8. Januar 2021

„wir gingen weil alle gingen.“: Der Schriftsteller Thomas Perle las in der Münchner Stadtbibliothek

Am 8. Dezember 2020 fand die Online-Lesung „wir gingen weil alle gingen.“ mit dem Schriftsteller Thomas Perle im Rahmen der Reihe „Shared Heritage – gemeinsames Erbe“, dem Kulturprogramm der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands, in Kooperation mit dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland statt.
Moderatorin Enikő Dácz (IKGS) im Gespräch ...
Moderatorin Enikő Dácz (IKGS) im Gespräch mit dem Autor Thomas Perle. Foto: Heike Bogenberger
Sabine Hahn begrüßte das virtuelle Publikum im Namen der Münchner Stadtbibliothek am Gasteig und präzisierte, dass die Lesung mit Thomas Perle die Abschlussveranstaltung im Rahmen des genannten Kulturprogramms darstellt. Dabei hob sie hervor, dass viele Schriftsteller*innen im östlichen Europa sich auf multiethnische Regionen mit deutschsprachigem Bevölkerungsanteil wie Schlesien, die Bukowina, Siebenbürgen, Böhmen beziehen und heute aus einer zeitlich distanzierten Perspektive über Verletzungen und Verschwiegenes, Verflechtungen und Verbindungen schreiben.

Dies ist auch der Fall des preisgekrönten Dramatikers Thomas Perle, der sich zwischen mehreren Kulturen bewegt, wie er gleich zu Beginn des Gesprächs gesteht, das er mit Enikö Dácz, der Stellvertreterin des Direktors des IKGS an der LMU, führte. Die Literaturwissenschaftlerin Enikö Dácz begann den Dialog mit der Vorstellung der beeindruckenden literarischen Laufbahn des Gastes. Thomas Perle wurde 1987 in Oberwischau, im sozialistischen Rumänien, geboren, emigrierte 1991 mit seiner Familie nach Deutschland. Nach seinem Abitur absolvierte er ein Volontariat im Bereich Regie, Dramaturgie, Kommunikation und Theaterpädagogik am Staatstheater Nürnberg. 2008 begann er sein Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, das er 2015 abschloss. Während seines Studiums war er 2009 am Volkstheater Wien tätig und danach als Regieassistent am Schauspielhaus Wien angestellt. 2013 erhielt Perle für seinen Kurzprosatext „wir gingen weil alle gingen.“ den exil-Literaturpreis. 2015 erhielt er vom Bundeskanzleramt Österreich das Startstipendium für Literatur. Gleichzeitig gab er mit seinem Kurzdrama „europas töchter“ im Rahmen von MIMAMUSCH | Festival für Kurztheater sein Regiedebüt und feierte damit seine erste Uraufführung. 2016 erfolgte eine weitere Inszenierung am Staatstheater Nürnberg, wo er eine Schreibwerkstatt für Jugendliche leitete. Die Texte brachte er gemeinsam mit seinem exil-Literaturpreistext zur Uraufführung. Beim 28. Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden wurde sein Text „mutterkörper. jedes leben einmal zu ende“ mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Perle ist Mitglied des internationalen Autorentheaterlabors WIENER WORTSTAETTEN und Teil des europäischen Kooperationsprojekts Fabulamundi. Playwriting Europe. 2018 erschien sein Prosaband „wir gingen weil alle gingen.“ im Verlag edition exil. Im selben Jahr war er Rottweiler Stadtschreiber und erhielt für sein Theaterstück „karpatenflecken“ das Wiener Dramatik Stipendium. „karpatenflecken“ wurde 2019 mit dem Retzhofer Dramapreis ausgezeichnet und sollte in der Spielzeit 2020/21 am Burgtheater Wien uraufgeführt werden, was coronabedingt nicht realisiert werden konnte.
Thomas Perle in der Münchner Stadtbibliothek ...
Thomas Perle in der Münchner Stadtbibliothek Foto: Heike Bogenberger
Perle ist in Nürnberg dreisprachig aufgewachsen: mütterlicherseits deutsch, väterlicherseits ungarisch, großväterlicherseits rumänisch. Hinsichtlich seiner aus diesem Grund schwierigen Einordnung meint Perle, er sei rumäniendeutscher Autor bzw. Auslandsdeutscher, der in Wien lebt. In Deutschland ist er der Rumäne, in Rumänien der Deutsche. „Schubladenmäßig“ bedeutet das, dass ihn die Kultur des Dazwischen stark prägt. Aufgrund seiner Herkunft hat er sich oft gefragt, wo er hingehöre. Aufgrund der Sozialisierung ist er geprägt von der Zeit in Deutschland. Er hat sich aber in die Stadt Wien verliebt, fühlt sich dort wohl. Er ist aber kein Österreicher, auch wenn er sich darüber freut, in Österreich ein Wahlrecht zu haben. Seine Vorfahren stammen aus der Monarchie und sind in die Maramuresch ausgewandert. Mutters Dialekt stammt aus dem Altösterreichischen. Perle nennt sich ein Auslandsdeutscher, der in Wien lebt, und gleichzeitig ein Auslandsrumäne wegen seinen zwei Staatsbürgerschaften.

