zu diesem Zeitpunkt? Dieser Begriff vereint und ebnet regionale Identitäten wie Sachsen und Schwaben nicht nur ein, sondern signalisiert bereits eine eigene selbstbewusste Identität. Dies im Unterschied etwa zur Zwischenkriegszeit, in der die Begriffe „Rumäniendeutschtum“/„Rumäniendeutsche“ selten und wenn, dann nur als Fremdzuschreibung gebraucht werden.

Publikationen systematisch durchforstet

Die Arbeit setzt sich, wie oben bereits angedeutet, zum Ziel, die Begriffsgeschichte der „rumäniendeutschen Literatur“ im Zusammenhang mit der wechselnden Identität ihrer Träger zu analysieren; sie spürt dem Begriffswandel vom „Volk der Sachsen“ bzw. Schwaben bis zu den „Rumäniendeutschen“ mit allen chronologischen Zwischenstufen nach. Theoretisch geht die Autorin von der Annahme aus, dass es sich bei all diesen Begriffen nicht um zufällige, austauschbare Zuschreibungen, sondern um Produkte von Diskursen handelt, um das Ergebnis einer zu einem gewissen Zeitpunkt in der Gesellschaft akzeptierten und sie wiederum prägenden öffentlichen Artikulation. Das Material, auf das sich die Untersuchung von A. Weber bezieht, ist also nicht eine wie auch immer konstruierte Wirklichkeit. Es sind vielmehr die Medien des untersuchten Zeitraums, hauptsächlich die Bukarester Tageszeitung Neuer Weg, aber auch Zeitungen, die vor der kommunistischen Gleichschaltung der Printmedien im öffentlichen Raum Rumäniens zugelassen waren, so die Temesvarer Zeitung und die banatschwäbische sozialdemokratische Freiheit sowie die Hermannstädter Kirchlichen Blätter. Die genannten Publikationen werden dann in Auswahl systematisch durchforstet.

Die Auswahl der von A. Weber untersuchten Texte unterliegt keiner Einschränkung auf bestimmte Textsorten oder Zeitungsrubriken. Sie berücksichtigt grundsätzlich „alle Texte mit einem Wir-Diskurs um die Merkmale ‚deutsch‘ und ‚Bewohner Rumäniens‘“, den Leitartikel wie den Leserbrief, die Buchrezension wie das Gedicht, das in der Zeitung veröffentlichte Grundgesetz wie die vermischten Nachrichten; auch Bilder und bislang unveröffentlichte Dokumente. So wird etwa das Protokoll des Treffens von Ceaușescu mit den deutschen Intellektuellen 1968 zur Stützung der Analyse herangezogen. Auf diese Weise wertet die Autorin eine Fülle von Material aus, die Arbeit wird selbst zur Materialquelle, die über ein Orts- und Namensregister gut erschließbar ist. Wie sich für den Leser herausstellt, kann die Diskursanalyse, in Anlehnung an Michel Foucault, auch als Geschichte der jeweiligen Zeitungen und als Zeitgeschichte der jeweiligen Zeitabschnitte gelesen werden.

In Kapitel 2 stehen zuerst die Kirchlichen Blätter, danach die sozialdemokratische Freiheit und schließlich die Temesvarer Zeitung auf dem Prüfstand. Dabei präpariert die Autorin nicht weniger als fünfzehn „nationale Nachkriegsdiskurse“ heraus, in denen höchst unterschiedliche Themen fokussiert werden. Sie reichen von „Heimat, Kirche, Krieg“ über „nationale Mythologie“ bis hin zu „,Judenschaft‘ und Klassenkampf“. Zeitlich sind die Referenzstücke zwischen 1944 und 1948 entstanden. Wir meinen: Jeder Text der analysierten „Diskurse“ kann als kleiner Essay für sich stehen.

