1. Februar 2015

„Oma“: Kurzgeschichte zum Thema Deportation von Gert Fabritius

Gert Fabritius hat die Kurzgeschichte „Oma“ im Jahr 2000 verfasst und 2014 umgeschrieben für das Buch „Heimat. Abbruch – Aufbruch – Ankunft“, herausgegeben von Ingeborg Szöllösi, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 2014, 160 Seiten, ISBN 978-3-95462-128-6, 14,95 Euro.
Aufrecht stand sie vor dem Fenster. Bleich und eingefallen war das mir so vertraute und schöne Gesicht. Das Haar war zu einem kleinen Knoten im Nacken gebunden und legte den Hals frei, den immer ein schwarzes Band mit einer wunderschönen Brosche verzierte.

Die Kerzen am Weihnachtsbaum waren zu kleinen Stummeln geschmolzen und die schwarzen Dochte blickten gekrümmt in den kühlen Raum.

Vor dem Fenster hing die rote Fahne mit der unverblichenen, neu hinzugefügten roten Stoffmitte, mit Sichel, Hammer und Stern neben der Trikolore. Steif vor Frost.

Das Ehrenkreuz, eine Troitza, ein Denkmal aus Holz, verziert mit einer typischen Kerbschnitzerei zum Andenken an die gefallenen Soldaten, die für den Sieg der Trikolore 1918 ihr Leben hatten lassen müssen, stand einsam im Schnee, im kleinen Gärtchen vor unserem Haus. Opa hatte den noch angelegt, als es die Troitza noch nicht gab.
Gert Fabritius, Abschied 1981, Federzeichnung auf ...
Gert Fabritius, Abschied 1981, Federzeichnung auf Papier, 39,5 x 28,5 cm, Tusche
Das Erscheinungsfest stand vor der Tür. Epiphanias.

Die Heiligen Drei Könige erschienen nicht, doch eine Kolonne von Männern und Frauen wurde am Ehrenmal vorbeigetrieben, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten, die mit Kolbenschlägen jeden Unwilligen in die Reihen zurückdrängten. Der Zug mit den Viehwaggons am Bahnhof wartete schon fauchend auf die Kolonne zum Abtransport in den Osten.

Oma stand wie versteinert vor dem Fenster, als die Kolonne vorbei musste. Einer, ihr Sohn, der aus der Reihe ausbrechen wollte, wurde mit Gewehrkolben zurück in Reih und Glied gedrängt. Ein letztes Zeichen.

Sie stand noch da, als die Dunkelheit des frühen Winterabends hereinbrach. Sternsinger kamen in diesem Jahr keine.

Die Straße vor dem Haus war plötzlich leer. Wir waren allein mit der Troitza.

Als sie sich endlich in den Stuhl mit der geschwungenen weißen Armlehne setzte, war sie für uns unerreichbar.

Wenige Tage später starb sie.

Die Beerdigung fand im kleinen Kreis statt.

Viele, zu viele ihrer Lieben waren auf einer langen Ostreise, die einige Jahre dauern sollte. Für manche ohne Wiederkehr.

Jahre später sah ich meine Oma, auf einem alten Foto, so schien es mir, umgeben von ihrer Familie, in einer Zeitung werbend für die Beständigkeit einer Firma. Einer Fürstin gleich saß sie da, umgeben von ihrer Familie, mit ihrem ersten Sohn auf dem Arm.

Ihr erster Sohn ließ sein Leben für den Kaiser 1917 am Isonzo.

Ihr jüngster Sohn kehrte nach Jahren von der 1945 erzwungenen „Ostreise vom Donbas“ zu seiner Familie zurück. Zwei Enkelinnen auch.

Der wunderbare Stuhl, auf dem sie ihre letzten Tage sitzend verbracht hatte, blieb im Haus, als wir es verlassen mussten.

Die Troitza, das Denkmal aus Holz, blieb auch nicht mehr lange stehen. Die neuen Helden wollten ein Denkmal aus Stein, das alles überdauern sollte. Eine Bronze-Tafel mit Sichel und Hammer schmückte nun den kleinen Park, den keiner mehr pflegte.

Heute stehen dort Hochhäuser, die den endgültigen Sieg über das Vergangene verkünden.

Gert Fabritius

Heimat: Abbruch, Aufbruch, Ank
Ingeborg Szöllösi
Heimat: Abbruch, Aufbruch, Ankunft

Mitteldeutscher Verlag
Taschenbuch
EUR 14,95
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Schlagwörter: Deportation, Kurzgeschichte, Literatur

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Neueste Kommentare

  • 02.02.2015, 14:34 Uhr von Johanna Ziegler: Eine sehr traurige Geschichte, mit großem Einfühlvermögen erzählt. Sie hat mich innerlich sehr ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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