3. Juni 2013

"Die Glocken von Kronstadt“"

Der „Siebenbürgen-Roman“ (Untertitel) ist erstmals 1991 erschienen; anlässlich seiner Wiederauflage in diesem Jahr soll er hier erneut vorgestellt werden. Die Chronik zweier Familien aus Kronstadt und Broos umfasst den Zeitraum von 1913 bis 1958, vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Schwarze-Kirche-Prozess im kommunistischen Rumänien. In den Geschehnissen dieses Familienromans spiegelt sich das letzte Aufbäumen der Siebenbürger Sachsen, deren 800-jährige Geschichte auf dem Gebiete des heutigen Rumäniens in seine Endphase eintritt.
Die Handlung setzt – vor genau hundert Jahren – im Frühjahr 1913 ein, als der angehende Maler Johannes Greysing in Weidenbach um die Hand der Pfarrerstochter Ida Fabritius anhält. Parallel dazu läuft die Handlung um die schöne Malvine aus Broos, Tochter des reichen Sartori, die gegen den Willen ihres Vaters schließlich den feschen, aber verarmten k.u.k.- Leutnant Ossi Held heiratet. Während sowohl der etwas überhebliche Künstler Greysing als auch der militärisch auftretende Held (nomen est omen!) recht schwierige Ehemänner sind, haben deren Ehefrauen unterschiedliche Naturen: Ida ordnet sich ihrem Gatten unter, um sein Künstlerdasein nicht zu gefährden; Malvine hingegen widersetzt sich zwar häufig ihrem militärisch auftretenden „Helden“, lässt sich aber auch zunehmend gehen und flüchtet sich in Migräneanfälle.

Sowohl die Hauptfiguren und deren Kinder als auch die zahlreichen Nebenfiguren, häufig originell gezeichnete Charaktere und Typen, werden differenziert dargestellt, psychologisch glaubhaft motiviert, mitunter in sich widersprüchlich. Vor allem die Männer verbergen oft unter einer harten Schale einen weichen Kern, der selten sichtbar wird, weil in der „geordneten“ siebenbürgisch-sächsischen Welt ein Mann keine Schwächen zeigen darf. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und das Aufkommen des Nationalsozialismus beschleunigen schließlich den wirtschaftlichen und politischen Niedergang der ­Siebenbürger. In ihrem Selbstverständnis zunehmend verunsichert, erliegen sie teilweise den Naziparolen der Reichsdeutschen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Machtübernahme durch die Kommunisten besiegeln ihren Untergang als geschlossene Volksgruppe.
Das Verdienst der Autorin besteht darin, dass sie sowohl inhaltlich als auch sprachlich Vertreter der Ungarn, Rumänen und Zigeuner auftreten lässt. Das einzigartige Nebeneinander (nicht Miteinander) verschiedener Nationalitäten wird im besten Sinne „multikulturell“ wiedergegeben, deren Stärken und Schwächen nicht verschwiegen. Die realistische Schilderung der ­siebenbürgischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit schöpft sicher auch aus autobiographischen Quellen. In die Figur des Johannes Greysing sind wohl biographische Daten und Züge des Kronstädter Malers Hans Eder (1883-1955) eingeflossen, der seinerzeit in Paris, Brügge, München und Berlin studierte und wirkte. Die Münchner Kunstszene beispielsweise und ihre Repräsentanten werden eindringlich geschildert.

Das Kompositionsprinzip des Romans beruht auf 21 Kapitelüberschriften mit Orts- und Jahresangaben, die wie unregelmäßige Streiflichter die siebenbürgische Geschichte des vorigen Jahrhunderts beleuchten. Der Hauptschauplatz der Ereignisse ist Kronstadt, Nebenschauplätze sind u.a. Broos, Hermannstadt und Nordsiebenbürgen, aber auch Orte in Österreich, Bayern und Baden-Württemberg.

Die Autorin Ruth Eder (mit siebenbürgischen Wurzeln 1947 in Stuttgart geboren) erzählt spannend, lebensnah und detailgetreu von unterschiedlichen Milieus der Siebenbürger Sachsen. Die Charaktere wirken lebendig und werden mit einer gehörigen Portion Ironie dargestellt. Ihre psychologische Motivierung wirkt vor allem durch die häufig verwendete Erzähltechnik der personalen Perspektive glaubwürdig, d.h. wir erfahren unmittelbar, was eine Person denkt und fühlt. Die realistische Erzählweise wird betont durch umgangssprachliche Dialoge auf Ungarisch, Sächsisch und Rumänisch (die allerdings sprachlich und orthographisch nicht immer korrekt sind).

Der Roman entwirft ein Geschichtspanorama in Ausschnitten, in denen viele LeserInnen die Geschichte(n) ihrer Familien in vergleichbarer Art und Weise wieder erkennen werden. Leider klingt der erste Satz auf dem Klappentext des Buches etwas zu vollmundig:

„Mit ‚Die Glocken von Kronstadt‘ gibt Ruth Eder dem fernen Siebenbürgen, dem südöstlichen Teil des alten Europa, seine Geschichte wieder.“ Das ist – meine ich – etwas zu hoch gegriffen. Und der Sinn des Titels erschließt sich einem erst auf den letzten Seiten, wo es im „Epilog“ heißt: „ Auf einmal war es Ida, als hörte sie die große Glocke der Schwarzen Kirche dröhnen, wie damals, als sein (Johannes’) Sarg in die Erde gesenkt wurde.“ (410). Es wird deutlich, dass mit Idas Ausreise nach Deutschland, der etliche Jahre später der Massenexodus der meisten Siebenbürger folgen wird, die Geschichte eines Volkes mit Totengeläut symbolisch zu Grabe getragen wird. Weshalb ist diese Bildsymbolik jedoch nicht schon vorher im Roman angeklungen? – Und hätte der Verlag statt des reichlich kitschigen Covers nicht einen künstlerisch anspruchsvolleren Schutzumschlag (z.B. mit der Reproduktion eines Bildes von Hans Eder) entwerfen können?

Dennoch: Ein lesenswerter Roman, nach dessen Lektüre man das Gefühl nicht loswird: „Aber lag nicht über alledem vor allem eine tiefe Schwermut?“ (384).

Konrad Wellmann



Ruth Eder: „Die Glocken von Kronstadt. Ein Siebenbürgen-Roman“, Weltbild Verlag, Augsburg, 2013, 416 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 978-3-86365483-2

Schlagwörter: Rezension, Buch, Kronstadt

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