25. Juni 2017

Hellmut Seilers Gedichte und Aphorismen

Hellmut Seilers Lyrik und Aphoristik leben gleichermaßen aus der Freude am Bild wie aus der „glasklaren“ Pointe. Wird das Doppelbödige seiner Gedichte und das Eindeutige seiner Lebensweisheiten hinzugezählt, geben sich deren Struktur und Architektur als unverkennbare Handschrift zu erkennen. Der Band „Dieser trotzigen Ruhe Weg“ des 1953 in Reps, Siebenbürgen, geborenen, seit 1988 in Deutschland lebenden Philologen (er studierte Germanistik und Anglistik in Hermannstadt) belegt die Feststellung. Gert Fabritius, der 1940 in Bukarest geborene, seit 1977 in Deutschland ansässige Grafiker und Maler, steuerte dem rund 100 Gedichte und Aphorismen umfassenden Band fünf Farbgrafiken bei.
Die Anmerkung zur „kecken Nasenspitze über/ erstem Bartflaum“, mit der das Gedicht „Versuch einer Annäherung“ bildhaft anschaulich beginnt, mündet in der vierten – letzten – Strophe in die conclusio ein: „Und doch hängt mein Leben/ an dir, wie an einem seidenen Faden,/ mein Sohn.“ Der Weg vom Bild zur Pointe ist zurückgelegt. Seilers Neigung zur knappen Formulierung und präzisen Schlussmitteilung führt ihn zwangsläufig auch zur aphoristischen Sentenz. Zum Beispiel: „Die einzig sinnvollen Gipfelgespräche/ finden unter Bergsteigern statt.“ Oder: „Der Ersatz der Willkür/ durch den Irrtum.“ Oder: „Früh übt sich/ was ein Mundwerk werden will.“ Die drei Zweiteiler meinen, so Seilers Vermerk, „unsere MdBs“. Die Treffer, die er solcherart landet – besonders wenn es um Politiker geht –, sind in ihrer blitzschlagartigen Zielsicherheit meisterhafte Kleinkunstwerke: „Das Calwer Rathaus musste kürzlich/ vollständig geräumt werden. Die Balken bogen sich.“ Natürlich ist Calw beliebig austauschbar.

So respektlos diese und andere Aphorismen daherkommen, so zuverlässig vermeiden sie den Schlag unter die Gürtellinie, wie das Grobschlächtige allgemein nicht zu Seilers Mitteilungsvokabular gehört, wenn er sich auch gelegentlicher Deftigkeit bedient. Köstlich auch der folgende Fünfzeiler: „Früher haben die Jungs/ ihre Chance bei den Mädels/ gewittert./ Heutzutage/ twittern sie sie.“

Diese bis ins Letzte beherrschte sprachliche Bündelung findet sich auch in den Gedichten der Gruppen „Im kahlen Garten“, „Traumbrecher“, „Zur Kenntlichkeit verzerrt“, „Aus der intimen Tiefe der Zeit“. Ebenso gekonnt wie die Aphorismen der Gruppe „Gnomen und Gedankensplitter“ meistert Seiler die umfangreicheren Gedichttexte von der ersten bis zur letzten Zeile. Ob er sich im zehnstrophigen Vierzeiler „Sehr geehrte Fluggäste“ mit eleganter, immer wieder auch clownesker Sprachgeste in der Anrede „Hier spricht Ihr Kapitän. Stellen Sie/ jetzt bitte den Fluss der Gedanken ein/ und üben Sie sich im aufrechten Sitz“ an die Passagiere wendet und diese durchgehend in jeder Verszeile einfallsreich mit unerwarteten Wendungen unterrichtet, oder im Reimgedicht „Der Herbst, zerlegt“ eingangs notiert: „Über Nacht kamen sie, dunkle Gestalten,/ deren helle Rufe in den Tälern widerhallten,/ sie haben den Herbst umstellt und aufgespürt,/ in seine Einzelfarben zerlegt und demontiert …“ – jedesmal sind es die intellektuelle Luzidität im Ausbreiten des Themas und der überraschende wie bereichernde Wechsel der Wahrnehmung, zudem Ironie und Selbstironie, die bestechen.

Die Hauptmerkmale der lyrischen und der aphoristischen Sprache Hellmut Seilers äußern sich meines Erachtens in der Fähigkeit zur Synthese von tradierter und moderner Ausdrucksweise. Sie überzeugt, da sie nicht – wie bei so manchem dichtenden Zeitgenossen – an den Haaren herbeigezogene Nachahmung ist, sondern die unverwechselbar persönliche Schreibart eines Könners im Umgang mit Gedanke und Sprache, mit poetischem Impuls und Form. Wer sich auf sein Jonglierspiel mit Bild und Idee, Blickwechsel und Satzbau einlässt, dem wird die Lektüre dieses Bandes zum Vergnügen.

Gert Fabritius’ Grafiken („Mutterland Wort“, „Dans la rue je t’aime, fini?“, „Was groß ist, bleibt groß nicht!“, „Versuch ‚Das Zurechtkommen mit dem Weltgeschehen‘“, „Vanitas“) sind Demonstrationen grafischen Vermögens, dessen Wurzeln im Existentialismus und in der Dynamik des Ausdruckswillens liegen; die Arbeiten entstanden während der letzten Jahre.

Hans Bergel

Hellmut Seiler: Dieser trotzigen Ruhe Weg. Gedichte und Aphorismen. Mit farbigen Tagebuchaufzeichnungen von Gert Fabritius. Verlag Books on Demand, Norderstedt, 2017, Rote Reihe Lyrik, Band 5, innerhalb der Edition Bärenklau, herausgegeben und redaktionell betreut von Rolf Stolz, 145 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 978-3-74317-274-6
Dieser trotzigen Ruhe Weg: Ged
Hellmut Seiler
Dieser trotzigen Ruhe Weg: Gedichte und Aphorismen

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Schlagwörter: Rezension, Seiler, Gedicht, Gedichtband, Lyrik, Aphorismen

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