5. September 2017

Wertvolle Dokumentation über Sängerin Lula Mysz-Gmeiner

Richard Strauss und Max Reger liebten ihre Stimme, Johannes Brahms schätzte ihr Talent. Die 1876 in Kronstadt geborene Sängerin Lula Mysz-Gmeiner gehörte zu den führenden Liedinterpretinnen ihrer Zeit. Literatur über die Mezzosopranistin gab es bislang jedoch so gut wie nicht. Nun hat Raika Simone Maier eine umfassende Biografie vorgelegt.
Die Autorin ist Musikwissenschaftlerin, Sängerin und Gesangspädagogin und leitet die Musikschule in Lohmar. Für dieses Buch, das als Doktorarbeit entstanden ist, hat sie nicht nur mit ungeheurem Fleiß Material über Lula Mysz-Gmeiner gesammelt und zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und Mitgliedern der weit verzweigten Musikerfamilie geführt. Sie hat auch mehr als nur die Chronologie eines Sängerinnenlebens aufgeschrieben. Vielmehr stellt sie das Wirken von Lula Mysz-Gmeiner in den Kontext des zeitgenössischen Konzertlebens, sie beleuchtet die Entwicklung von Repertoire und Gesangspädagogik und fragt ganz im Besonderen nach der Bedeutung des Geschlechts für diese und andere Sängerkarrieren – auch ein Beitrag zur Genderforschung also.

Julia Sophie Gmeiner, genannt Lula, wurde als drittes von zehn Kindern des Ehepaars Gmeiner geboren. Die Musikpflege und Vermittlung kultureller Werte gehörte in dem gut- bis großbürgerlichen Kronstädter Haushalt zur Erziehung dazu, wobei sich darum mehr die Mutter kümmerte, während der Vater als Besitzer einer Petroleumfabrik das Geld der Familie verdiente. Indes scheint er wenig begeistert gewesen zu sein von dem Wunsch gleich mehrerer seiner Kinder, die Musik zum Beruf zu machen. Was aber nicht viel half, denn neben Lula wurde auch ihre größere Schwester Ella eine (mindestens so erfolgreiche) Sängerin. Ebenso schlugen Rudolf, Gebhard und Luise Gmeiner eine Musikerlaufbahn ein. Bruder Friedrich arbeitete als Kaufmann, die anderen Geschwister starben frühzeitig. Prägend war sicherlich auch die Großmutter Marie Julie Hinz, die selbst Opernsängerin gewesen war und den Enkeln einiges vermitteln konnte.

Interessant ist, dass Lula vor dem Gesangsunterricht bei Rudolf Lassel zuerst Geige bei Olga Grigorowicz lernte und dafür offenbar so talentiert war, dass sie als junges Mädchen mit der Kronstädter Philharmonie konzertieren konnte. Dass sie die Violine bald liegen ließ, führt Raika Simone Maier auf geschlechtsspezifische Erwartungen ihrer Umwelt zurück: Eine Frau als Berufsgeigerin passte nicht ins konservative Siebenbürgen. Erwartungsgemäß verließ Lula Gmeiner, die an ihrer Stimme arbeiten wollte, bald die Heimat, um zuerst in Wien und dann in Berlin zu lernen. Bald etablierte sie sich als Liedsängerin, gab auch Unterricht, nahm parallel dazu aber noch mehrfach Gesangsstunden. Lehrerinnen und Lehrer waren Gustav Walter (1895/96), Emilie Herzog (1896-98), Etelka Gerster (1899/1900), später Lilli Lehmann (in Berlin, 1906) und Raimund zur Mühlen (1911/12 in London) – meist nach der Methode der „Meisterlehre“, bei der die oder der Lehrende vorsang und die Schüler nachzusingen hatten. Die Autorin macht deutlich, dass es bei dieser Art der Ausbildung für viele Sängerinnen und Sänger schwer war, ihren eigenen Stil, manchmal auch die eigene Stimmlage zu finden.
Porträt Lula Mysz-Gmeiner von Emil Honigberger in ...
Porträt Lula Mysz-Gmeiner von Emil Honigberger in der Reihe „Siebenbürgisch-sächsische Charakterköpfe“ der Zeitschrift „Die Karpathen“, Nr. 14, Jahrgang 1910
1897/98 feierte Lula Gmeiner große Erfolge beim Schwäbischen Musikfest und in Berlin. Sie etablierte sich auf einem hart umkämpften Markt, den sie sich teilweise selbst erst schaffen musste. Denn Sängerinnen, die abseits der Opernbühne zu reüssieren versuchten, waren damals eher die Ausnahme. Gmeiner war in erster Linie Liedsängerin und trat daneben auch in geistlichen und weltlichen Konzerten auf. Ihr Liedrepertoire war breit und umfasste das klassische und romantische Repertoire ebenso wie zeitgenössische Werke (Strauss, Wolf, Reger) – freilich eher im Rahmen der Tonalität. Sie war mit vielen Komponisten persönlich bekannt und wurde von diesen geschätzt. Siebenbürgische Komponisten führte sie nicht auf, sieht man einmal von einem Lied Waldemar von Baußnerns und drei Liedern Norbert von Hannenheims ab, die ja beide nicht in Siebenbürgen lebten. Kein Rudolf Lassel, kein Paul Richter.