An dieser Stelle greifen wir exemplarisch die Kirchlichen Blätter heraus. Die Autorin macht die positiv bewerteten Themen des letzten Kriegsjahres – Heimat, Kirche, Krieg – sowie die dazugehörigen, von der Kirchenzeitung propagierten Feindbilder der Wir-Gruppe aus – Bolschewismus, Judentum. Sie geht dann auf den „Wendediskurs“ von Bischof Müller ein, der bald einem „innerkirchlichen Leidensdiskurs“ und einem „Rechtfertigungsdiskurs“ Platz macht. Die Kirchenzeitung versucht Klassenkampf, Kommunismus und Christentum unter einen Hut zu bringen. 1946 gibt es angestrengte Bemühungen, das Selbstbild der Vorkriegszeit als siebenbürgisch-sächsische Volkskirche zu restaurieren, die Siebenbürger Sachsen wieder als „Volk“ zu etablieren. Annemarie Weber kreiert dafür den Begriff „sächsischer Reintegrationsdiskurs“.

Exkurs zum „Sozialistischen Realismus“

Kapitel 3 besteht aus einem komprimierten Exkurs zum „Sozialistischen Realismus“ als Theoriekonzept und Beschreibungsmodell. Die Autorin will darin einen plausiblen Schlüssel zur Decodierung der „limbă de lemn“, der „hölzernen“ Zeitungssprache in der Stalin- und Ceaușescu-Ära liefern. „Die Sprache ist [...] nur ein Symptom. Es gibt eine eigene Weltvorstellung, die dieser Sprache zugrunde liegt, ja, sie hat eine eigene Ästhetik: den sozialistischen Realismus. Ohne die Kenntnis dieses Welt- und Kunstmodells lässt sich die Zeitungssprache nicht wissenschaftlich erschließen.“ (S. 75) Wenn man den theoretischen Ansatz der Autorin beim Lesen der folgenden Kapitel nicht missverstehen will, ist die Lektüre dieses Exkurses unerlässlich. Schlicht gesagt: Es geht in dieser gesamten Publikation stets um den Wortlaut der Zeitungssprache, um ihre „Oberfläche“ und nicht um verborgene Einstellungen, Meinungen und Wertungen der Akteure hinter dem Text. Im Abschnitt über die Beschreibung der Deportation in die Sowjetunion als „Aufbauarbeit“ thematisiert A. Weber dieses mögliche Missverständnis ausdrücklich (vgl. S. 118).

Die Analyse der Zeitung Neuer Weg schließt sich hier an. Sie bildet das Herzstück der gesamten Arbeit und ist in sechs streng chronologisch geordnete Kapitel gegliedert. In Kapitel 4 findet man zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Bukarester Tageszeitung sowie zwei Unterabschnitte, in denen sich die Autorin grundsätzlich mit Rolle und Funktion von Presse und Literatur in der Darstellung der Zeitung auseinandersetzt.

Kapitel 5 trägt die Überschrift: „Nation und Klassenkampf (1949-1953)“. In seinen 16 Unterabschnitten werden die komplizierten und verwirrenden, weil widersprüchlichen Nationskonstruktionen der rumänischen „Volksdemokratie“ eruiert. So entdeckt der Leser etwa die „werktätigen Deutschen“ als „fortschrittliche“ Nationalität, die mit den reaktionären ehemaligen „Hitleristen“ und „Ausbeutern“ keine „deutsche Einheit“ mehr bilden, sondern „verbrüdert“ mit den anderen Nationalitäten arbeiten und leben. Auch einige deutsche Feind- bzw. Heldenbilder jener Zeit werden in ihrer diskursorischen Ausformung exemplarisch vorgestellt. Dazu gehören Hans Otto Roth als Repräsentant der Reaktion versus „Sieben (antifaschistische Helden) von Hatzfeld“. Die sozialistische Kultur jener Zeit – so wird konstatiert – ließ nur wenige nationale Merkmale zu. National durfte nur die Form sein, der Inhalt hatte „sozialistisch“ zu sein. Regionale Unterschiede, z.B. zwischen Sachsen und Schwa­ben, wurden eingeebnet. Und weiter: „Der nationale Diskurs der Stalinzeit war indes ambivalent. Die Nationalitäten wurden nicht vollständig in der Klassengesellschaft aufgelöst, im Gegenteil, sie wurden, z.T. mit Gruppenrechten, in der Verfassung von 1952 als Minderheiten anerkannt. Die ‚deutsche Einheit‘ war verpönt, aber ‚die Werktätigen deutscher Nationalität‘ durften eine Einheit bilden, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit dem ‚deutschen Volk‘. Die doppelte Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit und zum deutschen Volk – als Sammelbegriff für die deutschen Staatsnation(en) und deutschen Minderheiten – blieb den Deutschen Rumäniens in den 1950er Jahren unbenommen.“ (S. 176)

