18. Dezember 2018

Ein Wanderer aus Siebenbürgen: Gusto Gräser starb vor 60 Jahren, am 27. Oktober 1958, in München

Vor einigen Jahren erschien in Mexiko ein Roman über den Monte Verità von Ascona. Die Hauptrolle spielt eine Person namens Gusto, die in einer Felshöhle haust, zugleich aber „Lider“, das heißt geistiger Führer für die auf dem Wahrheitsberg angesiedelte pazifistische „Kommune“ ist. Die Heldin der Erzählung verehrt diesen prophetischen Eremiten derart bedingungslos, dass sie sich ihm in Träumen hingibt und ihm nach seinem Tod einen Altar baut, vor dem sie niederkniet. Der Roman ist zudem, ungewöhnlicherweise, mit einem Dutzend Fotos des Dichters Gusto Gräser ausgestattet.
Woher diese Bewunderung einer mexikanischen Autorin, einer bekannten Soziologin und Choreographin, für einen Menschen, der ihr nach Heimat und Sprache völlig fremd sein musste, den sie nie gesehen hat? Das Phänomen steht nicht allein. Eine französische Romanautorin zeichnet ihn, den sie ebenfalls Gusto nennt, als tanzenden Druiden, als weisen Einsiedler, der meditiert und Verse des chinesischen Philosophen Laotse rezitiert. Der englische Kulturhistoriker Peter Watson behauptet, dieser wandernde Poet habe eine neue Menschenart geschaffen: „den tanzenden Vagabunden“.
Gusto Gräser, aufgenommen 1925 von Georg Lührig. ...
Gusto Gräser, aufgenommen 1925 von Georg Lührig. Flugblatt von 1926, Sammlung Hermann Müller, Knittlingen
Wie sind solche Einschätzungen für einen Mann möglich, der zu seinen Lebzeiten von den Behörden als „Vagabund“, „verkappter Bettler“ oder „staatsgefährlicher Rumäne“ registriert wurde? Den die Umwelt meist für einen „Sonderling“, „Narren“ oder „Schmarotzer“ hielt? Wer ist dieser Mann?

Gustav Arthur Gräser wurde am 16. Februar 1879 in Kronstadt geboren. Sein Vater war Bezirksrichter und unter seinen Vorfahren befinden sich Bischöfe. Gräser brach sein Kunststudium ab und schloss sich einer Lebensgemeinschaft an, die der Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) auf dem Himmelhof bei Wien begründet hatte. „Mutter Natur“ war die Losung dieser Aussteiger. Weil Gräser sich aber nicht dem autoritären Stil seines Meisters fügen wollte, gründete er zusammen mit seinem Bruder Karl und anderen eine eigene Gemeinschaft, die Reformsiedlung Monte Verità auf dem Weinberg über Ascona. Sie gilt heute als Urzelle der Alternativbewegung, als erstes globales Dorf, als „Weltdorf“: multiethnisch, multikulturell und multireligiös. Hier machte man sich frei von Kirche, Staat und Nation, war allen, insbesondere nichtautoritären, Geistesrichtungen offen. Von Nietzsche über Psychoanalyse, von Buddhismus bis hin zu Theosophie.

