12. April 2017

Chronologie der Konzerte Erich Bergels: "Er erschien in Bayreuth wie ein Zauberer"

Außerordentlich verdient machte sich der Klausenburger Musikologe Boldizsár-Tamás Csiky mit der Erarbeitung und Veröffentlichung eines Katalogs der von Erich Bergel (1930-1997) seit der Flucht 1972 aus dem kommunistischen Rumänien bis 1990 weltweit dirigierten Konzerte. Ciskys „Konzert-Chronologie“ ist eine wertvolle Ergänzung der bisher über den berühmten Orchester-Dirigenten und Bach-Forscher erschienenen Literatur (Hans Bergel: „Erich Bergel. Ein Musikerleben. Persönliche Notizen zur Biografie“, 2006, auch in rumänischer Fassung: „O viață de muzician: Erich Bergel“, 2013; Gheorghe Mușat: „Amintirile mele despre Erich Bergel“, 2008; „Lumini și umbre. Din nou despre Erich Bergel. Cu documente preluate din arhiva CNSAS“, 2010).
Erich Bergel, der „mit wachsendem internationalen Prestige alle Eliteorchester in Europa, Nord- und Südamerika, Israel, Japan und Südafrika dirigierte“ (Karl Teutsch), war nicht nur „ein Vulkan der Energie“ (Benno Scherer), was die Auflistung seiner Konzerte rund um den Globus nachhaltig veranschaulicht. Er war zugleich die personifizierte Gründlichkeit: Über jedes der 850 Konzerte, die er innerhalb von 18 Jahren dirigierte, führte er ein Telegramm-Tagebuch. Lakonisch vermerkte er die Qualität des Orchesters, des Solisten, des Konzertsaales. Dazu Persönlichkeiten, die er dabei kennenlernte, etwa den legendären Diamant-Minen-Besitzer Harry Oppenheimer und die Königin von Belgien Fabiola, Israels Ministerpräsidentin Golda Meir oder den schwedischen Ministerpräsidenten Olaf Palme.

Wer sich die Namensliste der Solisten ansieht, die unter seiner Leitung auftraten, findet unter ihnen Weltberühmtheiten vom Rang der Jessye Norman oder der Anne-Sophie Mutter, eines Maurice André, Alfred Brendel, Emil Gilels u.v.a. Die Namen der Eliteorchester reichen vom Royal Philharmonic Orchestra London über die Wiener Symphoniker und Berliner Philharmoniker, das Orchestre de Paris, das Symphonische Orchester in Tokio bis zum Chicago Symphonie Orchester, dem Rundfunk-Symphonie-Orchester Madrid, den Stockholm-, Brüssel-, Sao-Paolo- oder den Neuseeland-Symphonikern etc. Rund 40 Orchester dirigierte Bergel in nur 18 Jahren, in denen er 850 Konzerte leitete. Das sind pro Jahr über 40 Konzerte ... Rechnet einer die persönliche Vorbereitung, die Flüge, die Arbeit mit den Orchestern hinzu, ergibt sich eine Energieleistung von schwer fassbarem Ausmaß.

Hinzugerechnet werden muss Erich Bergels über Jahrzehnte erstreckte wissenschaftliche Arbeit an seiner „These von der thematischen Bipolarität als der geistigen Grundlage“ (K. Teutsch) des Alterswerks Johann Sebastian Bachs „Die Kunst der Fuge“. Seine Strukturanalyse – und seine Fertigstellung des unvollendet überkommenen Werkes – revolutionierten „die Einblicke in Bachs Spätschaffen“ (Friedrich Smend), sie veranlassten den Philosophen Rainer Bischof zum Urteil, dass „die beiden Sphären abendländischen Denkens“ von Erich Bergel „anhand des Notentextes nachgewiesen wurden, das ist neu, ist sensationell“. Bergel erläuterte seine Erkenntnis in zwei Büchern (1980, 1985).

