19. Dezember 2021

Dieter Schlesaks Roman „Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr“

„Im historischen Koma … tritt möglicherweise auch jene Panoramaschau ein, wo das ganze Leben als Abschied und im Scheiden noch einmal wie ein Gerichtstag vorbeizieht; und das alles in einer zeitlosen Geschwindigkeit, so dass eine Sekunde wie tausend Jahre erscheint.“
Der 1934 in Schäßburg geborene, 2019 in Camaiore (Italien) verstorbene Schriftsteller und Lyriker Dieter Schlesak wählt in seinem postum erschienenen Roman unterschiedliche Erzähler, die sein narbenreiches Leben zwischen Kindheit und frühem Mannesalter in Siebenbürgen und seit 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien darlegen wollen, wenngleich ihre Zeit- und Raumwahrnehmung höchst brüchig ist. Ausgangspunkt ihrer Weltdeutung ist ein gewisser Terplan, Insasse einer psychiatrischen Anstalt, der sein Zimmer nur an Besuchstagen verlässt, wenn die Verwandten kommen, um ihn zu bemitleiden, wenn die Literaturkritiker kommen, um sanftmütig über sein Werk zu reden, dann ist er wieder in seiner transsilvanischen Heimat. Und seine längst verstorbene, in seiner Erinnerung aufblühende Mutter lenkt seinen Erzählfluss – gemeinsam mit Vann, seiner in Deutschland sozialisierten Ehefrau, mit der Terplan ein ebenso spannungsgeladenes Verhältnis hatte wie mit der rumänischen Maria aus seiner ersten Ehe. Auch mit seinem in München aufgewachsenen Sohn Michael, der ein passionierter Zauberkünstler geworden ist, verbindet ihn ein seltsames Gefühl, das zwischen Verwunderung und Entfremdung pendelt.

In dieser verworrenen Situation, die von Trennung, Nichtanpassung an die Fremde und Hilflosigkeit erfüllt ist, gewinnen die verschiedenen Ich-Erzähler immer mehr an Boden. Vor allem, als die in Camaiore lebende Mutter schwer erkrankt ist und sie ihn bittet, nach Schäßburg zurückzukehren, „um nach den Gräbern und den im Stich gelassenen Häusern zu schauen“, erhält ein Ich-Erzähler zunächst immer mehr an Bedeutung. Er ist Augenzeuge der postrevolutionären Ereignisse in Bukarest und Temeswar, wohin Dieter Schlesak im März 1990 ­gereist ist, um die desaströsen Auswirkungen des Ceaușescu-Regimes zu besichtigen, Gespräche mit den ins Land zurückgekehrten oder eben noch inhaftierten Schriftstellerkollegen zu führen und alte Liebschaften aufzufrischen. Kurzum, es ist der vergebliche Versuch, die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit mithilfe der kommentierten realen Erlebnisse aufzuheben. Es ist ein schmerzlicher Versuch, in dem das erlebende Ich aufgrund seiner schwindenden Vorstellungskraft abgeschafft werden sollte. Das jedenfalls behauptet Terplan, der den Ich-Erzählern nun keine Chance mehr einräumt. Stattdessen häufen sich in seiner Vorstellungswelt die Gespenster. Ein beängstigender Zustand, der den Autor wieder auf den Plan ruft, um seinen in der psychiatrischen Anstalt phantasierenden Erzähler „aus dem Verkehr“ zu ziehen.

Es ist der Zeitpunkt, um mit der jüngsten Vergangenheit abzurechnen, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die nicht mehr die „Schönheitschirurgen der Macht“ (Mircea Dinescu) sein wollten und nun die politische Wende eingeleitet hatten. Höchste Zeit also auch für den nach Rumänien zurückkehrenden Schlesak, seine reale Visite im heimatlichen Schäßburg zu beginnen, obwohl die Zeit sich wieder als eine Illusion erweist, in der auch der Er-Erzähler sich in ein Phantom zu verwandeln scheint, obwohl er sich bei seinem ersten Rundgang durch Schäßburg ausdrücklich als Michael Terplan vorstellt. „Jetzt muss aber Terplan, der ich bin, endlich wieder aufsehen, sich bewusst werden, wo er ist …“ – mit diesem Bekenntnis könnte sich eine Wende in der Wahrnehmung seiner Vergangenheit abzeichnen, wenn er nicht von den Berichten seiner Verwandtschaft über die 1930er Jahre tief beunruhigt wird. Es sind die ehemaligen Bekannten seiner Eltern, überzeugte Nazi-Anhänger, die auf Befehl „von oben“ auch die Registrierung der jüdischen Mitbewohner und deren Deportation in die Vernichtungslager bewerkstelligten, die den militanten Geist des Nationalsozialismus in Siebenbürgen ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen oft mit Gewalt einflößten und nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Securitate-Schergen des kommunistischen Regimes gelitten hatten.