Enikö Dácz geht auf die Außenperspektive ein, die Perle infolge einer solchen Auffassung entwickelt hat und die auch in seinen Texten sichtbar wird. Auf die Frage, ob dadurch die Innenperspektive zu kurz komme, antwortet Perle, dass er dieses Dazwischen und diesen Wechsel der Kulturen mag, und dass das abhängig von den Figuren, die ihn inspirieren, zur Bildung einer Innenperspektive führt. So lässt sich Perle gern als Grenzgänger zwischen Ländern und Gattungen definieren und literaturkritisch einordnen, denn auch seine Prosa ist ein Dazwischen, sie ist stark theatralisiert und seine Dramatik ist lyrisch.

Die drei Fragmente, die Perle aus seinem Prosaband vorlas, veranschaulichen den knappen, direkten Schreibstil, mit dem er geschichtliche Ereignisse schildert und literarische Figuren porträtiert. Er versteht es, den Aufbruch in die fremde Welt des Westens überzeugend zu beschreiben. Die Schreiberfahrung gesteht er, von zeitgenössischen österreichischen Schriftsteller*innen gesammelt zu haben. Die Recherche der Stoffe, das Feilen an der Sprache, die Rückmeldungen, das alles gehört zu seiner Schreibwerkstatt. Der Punkt im Titel „wir gingen weil alle gingen.“ weist trotz des fehlenden Kommas auf die Bedeutung der Interpunktion in seinen Werken hin, hier auf die Tatsache, dass die rumänische Geschichte der 90er Jahre für ihn ein abgeschlossenes Kapitel ist. Geschichtliche Themen werden von Perle in seinen Drama- und Prosatexten konsequent thematisiert, weil Geschichte immer schon sein Lieblingsfach gewesen ist. Das Besondere an seinen Werken ist aber, dass sie mehrsprachig konzipiert wurden und werden, was auf das gemeinsame europäische Erbe trotz Teilung zurückzuführen ist.

In „Karpatenflecken“ beispielsweise gelingt Perle anhand einer Familiensaga ein Geschichtspanorama über die letzten 250 Jahre in Europa. Den Ausgangspunkt dafür stellten immer stärker werdende Formen des Populismus und Nationalismus in Europa dar, die Perle veranlassten, ein Stück dagegen zu schreiben als Antwort auf die Frage: Woher kommen wir in Europa? In seinem Prosaband, der zwar autobiografisch ist, aber nicht hundertprozentig seiner eigenen Biografie entspricht, geht es ihm als Zipser Deutschen darum, die Geschichte der vielen nebeneinander lebenden Ethnien in der Maramuresch zu rekonstruieren, tatsächliche Begebenheiten aus der Region auf der Suche nach literarischer Wahrhaftigkeit zu erzählen. Somit entsteht ein vielstimmiger Prosaband, wie Enikö Dácz richtig bemerkt, der sich die Identitätssuche sowie die Vergangenheitsbewältigung zu seinen Zielen setzt. Nüchterne Stimmen werden hörbar, starke, im positiven Sinne dominante Frauenfiguren gehen schonungslos mit sich um. Sie werden vom Autor unter dem Einfluss seiner eigenen Familiengeschichte bewusst so dargestellt, während Männerfiguren wie Vasile als Scheiternde charakterisiert werden. Identität ist für Perle ein sehr komplexer Begriff, der sich nicht ausschließlich ethnisch definieren lässt.

Die schriftstellerische Tätigkeit als Dorfschreiber von Katzendorf (rum. Cața), die coronabedingt früher abgeschlossen wurde, bedeutete ihm eine wichtige Erfahrung, denn er lernte dort die Minderheit der Siebenbürger Sachsen kennen. Das vorgelesene Fragment ist ein eindrucksvolles Dokument über eine neue literarische Figur, die nicht ausgewandert ist, für die Heimat immer gegeben war. Heimat ist somit auch ein problematischer Begriff und fühlt sich anders von den Nichtausgewanderten.

In dem äußerst spannenden Online-Dialog wurde auch Perles Projekt am Radu Stanca-Theater in Hermannstadt (Sibiu), betitelt „Live“, erwähnt, ein aus fünf Szenen bestehendes Theaterstück, das von seiner Erfahrung als Insider mit dem rumänischen Theater zeugt und vorläufig wegen der Pandemie nur im Internet zu sehen ist. Auch hier geht es um Identitätsfragen, diesmal in medialem Kontext.

Das persönliche, sehr anregende Gespräch in der Münchner Stadtbibliothek, das mehr als nur ein Zoom-Gespräch war, wie die Moderatorin Enikö Dácz sehr treffend hervorhob, endete mit einer hoffnungsvollen Note, denn Thomas Perle blickt auf viele weitere Projekte. Wir warten gespannt darauf und wünschen ihm viel Erfolg.

Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu

Schlagwörter: Perle, Autor, Literatur, Theater, Hermannstadt, Wien, Dorfschreiber, Katzendorf, IKGS, Oberwischau

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Neueste Kommentare

  • 08.01.2021, 23:39 Uhr von Zacken: Für alle, die die wunderbare Lesung verpasst haben, hier der Link zum youtube Video: ... [weiter]

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