5. Juni 2017

Doppellesung von Karin Gündisch und Iris Wolff in Stuttgart

Im Rahmen der Stuttgarter Vortragsreihe fand am 28. April im Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart eine Doppellesung statt. Eine „Heltauer/Hermannstädter literarische Begegnung“, wie Helmut Wolff sie in seiner Begrüßung nannte. Sie stand unter dem Motto „Lebenswege“ und wurde von den beiden bekannten Autorinnen Karin Gündisch und Iris Wolff bestritten.
Karin Gündisch, seit 2013 Ehrenbürgerin ­ihrer Heimatstadt Heltau, war nach ihrem Studium der Germanistik und Romanistik in Klausenburg und Bukarest als Lehrerin und Mitarbeiterin beim Neuen Weg und der Neuen Literatur tätig. Seit 1980 hat sie sich als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Ihre Bücher sind sowohl in Rumänien als auch in Deutschland, wo sie seit 1984 lebt, in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet worden.

An diesem Abend las sie aus der Erzählung „Martha auf dem Kalvarienweg“, die ein Portrait ihrer Lieblingstante zeichnet. Liebevoll und mit viel Humor schildert die Ich-Erzählerin, Schwiegertochter von Marthas Schwester, Marthas schwierigen Alltag in einem Pflegeheim. Das Zusammenleben mit an Demenz erkrankten Mitpatienten, unter Zeitnot stehendem Pflegepersonal scheint Martha, selbst fast blind und seit einer halbseitigen Lähmung im Rollstuhl, in ihrer resoluten und lebensbejahenden Art ganz gut im Griff zu haben. Ihr „Kalvarienweg“ ist der zwischen ihrem Zimmer und dem ihres inzwischen verstorbenen Ehemannes Walter. Sie haben einander ihren Möglichkeiten entsprechend bis zuletzt liebevoll umsorgt. Und weil mit Walter Marthas Augen „ein zweites Mal gestorben“ waren, konnte sie die Blumen am Fensterbrett nicht sehen, wusste aber, dass sie da waren – auch die vertrockneten. Lesen konnte sie ebenfalls nicht mehr, aber da waren auch die „Abendgedichte“, die sie auswendig aufsagen konnte. Zuerst noch Verse im Wechsel mit Walter und später mit Ali, dem 60-jährigen Pfleger, dem sie sie beigebracht hatte. Ihrer entrüsteten Schwester und der Ich-Erzählerin eröffnet sie kurzerhand bei einem Besuch, dass sie verliebt sei und Ali auf dessen Wunsch hin künftig auch „Morgengedichte“ beibringen wolle. Die Zuhörer krönten diese anrührende, überzeugend vorgetragene Geschichte über eine starke, „auf angenehme Weise verrückte“ Frau mit viel Applaus.

Den zweiten Teil des Abends bestritt die Schriftstellerin Iris Wolff. Sie ist in Hermannstadt und Semlak aufgewachsen und lebt seit 1985 mit ihrer Familie in Deutschland. Nach dem Studium der Deutschen Sprache und Literatur, Religionswissenschaften, Grafik und Malerei in Marburg war sie von 2003 bis 2013 Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar. 2013 erhielt sie ein Literaturstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg. Sie arbeitet als Koordinatorin für Kulturelle Bildung am Kulturamt Freiburg. Für ihre schriftstellerische Tätigkeit erhielt sie 2014 in Dinkelsbühl den Ernst-Habermann-Preis. Bisher sind von ihr folgende Bücher erschienen: „Halber Stein“ (2012), „Leuchtende Schatten“ (2015) und „So tun, als ob es regnet“ (2017). Aus dem letztgenannten bot die Autorin ihren Beitrag des Abends.

Es ist nicht nur der aktuellste, sondern auch der schmälste Band von Iris Wolff und doch ein Roman. Er setzt sich aus vier Erzählungen zusammen, die den Bogen spannen über vier Generationen und vier Ländergrenzen hinweg. Sie zeigen sprachlich gekonnt, wie historische Ereignisse und Zufälle einzelne Lebenswege prägen. Nachdem Iris Wolff den Titel ihres Buches, die aus dem Rumänischen stammende Redensart „So tun, als ob es regnet“ erklärt, lernen die Zuhörer Vicco aus der Erzählung „Eine Zitrone im All“ kennen. Er ist ein junger Mann, der bei seiner Tante lebt, nach der neunten Klasse eine Automechanikerlehre gemacht hat und sich einen Trabbi und ein Motorrad leisten konnte. Mit diesem Motorrad ist er zu Beginn der Erzählung unterwegs, fährt in einen abgestellten Heuwagen und glaubt, dass er sterben würde, während seine Familie die Mondlandung im Fernsehen verfolgt. Später bricht er spontan mit seiner Freundin Liane ins 600 Kilometer entfernte Konstanza am Schwarzen Meer auf und genießt mit ihr einen Tag am Meer. Der Titel dieser Erzählung geht auf das erste Lebewesen im All zurück, die Moskauer Mischlingshündin Laika oder Limontschik („Zitrönchen“) genannt. Henriette, Elemér, Hedda sind weitere Protagonisten in Iris Wolffs Geschichten, die ähnlich denen von Karin Gündisch deutlich machen, wie wichtig es ist, Vergangenes davor zu bewahren, vergessen zu werden. Es sind Texte, die deutlich machen, „was für spannende Zufälle und Handlungen dazu führten, dass es uns heute gibt“, wie es Iris Wolff im Anschluss der Lesung formulierte. Elemér, die Hauptperson der zweiten Erzählung, lässt sie sagen: „Es gibt Geschichten, die können nur nachts erzählt werden.“ Und das ist auch eine Gemeinsamkeit der beiden Autorinnen dieses Abends: Sie schreiben gerne nachts. Die „Nachtschreiberinnen“ haben für einen sehr gelungenen Abend gesorgt. Danke!

Waltraut Stirner-Lohrmann

Schlagwörter: Lesung, Literatur, Haus der Heimat, Stuttgart, Gündisch, Wolff

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