Mit Überlebenden des Nazireichs und ehemaligen Helfershelfern des Ceaușescu-Regimes führt Schlesak während des Aufenthalts in seiner Geburtsstadt Schäßburg quälende Gespräche, so wie mit dem jüdischen Ehepaar Edith und Adam Salmen. Es hatte den Nazi-Terror wie durch ein Wunder überstanden und sich nach 1945 bewusst in der „gefühlten Welt“ von Siebenbürgen angesiedelt. Eine Entscheidung, die der Erzähler insofern akzeptiert, weil Adam nicht zu den „Wiedergutmachungsjuden“ gehören wollte, die in Deutschland für ihre von den Nazis verursachten Leiden entschädigt werden wollten. Eine andere Art der Schuldzuweisung für die von den Nazis erwirkten Verbrechen breitete sich aufgrund der Erkenntnisse des Autors, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit seiner Roman-Dokumentation „Capesius, der Auschwitz-Apotheker“ weltweit anerkannt war, unter seinen Landsleuten aus. Die aus der Nazi-Ära rührenden körperlichen und psychischen Defekte wurden nun zum Gegenstand ihrer Klagen, eine Haltung, die den grundsätzlichen Ausreisewillen der Siebenbürger Sachsen in die Bundesrepublik Deutschland nach 1985 augenscheinlich nicht beeinflusst hat.

In den Reflexionen der vielstimmigen Erzähler-Figuration, die in verkürzten, oft gebrochenen Narrationen vorgetragen wird, überwiegt der rasche Wechsel zwischen subjektzentrierten Beobachtungen und scheinbar objektivierten Handlungssträngen, welche die Rückkehr der Kunst verhindern. Sie sind in diesem verwirrenden Gedankengefüge von vielen unüberbrückbaren Hindernissen begleitet, mit denen der Protagonist konfrontiert ist. Er ist bei der Aufdeckung seiner ideologischen Irrtümer in unterschiedliche Rollen geschlüpft, um das ihn quälende Ost-West-Schisma aufzudecken. Doch der in einen Traum zurückfallende Erzähler scheitert in der abschließenden Sequenz an diesem ihm unbewussten Bemühen. Als Psychiatrie-Patient Terplan wird ihm eine Elektroschock-Therapie aufgezwungen, die ihn in die Hölle der realen Erlebnisse zurückwerfen wird, ohne dass deren Verdrängung aufgehoben werden kann. Mit diesem Verweis auf ein den Roman einleitendes Zitat aus Sigmund Freuds Traumtherapie löst der Autor etwas ein, was das gescheiterte Bemühen um die Aufdeckung des Verhältnisses zwischen realem Erlebnis und Erinnerung im Prozess der Heilung des „Narbenwahren“ thematisiert: Die Rückkehr zur Kunst ist dennoch möglich, die zur Normalität in den Beziehungen der Menschen aber scheitert an deren schizoider Wahrnehmung der Welt. Auch der Autor stand am Ende seines realen Lebens vor dieser Erkenntnis, ohne seinen Lesern wegweisende Hinweise zu geben und sie dennoch mit Einsichten in die Funktionsweisen von Diktaturen zu versehen. Und die authentische Botschaft von Schlesak? „Papier … Man sollte es zerreißen, um das Herzzerreißende besser spüren zu können.“

Wolfgang Schlott



Dieter Schlesak: „Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr“. Roman. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2021, 503 Seiten, 29 Euro, ISBN 978-3-86356-346-2.

Schlagwörter: Buchvorstellung, Dieter Schlesak, Roman, Schäßburg

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