13. September 2012

„Halber Stein“: Die Suche nach den siebenbürgischen Wurzeln

Iris Wolff, 1977 in Hermannstadt geboren, studierte Germanistik, Religionswissenschaft und Malerei in Marburg/Lahn und ist neben ihrem Schreiben als Museumspädagogin am Deutschen Literaturarchiv Marbach tätig. Im Juli 2012 ist ihr erster Roman „Halber Stein“ im Otto Müller Verlag in Salzburg erschienen. Die österreichische Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“ sprach im Märzheft des laufenden Jahres bei der Vorstellung des Romandebüts von „einer außergewöhnlichen Erzählerin“. Schon bei ihrer Lesung am 20. Mai 2011 im Rahmen der „Stuttgarter Vortragsreihe“ der Landesgruppe Baden-Württemberg wurde Siegfried Habicher auf die besondere suggestive Kraft ihrer Bilder und Bildbeschreibungen aufmerksam. Nun nahm Habicher ihren ersten Roman und ihre für den 20. September 2012 in Hermannstadt geplante Lesung zum Anlass, ein Interview mit der 35-jährigen Autorin zu führen.
Thomas Mann und Robert Musil, um nur zwei Schriftsteller zu nennen, haben ihre Werke oft mehrmals umgeschrieben. Wie war das bei dir und deinem ersten Roman?
Ich musste in der letzten Schreib-Phase auch oft an Thomas Mann denken, an seinen Roman „Der Zauberberg“. Aus einem Drei-Wochen-Besuch in einem Sanatorium wird für die Figur Hans Castorp letztlich ein sieben Jahre währender Aufenthalt. Ich wollte mein Buch in einem Jahr fertigstellen. Aber dann habe ich gemerkt, dass man die Geschichte weiter auffächern kann – es war, als habe die Romanwelt ihre eigene Zeit und Dynamik. Aus dem geplanten Jahr wurden dann schließlich sechs Jahre. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hat das Buch diese Zeit gebraucht. Es ist über die Jahre gereift, hat mehr und mehr Geschichten, Gedanken, Farben und Gerüche aufgenommen.

Wie bist du auf die Idee zu deinem Roman gekommen?
Den Entschluss dazu fasste ich, als wir 2004 das letzte Mal in Siebenbürgen waren. Wir sind ausgewandert, als ich acht Jahre alt war, und die Erinnerungen an meine Kindheit in Siebenbürgen haben mich nie losgelassen. Es gibt prägende Orte, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, und man spürt dies, wenn man ihnen wiederbegegnet. So habe ich angefangen, zu fotografieren, meine Eltern und Großeltern zu interviewen und mich mit der Geschichte des Landes zu beschäftigen.
Im Roman fährt die Protagonistin Sine mit ihrem Vater Johann in ihre alte Heimat, da ihre Großmutter Agneta gestorben ist. Sie geht ihren Erinnerungen nach, der Lebensgeschichte ihrer Großmutter und den Gründen für die Auswanderung der Siebenbürger Sachsen. Die Motivation zum Schreiben war, etwas von dem einzufangen, was über 850 Jahre währte und nun innerhalb weniger Generationen droht, verlorenzugehen. Jeder geht mit diesem Verlust anders um. Manche haben mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen, schauen nicht zurück. Andere werden über den Heimatverlust nie hinwegkommen. Und wiederum andere, wie viele aus meiner Generation, die Siebenbürgen in ihren Kinderjahren erlebt haben, beschäftigen sich bewusst mit ihren Wurzeln, weil sie merken, dass Land und Traditionen zu ihrer Identität gehören.

Iris Wolff. Foto: Christoph Binder ...
Iris Wolff. Foto: Christoph Binder
Wie bist du beim Schreiben vorgegangen?
Vor allem die Dokumente meines Vaters, der im Banat Pfarrer war und ein Hobby-Archivar ist, haben mir sehr geholfen. Ich hatte Zugriff auf historisches Kartenmaterial, Postkarten, Heimat- und Jahrbücher. Es gibt nichts, was die Phantasie mehr anregt, als die Betrachtung alter Fotografien; die Gesichter und Gesten der Menschen sprechen Bände. Obwohl ich auch meine Großeltern interviewt habe, ist der Roman keine Schilderung der eigenen Familiengeschichte. Er dokumentiert viele Stimmen und Erinnerungen. Ich wollte Antworten finden auf die Fragen: Was ist Heimat? Wie geht man mit Verlust um? Und: Welche Rolle kann die Kunst dabei spielen?

Was bedeutet der Titel „Halber Stein“?
Ich habe die Romanhandlung in Michelsberg angesiedelt, weil mir die Nähe zu Hermannstadt wichtig und das Dorf durch seine Lage einmalig schön ist: Die Basilika ist eines der wenigen aus der Ansiedlungszeit erhaltenen Bauwerke, man sieht von dem Michaelsberg weit ins Land hinein, dann der Silberbach und der Halbe Stein, ein Naturmonument aus der Kreidezeit. Letzterer wird für die Protagonistin zu einer Art Gedächtnisort, den sie immer wieder mit ihren Fragen aufsucht. Er ist aber auch ein Symbol für die Suche nach Ganzheit. Wie kann etwas halb sein? Was ist die andere Hälfte? Zuletzt, am Ende ihrer Reise fragt Sine: Ist es die Erinnerung?

Dein Roman zeichnet sich durch die suggestive Kraft der Bilder und Bildbeschreibungen aus. Ist deine Fähigkeit, mit Worten zu malen, auf eine dichterisch-malerische Doppelbegabung zurückführen?
Ich habe in der Tat neben Germanistik und Religionswissenschaft auch Grafik und Malerei studiert. Irgendwann hat sich das Interesse von der Malerei auf das literarische Schreiben verlagert. Ich habe erfahren, dass man auch mit Worten Bilder malen kann. Ja, dass die Literatur es erlaubt, immer wieder den Pinsel anzusetzen, einzelne Worte zu verändern, ganze Sätze oder Passagen umzuarbeiten oder zu verschieben. Der Text ist ein unendliches Gewebe, das man immer wieder zur Hand nehmen kann, um an einzelnen Gedanken und Bildern, an der Melodie der Sprache zu arbeiten.

Auf deiner Homepage www.iris-wolff.de finden sich erste Termine von Lesereisen.
Ja, die ersten Lesungen stehen schon fest. Ganz besonders freut mich, dass mein Verlag eine Buchpräsentation in Hermannstadt initiiert hat. Am 20. September um 18.00 Uhr findet im Spiegelsaal des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt eine öffentliche Lesung statt. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, nach acht Jahren meine Heimatstadt wiederzusehen und den „Halben Stein“ vorstellen zu dürfen. Ich hoffe, dass meine Lesereisen noch zu vielen Begegnungen und zu einem Austausch über dieses Thema führen werden. Wer Interesse an einer Lesung hat, kann sich gerne an den Verlag oder an mich persönlich wenden.

Iris Wolff: „Halber Stein“, Roman, Otto Müller Verlag, Salzburg, 2012, 294 Seiten, 21,00 Euro, ISBN 978-3-7013-1197-2, erhältlich im Buchhandel.
Halber Stein
Iris Wolff
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Müller, Otto
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Schlagwörter: Interview, Autorin, Rezension, Debüt

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