2. Januar 2006

Die Freiheit war ihm 10 000 Mark wert

Spätsommer 1944. Die ersten Deutschen fliehen vor der heranrückenden Roten Armee. Die Deutschen aus Nordsiebenbürgen gehören dazu. Millionen werden ihnen folgen. Bilder dieser Ereignisse prägen noch die Erinnerung vieler in Deutschland. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn stellt bis 17. April 2006 mit mehr als 1 000 Exponaten nicht nur das unmittelbare Geschehen von Flucht und Vertreibung dar, sondern gibt auch dem vielfältigen Eingliederungsprozess der Menschen in ihrer neuen Heimat breiten Raum.
Die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" wurde Anfang Dezember in Anwesenheit von Bundespräsident Horst Köhler und seiner Frau Eva Luise eröffnet. Zeitzeugen schildern in Interviews ihre Erinnerungen an Flucht und Vertreibung wie auch ihre Lebenswege bis in die Gegenwart. Der Ausstellungsbesucher kann mit Hilfe einer Codekarte an drei Stationen Einzelheiten des Schicksals eines Flüchtlings oder Vertriebenen abfragen. Zur Auswahl stehen den Besuchern "Lebenswege" von 150 Personen, die das Haus der Geschichte in den vergangenen Monaten befragt hat. Zu den Befragten gehört auch J. S. aus dem Harbachtal.

Der 1922 geborene Betriebswirt wird 1943 zur Waffen-SS eingezogen, leistet Kriegsdienst in Jugoslawien und gerät 1945 in Kärnten in englische Gefangenschaft. Fast zeitgleich wird seine Frau nach Russland verschleppt. Nach schwerer Zwangsarbeit im Kohlenbergwerk gelangt sie im Februar 1946 nach Thüringen. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im März 1946 will J. S. zu seiner Frau. Doch als er in Thüringen eintrifft, ist sie schon tot. Weil das zweijährige gemeinsame Kind noch in Rumänien bei den Großeltern lebt, kehrt J. S. heim. Im Januar 1951 heiratet er erneut. Mit der zweiten Frau hat er zwei Kinder. Die Tochter aus erster Ehe reist 1978 in die Bundesrepublik Deutschland aus. 1982 folgt der Sohn der Schwester. Vier Jahre später entschließen J. S. und seine Frau sich, den Kindern zu folgen. Um den Ausreisepass zu erhalten, müssen sie 1987 Schmiergeld bezahlen: 10 000 Mark. Die Familie zieht nach München, wohnt anfangs bei einem Verwandten, dann in einer Mietwohnung. Ein Andenken aus der früheren Heimat ist eine alte Standuhr, die die Familie nach dem Sturz Ceausescus 1990 aus Rumänien herausretten kann.

In der Bundesrepublik fühlt sich J. S. nicht zu Hause. Er empfindet jedoch keine Benachteiligung, es fehlen ihm lediglich die vertrauten Nachbarn. Weil er nicht mehr im Arbeitsleben steht, kann J. S. auch keine neuen Kontakte knüpfen. Doch er und seine Familie haben in den vergangenen fast zwei Jahrzehnten Anschluss gefunden und halten sich für integriert. Er trifft sich mit Landsleuten in der Kirche und auf Heimattreffen, ist an der Herausgabe eines Heimatblattes beteiligt. J. S. sieht es gern, wenn Gottesdienste und Begräbnisse nach alter Art abgehalten werden. Vor der Jahrtausendwende hat er seine Heimatgemeinde besucht und 2000 sogar einen Hilfstransport organisiert. Ferner erfährt der Ausstellungsbesucher: Im Geburtsort von J. S. leben heute noch vier ältere Mitglieder der evangelisch-deutschen Kirchengemeinde. Für den Erhalt von Kirche und Pfarrhaus setzt er sich von Deutschland aus ein. Oft beschäftigt ihn die Vergangenheit, spricht mit seiner Familie darüber und hat diese auch für die Kinder und Enkelkinder aufgeschrieben.

Die Ausstellung wird auch im Deutschen Historischen Museum in Berlin (Mai bis August 2006) und im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig (Dezember 2006 bis April 2007) zu sehen sein. Wer bereit ist, sein Schicksal als Flüchtling oder Vertriebener bekannt zu machen, kann sich an Dr. Messerschmidt im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wenden unter Telefon: (02 28) 9 16 55 36, E-Mail: messerschmidt@hdg.de. Auszufüllen ist ein Fragebogen. Jeder kann entscheiden, ob er seinen Namen bekannt geben oder anonym bleiben will.

jst

Schlagwörter: Ausstellung, Flucht und Vertreibung

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.