Ab der Berliner Zeit verlässt Raika Simone Maier den Weg der Chronologie und widmet sich zahlreichen Einzelfragen, persönlich-biografischen wie soziokulturellen: Beleuchtet werden die Auftrittsbedingungen, der Aufbau der Liederabende, das Agenturwesen, eine Reise nach Island, eine in die USA und manches mehr. Das ist gewiss spannend und lehrreich, allein: Man bekommt kein Gefühl dafür, wie aus der jungen, unbekannten Interpretin eine vielgefragte Konzertsängerin wurde. Es gelingt nur allmählich, die vielen Einzelaspekte zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Dass Lula Mysz-Gmeiner ab 1900 verheiratet war und Mutter zweier Kinder, erfährt man zuerst nur nebenbei. Viel später folgen dann eigene Kapitel zu „Berufstätigkeit und Ehe“ und „Berufstätigkeit und Mutterschaft“. Weiterhin gehört es zu einer Doktorarbeit sicher dazu, unterschiedliche Analysemethoden nicht nur anzuwenden, sondern sie auch zu reflektieren. Die Ausführlichkeit, in der Raika Simone Maier das tut, behindert jedoch bisweilen den Lesefluss.

Deutlich wird aber zweifellos, dass Lula Mysz-Gmeiner nicht nur eine außergewöhnliche Künstlerin gewesen sein muss, sondern auch eine ganz besondere Frau, die in einer für ihre Zeit ungewöhnlichen Konsequenz trotz Familie ihre Karriere vorantrieb und darin auch entscheidend von ihrem Mann, dem Ingenieur Ernst A. Mysz, unterstützt wurde. Sicher sehr bewusst zeigte sie sich auf Bildern seriös, fast bieder, wohl auch, um sich von den lasziven Selbstdarstellungen der Opernsängerinnen abzuheben. Über ihre Tätigkeit als Sängerin hinaus trat sie als Herausgeberin einer Edition mit 92 Schubert-Liedern in Erscheinung. Und wirkte viele Jahrzehnte lang als gefragte Gesangspädagogin: Zuerst auf privater Basis, ab 1920 als Professorin für Gesang an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin. Diese Aufgabe war für sie mindestens so wichtig wie das eigene Konzertieren. 1943 wurde die Berliner Wohnung der Familie Mysz-Gmeiner zerbombt, ein Schlag, der ihr materiell und gesundheitlich stark zusetzte. Sie konnte nicht mehr an die Berliner Hochschule zurückkehren. 1944 folgte dann ein Ruf an das Staatliche Konservatorium Schwerin, wo die Sängerin 1948 starb. Raika Simone Maier befasst sich – soweit dies die Quellen zuließen – ausführlich mit dem pädagogischen Konzept der Gesangslehrerin Lula Mysz-Gmeiner, die offenbar besonderen Wert auf differenzierte und fundierte Gestaltung der Musik legte. Nicht ausgespart wird das Wirken der Sängerin in Zeiten der NS-Diktatur, deren Richtlinien sie sich bereitwillig anpasste, ohne selbst politisch aktiv zu werden. Den Kampf für die Sache des Nationalsozialismus focht sie nach eigenem Empfinden friedlich aus durch das Vortragen deutscher Lieder – im Inland wie im Ausland.

Grundsätzlich ist es angenehm, dass Raika Simone Maier eine wissenschaftliche Distanz zur Sängerin als Objekt ihrer Forschung bewahrt und nicht der Versuchung erliegt, die von der Literatur vernachlässigte Künstlerin zur strahlende Heldin zu machen – umso mehr, als diese in Selbstdarstellungen stets darauf achtete, ihren „großen Namen als Gesangskünstlerin und Stimmbildnerin“ gegen Kritik zu verteidigen. Lula Mysz-Gmeiner hatte einen Ruf zu verlieren und achtete offenbar sehr genau darauf, welche Aspekte ihres Privatlebens sie preisgab.

Bleibt die Frage: Wie klang denn eigentlich die Stimme der großen Sängerin? Obgleich es die Frühzeit der Tonaufnahmen war, sind von ihr einige Klangdokumente erhalten, sogar auf YouTube. Ausführlich analysiert Maier eine Aufnahme des Liedes „Immer leiser wird mein Schlummer“ op. 105.2 von Johannes Brahms und stellt ihr einer Einspielung durch Ingeborg Danz, einer heute wirkenden Sängerin, gegenüber. Die Autorin konstatiert, die Version der Mysz-Gmeiner wirke „insgesamt artifizieller“, weniger organisch durch angeschliffene Töne und eine geringere Ausgewogenheit zwischen den Lagen. Das mag für dieses Brahms-Lied, das nicht im Internet nachzuhören ist, zutreffen. Allein: Etwas mehr Aufnahmen hätte sich die Autorin schon vornehmen können. Wer sich zum Beispiel die Ballade „Herr Oluf“ von Carl Loewe anhört oder den „Nussbaum“ von Robert Schumann, der kann trotz der schlechten Tonqualität durchaus ergriffen sein von der Schlichtheit und Leichtigkeit von Mysz-Gmeiners Mezzosopran, der in den oberen Lagen ganz phänomenal leuchtet. Auch ihre inhaltliche Deutung der Lieder gelingt sehr eindringlich. Diese Einschränkung ändert jedoch nichts daran, dass Raika Simone Maiers Arbeit eine wichtige Pioniertat ist und eine höchst wertvolle Sammlung von Materialien. Vielleicht gibt es ja irgendwann eine geraffte Fassung mit weniger methodischen Überlegungen – dafür aber einigen Informationen zu Konzerten der Sängerin in Siebenbürgen und überhaupt ihrem Verhältnis zur alten Heimat.

Johannes Killyen




Raika Simone Maier: „Lernen, Singen und Lehren“. Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948), Mezzsosopranistin und Gesangspädagogin, von Bockel Verlag Neumünster 2017, 480 Seiten, ISBN 978-3-95675-015-1, 39,80 Euro

Schlagwörter: Sängerin, Klassik, Wissenschaft, Dokumentation

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