Dem auf den Buchseiten 8-124 von Cziky zu übersichtlichen Tabellen verarbeiteten Material folgen auf den Seiten 126-180 Abbildungen von Konzertplakaten. Ein wertvoller, die vorangegangenen Datenaneinanderreihungen veranschaulichender Teil des Buches: Die Auflistungen erhalten mit einem Mal Leben, erst recht trifft das für die künstlerisch gestalteten Grafiken zu. Erich Bergels gelegentliche handschriftliche Anmerkungen erhöhen ihren Reiz.

Zu den seit 2006 erschienenen Monografien tritt mit Boldizsár-Tamás Csikys „Chronologie der Konzerte“ Erich Bergels ein Sachbuch von nicht hoch genug einzuschätzendem Wert. Dies nicht nur wegen der Ergänzung, die es bietet, sondern zumindest ebenso wegen der schon seit Langem fälligen biobliografischen Sicherung des Nachlasses; dem Historiker ist darüber hinaus ein Nachschlagewerk in die Hand gegeben. Dabei sei darauf hingewiesen, dass dies Buch „nur“ 18 Jahre der Dirigententätigkeit Bergels erfasst, die Gesamtzahl der von ihm dirigierten Konzerte beläuft sich auf rund 1500. Schon allein daran lässt sich die Riesenarbeit dieses Künstlerlebens ermessen, dem die Musik mehr galt als alles andere.

Csikys chronologische Auflistung der Dirigate Bergels 1972-1990 ist erst der Anfang einer wissenschaftlichen Erfassung des – minutiös geordnet – hinterlassenen Erbes. Eine stattliche ­Anzahl weiterer Konzertprogramme, dazu handschriftliche Anmerkungen, veranschaulichende Programme und eine im Einzelnen noch nicht aufgegliederte Fülle von Kritiken (1400) in mindestens zwanzig Sprachen machen ein künstlerisches Lebensfazit deutlich, das weit über quantitative wie qualitative Normalmaß hinausweist. Die Arbeitsmengen, die dieser Künstler zu leisten imstande war, veranschaulicht eine Passage des Briefs, den er 1990 an ehemalige Schulfreunde zum Klassentreffen schickte: „An Kilometern bin ich während der letzten fünfzehn Jahre so viel geflogen, dass ich den Äquator neunzig Mal hätte umkreisen können – ich war dreiundsiebzig Mal in Nord-und Südamerika, fünfzehn Mal in Neuseeland und Australien, zehn Mal in Südafrika, vier Mal in Japan und Hongkong, vier Mal in Israel – von den Reisen durch Europa zu schweigen.“

Neben seiner Dirigententätigkeit und der wissenschaftlichen Arbeit hatte er 1979-1995 die Professur für Dirigieren und Orchestererziehung an der Berliner Hochschule für Musik inne, er krönte diese Tätigkeit mit aufsehenerregenden Jahreskonzerten des Studentenorchestes. 1974-1980 leitete er überdies die Internationalen Jugendfestspiele in Bayreuth, deren Abschlusskonzerte „Furore machten“ – „Bergel erschien in Bayreuth wie ein Zauberer“ (Fritz Schleicher).

Deutlich lässt sich schließlich in Csikys Auflistung der Konzerte ein Hauptmerkmal der Dirigetenarbeit Bergels erkennen: Der begnadete und weltweit hoch geschätzte Musiker wurde im deutschen Konzertbereich niemals heimisch, er zog die Arbeit als Dirigent in den angelsächischen Ländern vor, in denen er nach Gefängnisjahren und Flucht aus Rumänien (1971) in zunehmendem Maße als Orchesterleiter und als Mensch Heimat fand; er war der Meinung, 1971 „ins falsche Land eingewandert“ zu sein. Er erlag im Alter von noch nicht 68 Jahren in Ruhpolding in Oberbayern einem Krebsleiden.

HB



Boldizsár-Tamás Csiky: Erich Bergel. Cronologia concertelor din perioada exilului (1972-1990). Editura Media Musica (Klausenburg), 400079 Cluj Napoca, Rumänien, 180 Seiten, Broschur, 2016, ISBN 978-606-645-062-1

Schlagwörter: Bergel, Musik, Buchvorstellung, Konzerte

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