3. April 2022

Meisterwerk der europäischen Prosa: Ioana Pârvulescu stellt ihren Roman „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“ vor

Eine zierliche Frau betritt den Saal: Ioana Pârvulescu kam zu ihrer Lesung, die im Rahmen des Begleitprogramms der aktuellen HDO-Ausstellung „Fremd : Vertraut. Hermannstadt : Kronstadt. Zwei Städte in Siebenbürgen, fotografiert von Jürgen van Buer“ stattfand, direkt aus Bukarest. Drei Tage zuvor hatte die Süddeutsche Zeitung mit einer großen Besprechung ihres Romans die Zuhörerschaft auf die Autorin und ihr Thema eingestimmt. „Von Seite zu Seite empfindet man mehr Vergnügen beim Lesen dieses Buches, wachsen einem die Menschen, von denen es erzählt, enger ans Herz. Man möchte mit ihnen wohnen in diesem großen, alten Haus im siebenbürgischen Brasov (Kronstadt), ‚wo die Hunde in drei Sprachen bellen‘“. In Rumänien lag im Februar 2022 der Roman, der 2016 im Humanitas Verlag (Bukarest) erschien, unter den meistverkauften Titeln dieses Verlages auf Platz 2.
Ioana Pârvulescu stellte ihren Roman „Wo die ...
Ioana Pârvulescu stellte ihren Roman „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“ gemeinsam mit Josef Balazs in München vor.
An der Universität der rumänischen Hauptstadt ist Ioana Pârvulescu Professorin für neue Literatur. Geboren wurde sie jedoch 1960 in Kronstadt – rumänisch Braşov, ungarisch Brassó. Will man ganz genau sein, hieß die Stadt damals Orașul Stalin oder Stalin-Stadt. In dieser Stadt spielt auch ihr Roman; im rumänischen Original heißt er „Inocenții“ (Die Unschuldigen) – ihr erstes Werk, das 2021 in deutscher Übersetzung erschien (siehe Besprechung in der Siebenbürgischen Zeitung).

Der freischaffende Autor und Moderator Josef Balazs (Nürnberg), der auch die Ausstellung „Fremd : Vertraut. Hermannstadt : Kronstadt“ kuratierte, begleitete Ioana Pârvulescu durch die Lesung. Ausgewählte Passagen trug die Autorin aus dem rumänischen Original vor, bei der Lesung aus der deutschen Übersetzung gab sie das Wort immer wieder an Gertrud Balazs (Nürnberg) weiter.

„Schriftstellerinnen, die in den Feuilletons der Neue(n) Zürcher Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen ausgiebig besprochen werden, haben es geschafft!“, so Balazs in seinem einleitenden „Nachdenken über Ioana P.“. Dies gelte auch für sie: Die SZ ist neben der FAZ und der NZZ nur eine der großen deutschsprachigen Tageszeitungen, die den Roman aus dem renommierten Wiener Zsolnay-Verlag mit einer ausführlichen Rezension würdigte. Schon der Roman „Das Leben beginnt freitags“ („Viaţa începe vineri“, 2009) hat die Autorin weit über die Grenzen Rumäniens hinaus bekannt gemacht; er liegt inzwischen in über zehn Sprachen vor, darunter auch in einer englischen und einer französischen Übersetzung. Mehrfach wurde sie für ihr Werk ausgezeichnet, zuletzt 2018 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union für ihre Novelle „Die Stimme“ („O voce“).

Ioana Pârvulescu kommt aus der großen Tradition der europäischen Prosa. Ihr Sprachgefühl hat die Autorin an ihren bedeutendsten Vertretern geschult – Rainer Maria Rilke, Antoine de Saint-Exupéry oder Milan Kundera, von denen sie Werke ins Rumänische übersetzt hat. Eine Erklärung, wie sie zu ihrem Roman „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“ gekommen sei, so Pârvulescu auf eine entsprechende Frage des Moderators, finde der Leser im Buch selbst. Genauer gesagt in ihrer Biografie. Mit 21, 22 Jahren habe sie schon einmal den Versuch unternommen, einen Roman zu schreiben, der dem gleichen Thema galt. Das Werk mit dem Titel „Der venezianische Spiegel“ sieht sie heute eher kritisch: Als junger Mensch könne man keinen guten Roman schreiben, es sei denn, man ist Thomas Mann. Fast zehn Jahre brauchte es, bis sie das Thema wiederentdeckte. Die Krankheit ihrer Mutter brachte ihre private Welt ins Wanken. Pârvulescu suchte nach Halt und fand ihn in den „Brüdern Karamasow“ von Fjodor Dostojewski. Ein Satz von Aljoscha Karamasow sei bei ihr hängen geblieben: „Wenn man ins Leben so viele Erinnerungen mit sich nehmen kann, ist der Mensch für sein ganzes Leben gerettet.“ Plötzlich sei ihr bewusst geworden: Auch sie besitze solche Erinnerungen, die sie in ihre Kindheit zurückführen. Sie waren für Pârvulescu psychische Rettung und Ausgangspunkt für ihren Roman – den einzigen unter ihren Romanen, der in Kronstadt geschrieben wurde.