Im 6. Kapitel werden in fünf Unterabschnitten außerordentlich brisante Topoi angepackt. In der bearbeiteten Zeit 1954-1957 konnte sich neben dem offiziellen gelegentlich auch der bürgerliche Diskurs wieder artikulieren. Autoren wie Erwin Wittstock und Alfred Meschendörfer dürfen in der Zeitung publizieren, es wird über Sprache, Literatur und Kunst, nicht zuletzt über Fragen der Identität geschrieben. Die ideelle Restitution von ehemaligen kulturellen Gemeinschaftsgütern ist Thema zahlreicher Artikel. Als Beispiele seien hier die Auseinandersetzung um die Rosenauer Burg (vgl. S. 201) sowie die Kritik an der Darstellung der Siebenbürger Sachsen im Kronstädter Regionalmuseum (vgl. S. 200) genannt. Interessant und aufschlussreich sind auch die Ausführungen zu Neugründungen wie der deutschen Abteilung am Hermannstädter Staatstheater (vgl. S. 215-216) oder des deutschen „Volkskunstensembles“ in Kronstadt (vgl. S. 216-218). Sie werden im Kontext von „Restitution“ publizistisch plausibel aufgearbeitet. Ebenso thematisiert die Zeitung zentrale Anliegen wie Häuserrückgabe oder Repatriierung der Kriegsteilnehmer. Im Zusammenhang damit kommt die propagandistisch geführte Auseinandersetzung um den Verbleib in der Heimat oder die Aussiedlung (vgl. S. 210-211) zur Sprache.

Das Kapitel 7 ist nicht von ungefähr mit einer paradoxen Überschrift versehen: „Verbrüderung mit aller Gewalt“. Ende der 1950er Jahre wird nämlich die doppelte Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit und zum deutschen Volk in Frage gestellt und damit der Vorwurf des Nationalismus verbunden. Die deutschen „Werktätigen“ werden nicht nur physisch, sondern nun auch kulturell in die Grenzen der rumänischen Volksrepublik verwiesen. Aus deutscher Kultur wird „deutschsprachige“ Kultur. Wer den neuen Kurs, den die Autorin in der Sprachregelung der Zeitung, in ihren Themen sowie den zugelassenen Autoren ausmacht, nicht rechtzeitig erkannte, landete im Gefängnis.

In den quantitativ recht unterschiedlichen Kapiteln 8 und 9 untersucht A. Weber zunächst die Zeitungsjahrgänge 1962-1965. Sie konstatiert erstes „Tauwetter“ unter Gheorghiu-Dej bzw. in den Jahren 1965-1971 eine relativ liberale Phase unter Ceaușescu. Ihre Analyse zahlreicher Texte zeigt u.a. den voluntaristischen Charakter der Minderheiten-Politik von Ceaușescu: Eine zwischen 1968 und 1971 großzügig eingeleitete kulturelle Förderung der deutschen „Nationalität“ wird ab Mitte 1971 wieder drastisch reduziert. Die anfängliche Liberalität erscheint ebenso willkürlich wie die spätere Diktatur.

