21. Mai 2014

Etymologischer Spaziergang (3)

Der dritte Teil der kleinen Reihe „Etymologischer Spaziergang“ beschäftigt sich mit dem Thema „Et äs mir ousdächtich worden“.
In den indoeuropäischen Sprachen wird das Vergessen entweder als Verlust des geistig ­Begriffenen aufgefasst und sprachlich aus der Wurzel *ghed- (greifen) zusammen mit der Verneinung „ver“ gebildet (englisch to get = bekommen, to forget = vergessen) oder es wird auf Denken, Gedächtnis (griechisch mnema, lateinisch memoria aus der indoeuropäischen Wurzel *mn-) und deren Negation bezogen.

Im Siebenbürgisch-Sächsischen hat das Wort vergiëssen das Wort ousdächtich so weit verdrängt, dass die zweite Bezeichnung vielen von denen, die heute noch sächsisch sprechen, unbekannt ist. Dieses sächsische ousdächtich hat eine überraschende Analogie im Italienischen (ho dimenticato = ich habe vergessen) und im Lateinischen (immemoriam esse), denn alle drei Sprachen beziehen das Vergessen auf den Verlust des Denkens, der Erinnerung: in ousdächtich steckt Denken und Gedächtnis, in dimenticato das Wort mens für Sinn und Verstand und in immemoriam esse das Wort memoria = Gedächtnis.

Wenn wir über ousdächtich nachdenken, so erkennen wir, dass das Gedächtnis „innen“ lokalisiert wird, von wo es beim Vergessen herausfällt und verloren geht („es ist mir entfallen“), während Erinnern das Hervorholen des Gedächtnisinhalts bezeichnet. Und wo ist, nach alter Vorstellung, der Sitz der Erinnerung? Im Herzen. Im lateinischen recordatio = Erinnerung steckt cor, das Herz. Etwas auswendig sagen heißt auf Englisch to tell by heart und im Französischen dire par cœur. Wenn wir uns „etwas zu Herzen nehmen“, etwas „beherzigen“, so wird das Herz als Sitz des Gedächtnisses angesehen. Und wenn sich jemand an einen Ratschlag erinnert, so ist er seiner „eingedenk“, und zu dieser Vorstellung passt im Negativen unser ousdächtich.

Schon lange sind wir aufgeklärt, wir können das Gedächtnis im Gehirn lokalisieren und seinen Verlust auf den Untergang von Hirnzellen und Bahnen zurückführen. Die existenzielle Tragik des Vergessens bleibt aber unverändert, sie steht uns vor Augen und steht vielen von uns bevor. Wir überleben uns selbst und sterben mit Morbus Alzheimer. Ja, wir werden selbst ousdächtich: Unseren Zeit- und Weggenossen sind wir schon bald, wie Andreas Gryphius sagt, „aus Sinn und Herzen“.

Roland Phleps

Schlagwörter: Sprache, Etymologie, Humor, Mundart

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