15. November 2023

Gusto Gräser – ein „Influencer“ aus Kronstadt/Tagung im Tessin zu „Gusto Gräser und Hermann Hesse”

Ascona/Tessin – Es schüttet wie aus Kübeln. Triefend nass watend durch den rutschigen Morast, entlang hangelnd von Baum zu Baum, dann endlich: ein vorstehender Fels. Der rettende Unterschlupf. Hinter der Feuerstelle ein kleiner Durchgang, anderthalb Meter Durchmesser, auf allen Vieren hindurchkriechen. Die Taschenlampe erleuchtet den schmalen, aber hohen Dom. Hier soll er also sein: der Geist von Gusto Gräser, in seiner berühmten Höhle im Tessin.
Gräser-Tagung im Tessin: erste Reihe vorne (von ...
Gräser-Tagung im Tessin: erste Reihe vorne (von links nach rechts): Janine Botzenhardt (CH), Nani Finkes (D), Dragan Jovanovic (D), Aditi Kumar (GB), Sören Pichotta (CH), Dietmar Gross (Siebenbürgen); zweite Reihe: Helmut Lasaka (D), Walter Holdener (CH), Kimta Roth (D), Marianne Hallmen (CH), Gerlinde Gross (Siebenbürgen); dritte Reihe: Arne Schirkonyer (CH), Freia Homm (CH), Wolfgang Niessner (D), Walter Hitz (CH), Melitta Homm (D), Kurt Hohndorf (D). Foto: Arnold Roth (DE)
Rund 30 TeilnehmerInnen aus Europa nahmen an der ersten internationalen Tagung teil, die Marianne Hallmen, Präsidentin des Vereins der Siebenbürger Sachsen in der Schweiz, in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde in Deutschland einberufen hatte. Thema: „Gusto Gräser und Herman Hesse. Aus Leben wird Dichtung“. Gustav Arthur Gräser, genannt Gusto (1879-1958), entstammte einer wohlhabenden Familie aus Kronstadt. Gemeinsam mit seinen Brüdern Ernst und Karl zog er nach Ascona auf den Monte Verità ins Tessin und gründete eine Siedlung. Dort trafen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zivilisationskritische Aussteiger aus den industrialisierten Ländern Europas mit dem Ziel, eine neue Gesellschaft ohne Zwang und Vorschriften zu schaffen, ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Sie lebten im Einklang mit der Natur, ernährten sich vegetarisch und verzichteten auf die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation. Gusto Gräser war ihr konsequentester Vertreter, Dichterprophet, Philosoph und Maler. Er zog sich in eine Höhle in der Nähe von Ascona in Arcegno zurück, die auch heute noch schwer zu finden ist. Kein Weg dahin ist ausgeschildert. Dort lebte er drei Jahre von dem Wenigen, was die Natur hergab. Er ernährte sich von Kastanien und anderen Waldfrüchten. Seine Gebrauchsgegenstände stellte er aus Holzmaterialien her, die er in seiner Umgebung vorfand. Auf Wanderzügen verstreute er Apfelkerne als Samen für zukünftige Bäume. Sein Beispiel und sein Reden zogen andere Menschen an. Einer von ihnen war der schon berühmte Hermann Hesse (1877-1962), der spätere Literaturnobelpreisträger (1946). Er folgte dem Einsiedler in dessen Felsgrotte im Wald. Ihr dreiwöchiges Zusammenleben inspirierte später die inzwischen 90-jährige Schriftstellerin Eveline Hasler zur bilderreichen Erzählung „Die Felshöhle des jungen Hermann Hesse“. Hesse schwankte zwischen Hingabe und Angst. Nach drei Wochen gab er seine Anstrengungen auf. Doch der charismatische Gusto ließ ihn nicht mehr los. Seine Erfahrungen verarbeitete er in vielen Legenden, Märchen und Romanen, so in „Demian“ (1919), „Siddharta“ und „Glasperlenspiel“ (1943). Einige Ausschnitte aus „Demian“ trug der Schauspieler und Dichter Kurt Hohndorf eindrucksvoll vor.

Die Wanderung folgte den Wegen, die Gräser und Hesse zusammen gegangen waren. Zunächst zur „Oberen Mühle“ bei Ronco; dann zum „Gräser-Haus“ am Fuß des Monte Verità, das leider noch nicht unter Denkmalschutz steht. Weiter führte die Wanderung zur „Casa Anatta“ auf dem Monte Verità, wo auch Gustos berühmtes Gemälde „Der Liebe Macht“ zu besichtigen war. Der Tag wurde im Campo Pestalozzi abgerundet mit einem Vortrag der indisch-britischen Kunsthistorikerin Dr. Aditi Kumar (University of Warwick, UK) unter dem Titel „Hermann Hesse in Indien und die Gräser-Rezeption in seinen Hauptwerken“ und dem berührenden Film „Der Eremit vom Monte Verità“ von Christoph Kühn.

Das Seminar hat einen ersten Einblick in das Wirken des Siebenbürgers gegeben. Gusto Gräsers Einfluss auf Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann und andere Dichter und Denker ist immer noch eine große Forschungsaufgabe. Die Siebenbürger Sachsen werden sich auch künftig mit dem Kronstädter „Influencer“ beschäftigen müssen. Dabei können sie sich auf die umfangreiche Sammlung und die kenntnisreichen Publikationen von Hermann Müller (Freudenstein, Deutschland) stützen, der einen großen Teil des „Nachlasses“ von Gusto Gräser vor kurzem der Siebenbürgischen Bibliothek in Gundelsheim übergeben hat.

Die nächste Tagung findet im Sommer 2024 in Deutsch-Weißkirch statt. Mehr Informationen bei Marianne Hall­men, E-Mail: mhallmen[ät]bluemail.ch, Dietmar Gross, E-Mail: diewe.dwk[ät]gmail.com

Thomas Cieslik, Marianne Hallmen

Schlagwörter: Gusto Gräser, Tagung, Schweiz

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