Das 10. Kapitel verlässt die Zeitung Neuer Weg und kommt auf die rumäniendeutsche Literatur – „das Diskursmodell einer jungen Elite“ – zurück. Plausibel wird gezeigt, wie durch die Umbenennung des Landes in „Sozialistische Republik Rumänien“ und den von Ceaușescu neu belebten Mythos der Nation der Begriff „rumäniendeutsch“ als Beschreibungsmerkmal sowohl für die deutsche Literatur als auch deren Träger, die „deutsche mitwohnende Nationalität“, bereits 1966 Verwendung fand. Aber erst eine deutungsmächtige Elite, die den Mediendiskurs ab Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre bestimmen wird, entwickelt daraus – und das geschieht zum ersten Mal im Nachkriegsrumänien – einen relativ autochthonen, also nicht vom politischen Diskurs vorgegebenen Identitätsbegriff. Dieser verhält sich zum politischen Diskurs sowohl kritisch als auch affirmativ. Diese Feststellungen ergeben sich vor allem aus der Analyse von G. Csejkas programmatischem Text „Eigenständigkeit als Realität und Chance“ (vgl. S. 295-297 und 307 f.).

Die Übertragung der Identitätsmarke von der Literatur auf die ihr zugeordnete Bevölkerungsgruppe leistet laut A. Weber der politische und historische Diskurs erst später. Vornehmlich Tex­te des ZK-Mitglieds und Publizisten Eduard Eisenburger sind dafür ergiebig. Doch dies weist in eine Zeit außerhalb des gesteckten chronologischen Rahmens der vorliegenden Arbeit. Anfang der 1970er Jahre wurde eine Übertragung verhindert, so die Autorin, weil die politischen Akteure, die diesen Namen hätten annehmen können, im offiziellen Diskurs als „Werktätige deutscher Nationalität“ bezeichnet werden, in Anlehnung an den Namen der Minderheitenorganisation „Rat der Werktätigen deutscher Nationalität“.

Werk mit offener Flanke

Die Schlussfolgerungen in Kapitel 11 sind etwas sehr kurz geraten, sind aber für eine Rekapitulation und Reflexion anregend. Ebenso hilfreich sind die einzelnen Zusammenfassungen am jeweiligen Ende der Kapitel 5 bis 7 und 9 bis 11. – Warum gibt es dergleichen nicht auch bei den restlichen Kapiteln? Damit sind wir am Schluss unseres Versuchs, am Text der Verfasserin entlang zu gehen, auf dem Weg zu einer eigenen kurzen Einschätzung der Publikation.

Vorweg zwei Bemerkungen: Im Wissenschaftssystem ist nie etwas perfekt und abgeschlossen. Wissenschaft lebt von konstruktiver Kritik, sie regeneriert sich darüber und bringt sich auf diese Weise selbst voran. Darüber hinaus hat das Werk von Annemarie Weber noch eine zusätzliche offene Flanke: Sie blickt unter angegebenen Bedingungen auf einen Zeitabschnitt – 1946-1971 –, den viele noch lebende Zeitgenossen miterlebt, mit erlitten und mit gestaltet haben. Da schwingt sich manch einer leicht als Spezialist für Zeitgeschichte auf, der „natürlich“ alles besser weiß. Solche Zeitgenossen erinnern wir an Eugen Roth, der im Blick auf unser Gedächtnis sehr skeptisch sagt: „Ein Mensch, vertrauend auf sein klares / Gedächtnis, sagt getrost: ‚so war es‘. / Er ist ja selbst dabei gewesen. / Doch plötzlich muss er’s anders lesen. / Es wandeln sich, ihm untern Händen, / Wahrheiten langsam zu Legenden. / Des eignen Glaubens nicht mehr froh, / fragt er sich zweifelnd: ‚War es so?‘ / Bis schließlich überzeugt er spricht: / ‚Ich war dabei! – So war es nicht!‘“

