29. Juni 2016

Alte und neue Gedichte von Frieder Schuller auf dem Heimattag in Dinkelsbühl

Ein Gedicht, das vom Atem der Geschichte durchweht ist, gibt es nicht alle Tage – Frieder Schullers ist mit „Rothbach zur Neige“ ein solches gelungen. Inspiriert hatte ihn der Einsturz des dortigen Kirchturms im Februar dieses Jahres (vgl. Siebenbürgische Zeitung Online vom 14. März 2016).
"Ein großartiges Gedicht, eines der schönsten, das über unsere siebenbürgisch-sächsische historische Tragödie jemals geschrieben wurde", urteilte die Literaturkennerin Anneli Ute Gabanyi. Man muss schon bis zu Adolf Meschendörfers „Siebenbürgischer Elegie“ von 1927 zurückgehen, um ein ähnlich tief erfühltes Siebenbürgengedicht zu finden. Vielleicht aber auch nur bis zu Anemone Latzinas ironisch gebrochener Fortschreibung von Meschendörfers Elegie von 1983. Letztlich auch ein Finis-Saxoniae-Text, nur eben ein brechtisch verfremdeter. Im Übrigen hatte sogar Schuller selbst bereits 1976 ein Endzeitgedicht geschrieben, wo „vom speckturm die vorletzte Stunde“ schlägt, doch fehlt ihm die Tiefe des Rothbacher Gedichtes („rohrbach zur neige“, Text abgedruckt in Hermannstädter Zeitung vom 11. März 2016).

In Dinkelsbühl las Frieder Schuller mehrere seiner in der Ceaușistischen Ära („in den jahren keiner begeisterung“) entstandenen Gedichte aus dem Bändchen „mein vaterland ging auf den roten strich“ (2006), aber auch ganz druckfrische wie das untenstehende. Es nimmt sarkastisch jene Teilzeitsachsen ins Visier, die die Sommermonate in ihren zurückgelassenen Häusern in der alten Heimat verbringen, „Sommersachsen“, wie sie der Volksmund nennt.
Frieder Schuller, aufgenommen im Mai 2016 in ...
Frieder Schuller, aufgenommen im Mai 2016 in Dinkelsbühl. Foto und Text: Konrad Klein

Frieder Schuller: "sommerbesucher in siebenbürgen"

vor dem haus
auf der bank in den jahren
zurück aus ingolstadt nach draas gefahren
woher sie einmal weggegangen
kommen sie jetzt als heimkehrer verkleidet
ein alter krug unterwegs zum brunnen
so sitzen sie vor dem dorfstrassen fernseher
wo eine kuh die tagesthemen moderiert

sie sind zu besuch in der
ehemals guten stube ihres lebens
und ernten auf dem feld die letzte aster
im stall steht das auto und wird
im oktober angetrieben in richtung westen
bis dahin versinken sie tief in den geerbten betten
wo stufen steil im gedächtnis fallen
jeder erinnert sich auf eigene gefahr

Schlagwörter: Heimattag 2016, Gedicht

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