Der Roman vermittelt zahlreiche hervorragend recherchierte Details zur Geschichte Kronstadts, zeichnet sich durch präzise Beschreibungen der Szenerien und Menschentypen der Stadt aus. Dichtung und Wahrheit: Welche Rolle spielen sie in ihrem Werk, fragte Josef Balazs. Der Roman verbinde Authentizität und Fiktion, so die Autorin. Es sei ein Roman über ihre Kindheit. Aus dieser Kindheit stamme auch das Mehrfamilienhaus, in dem die vier Kinder wohnen, aus deren Perspektive das Geschehen geschildert wird. Es sei sowohl Schauplatz der Handlung als auch ihr eigentlicher Hauptakteur. Manche Ereignisse, die darin vorkommen, trugen sich so oder ähnlich zu. Nichtsdestotrotz sei die darin erzählte Geschichte Dichtung.

Dabei sei die Semantik des rumänischen Originaltitels „Inocenții“, „Die Unschuldigen“, so Josef Balazs, eine andere als die der deutschen Übersetzung „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“. Je nachdem, in welcher Sprache er den Roman lese, werde der Leser von Anfang an in einen anderen Rezeptionskontext versetzt. Handele es sich bei dieser unterschiedlichen Titelwahl um eine bewusste Verlagsstrategie? Wohl schon, so Ioana Pârvulescu. „Die Unschuldigen“ war in der Vergangenheit wiederholt auch auf anderen Buchcovern zu lesen. „Wo die Hunde in drei Sprachen bellen“ (es handelt sich um ein Zitat aus dem Roman) klang provokativer, erregte mehr Aufmerksamkeit.

Der rumänische Titel rücke die Frage nach „Schuld“ beziehungsweise „Unschuld“ eines Menschen in den Vordergrund. Dabei handle es sich um problematische Begriffe, und zwar erst recht, wenn es um Kinder geht. So wie man heute weiß, dass Stalin, Hitler und Putin die Bösen sind, haben auch die Kinder von damals verstanden, Gut und Böse zu unterscheiden. Die „Geschichte“ per se sieht die Autorin als eine unheilbringende Macht, die den Menschen entweder schuldig werden lässt oder zerstört. Ausnahmen von dieser Regel seien selten. Dennoch können Kinder weder Verantwortung für das Böse übernehmen noch sich schuldig machen. Kinder, die unschuldig schuldig gemacht werden, sterben zurzeit in der Ukraine. Oder sie kommen mit ihren Eltern als Flüchtlinge in andere europäische Länder. Sie erlebe sie, so Ioana Pârvulescu, derzeit oft am Bahnhof von Bukarest. Wie die Kinder aus ihrem Roman nehmen sie jedoch das Böse, das um sie herum geschieht, nur beschränkt wahr.

Der deutsche Romantitel, darin sind sich Balazs und Pârvulescu einig, katapultiert seine Botschaft ins Multi-Ethnische, ein Charakteristikum der Region Siebenbürgen im Allgemeinen und der Stadt Kronstadt im Besonderen, wo seit vielen Jahrhunderten die „Hunde in drei Sprachen bellen“. Übersetzung sei jedoch immer eine Sinninterpretation und semantische Akzentverschiebung, und ein Übersetzer gleiche, so Pârvulescu den israelischen Schriftsteller Amos Oz zitierend, einem Musiker, der versucht, ein Violinkonzert auf einem Piano zu spielen. Dem Übersetzer ihres Romans, Georg Aescht, der auch andere Werke der rumänischen Literatur wie „Der Wald der Gehenkten“ („Pădurea spânzuraților“) von Liviu Rebreanu ins Deutsche übertragen hat, fühlt sie sich für dessen meisterhafte Leistung besonders verpflichtet. Im Gegenzug meinte Balazs, Aescht sei es gelungen, über den Wechsel vom Rumänischen ins Deutsche hinweg den bildstarken Charakter der Narration wiederzugeben und den Roman auch denjenigen, die nicht „in drei Sprachen bellen“, mit geringem Sinnverlust in einer anderen Sprache zugänglich zu machen.

Lilia Antipow und Josef Balazs


Eine Kurzfassung der Videoaufzeichnung der Lesung finden Sie demnächst in der HDO-Onlinereihe „Autorinnen lesen!“ unter: https://www.youtube.com/watch?v=ePUTnR6ShMY&list=PL7RKX9eh_WfQBx2lPfO_9mbjhncNpu-82

Schlagwörter: Lesung, HDO, Buch, Literatur, Kronstadt

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