Hebt man auf den Schreibstil der Autorin ab, so ist er weder „hölzern“ oder gar „ledern“. Im Gegenteil – immer wieder spürt man die journalistische Lust, Sachverhalte eingängig zu machen und Anschlüsse zu schaffen. Die Lektüre wird dabei zum Vergnügen. Freilich merkt man auch sehr schnell, dass hier eher kulturkritisch als gesellschaftstheoretisch informiert dargestellt und gestritten wird. Wahrscheinlich aber erwartet ein Soziologe oder Politologe an diesem Punkt zu viel von einer Literaturwissenschaftlerin.

Nimm und lies!

Lehnt man sich nach der Lektüre eines Kapitels zurück und fragt sich und den Text nach dem Zusammenhang der theoretisch-methodologischen Vorgaben mit der Applikation im Prozess der Analyse, so ist man zuweilen etwas ratlos. Theoretisch bezieht sich die Autorin nicht – wie man es auch hätte erwarten können – auf Jürgen Habermas und seine Theorie des kommunikativen Handelns, sondern ausdrücklich auf die Diskurstheorie und -analyse von Michel Foucault – französischer Philosoph, Historiker und Soziologe. Ihre Ausführungen zu Diskursanalyse, Diskursprodukt, Kontextualisierung, Konstruktion, nationale Identität, Mythos etc. in der Einleitung sind richtig, aber viel zu kurz und apodiktisch, als dass der Leser sie ohne Vorkenntnisse verstehen und deren Brauchbarkeit für die Bearbeitung der Texte sofort nachvollziehen könnte. Uns scheint, die Autorin wolle viele einzelne, sehr komplexe Probleme zusammenbringen, z.B. Literaturgeschichtsschreibung, Wandel nationaler Identität, Selbst- und Fremdzuschreibung im Wandel der Zeiten etc. Das alles auf einmal mit der Diskursanalyse von Foucault anhand unterschiedlichster Texte aus einem Guss zu beobachten, ist eine Berserkerarbeit – sie kann nicht in allen Teilen gelingen. Ohne das Folgende näher zu begründen, darf man als Soziologe die These vertreten: Für die Analyse derselben Sachverhalte sowie desselben Zeitabschnitts wäre die Interaktionstheorie oder das wissenssoziologische Paradigma wahrscheinlich ergiebiger gewesen als die Diskurstheorie und Diskursanalyse von Foucault. Erstere bietet in plausibler Weise Einsicht in die Konstruktion von Wirklichkeit, deren Transformation und Funktionen.

Mut, Ausdauer und Zielstrebigkeit der Autorin waren ebenso erforderlich wie die Investition einiger Lebensjahre, um den „Neuen Weg“ auseinander zu nehmen – wir zollen alle Achtung. Die Auswahl der bearbeiteten Schriftstücke kann man auch im Horizont anderer Möglichkeiten nachvollziehen, aber mussten es so viele und strukturell so unterschiedliche Texte sein? Chronologische Abfolgen zu periodisieren, um neue Erkenntnisse besser zu profilieren, lassen sich letztlich nicht begründen. Darum ist es nicht verwunderlich, dass andere Autoren, die etwa als Politologen über denselben Zeitraum gearbeitet haben, etwas andere Periodisierungsakzente gesetzt haben. Bleibt nur noch zu sagen: Tolle lege – nimm und lies!

Georg Weber, Institut für Soziologie Universität Münster


Annemarie Weber: „Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944-1971)“, Böhlau Verlag, Köln, 2010, 342 Seiten, 44,90 Euro, ISBN 978-3-412-20538-6 (Studia Transylvanica, Band 40).
Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944–1971)
Annemarie Weber
Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944–1971)

Böhlau Verlag, Köln

342 Seiten
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Schlagwörter: Rezension, Literatur, Rumäniendeutsche, Soziologie

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