Gräser trennte sich jedoch früh von einer bürgerlich-kommerziellen Richtung und zog sich in eine Felshöhle in den Bergen zurück. Dort wurde der junge, schon berühmte Schriftsteller Hermann Hesse sein Schüler. Gusto erläuterte ihm seine Denk- und Lebensweise anhand der heiligen Schriften der Inder und Chinesen.
Kannte Gusto Gräser noch persönlich: der in ...
Kannte Gusto Gräser noch persönlich: der in Knittlingen lebende Gräser-Kenner und -Herausgeber Hermann Müller (geb. 1931), aufgenommen in München 2008. Foto: Konrad Klein
Eine Szene, die einzig dasteht in der europäischen Geistesgeschichte, ein archetypisches Bild: „Der Einsiedler in seiner Höhle, ein Schüler zu Füßen des Meisters.“ Hinzu kommt, dass dieser Meister, der mit der Tänzerin Isadora Duncan befreundet war, in Mondscheinnächten im Wald den Tanz der „Balabiott“, der „Nackttänzer“, vollführte. Ein religiös-ekstatischer Tanz, wie Zeugen berichten, ähnlich den Wirbeltänzen der Sufis, nur wilder und spontaner. Und somit kommen wir auf die Darstellung zurück, das sich inzwischen in Liedern, Gedichten und Erzählungen, auch in Theaterstücken, verfestigt hat: das Bild eines tanzenden Druiden, eines tanzenden Einsiedlers und Wanderers. Am häufigsten findet es sich in den Legenden, Märchen und Romanen von Hermann Hesse. Dessen „Glasperlenspiel“ endet mit dem feierlichen Ritual eines Naturburschen und Tänzers, der Himmel und Erde seine Verehrung darbringt.

Wohl hatte es einen Vorgänger gegeben, einen Mystiker, der sich aus der Enge seiner siebenbürgischen Heimat befreite und in den pennsylvanischen Urwald (USA) zog, dort eine Höhle bewohnte und eine Gemeinschaft gründete, Johannes Kelpius (1667-1708). Der aber war in der christlichen Tradition seiner Ahnen verblieben. Gräser dagegen öffnete sich weit zum indischen und chinesischen Denken einerseits sowie zu den Modernen andererseits: zu Nietzsche, Emerson, Whitman und Thoreau. Ihm ging es um mehr als um Leibbefreiung und Sozialreform, ihm ging es darum, die „kulturelle Semantik“ des Westens zu verändern, das heißt dessen kulturelle und religiöse Symbolik. Eine andere Sprache musste geschaffen werden, um das christliche Erbe, das ihn tief geprägt hatte, in die Neuzeit zu übersetzen. Darum trat er als Prophet auf, darum verkündete er eine „kommenwollende Blütezeit“ und einen neuen Menschen, den „Erdsternsohn“. Darum hat er dichterisch die Urbilder wieder ans Licht gebracht, die die Menschheit seit jeher in Festen, Ritualen und Religionen geleitet haben: den Lebensbaum, die Große Mutter, die Heilige Hochzeit, das Heilige Mahl, die Geistsonne und andere.
Neben Manuskripten gehört zu Gusto Gräser ...
Neben Manuskripten gehört zu Gusto Gräser Nachlass auch dieser Weidenkoffer mit seiner Brille und Schreibutensilien. Wozu das geheimnisvolle Hämmerchen diente, ist unbekannt (Foto aus der Ausstellung von 2008 im Haus des Deutschen Ostens München). Die meisten von Gräsers Manuskripten werden heute in der Monacensia aufbewahrt. Sammlung Hermann Müller. Foto: Konrad Klein
Dass Gusto Gräser damit völlig unverstanden blieb, versteht sich. Mehr als das, man wollte ihn loshaben. ­Propheten und Seher sind lästig. Verhaftung reihte sich an Verhaftung, Ausweisung an Ausweisung. Seiner Erschießung in Kronstadt wegen Kriegsdienstverweigerung entkam er nur durch eine Art Wunder. Die Dichter aber, die besten seiner Zeit, erkannten oder erahnten ihn zumindest, erzählten von ihm in ihren Werken, dichterisch verwandelt und verborgen: Alfred Döblin, Hermann Broch, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Thomas Mann, Georg Trakl und andere. Inkognito, als Namenloser, ging Gräser in die Weltliteratur ein, wurde zu der Symbolgestalt, die er tatsächlich sein wollte: der neue Mensch, der Himmel und Erde, Erde und Stern, materiell und pateriell (Mütterliches und Väterliches) in einem ekstatischen Tanz verbindet – als „Erdsternsohn“.

Hermann Müller

Schlagwörter: Gusto Gräser, Dichter, Kronstadt, München

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