19. Februar 2006

Zum Tod des Krebsforschers Arnold Graffi

In Fachwerken ist sein Name neben dem von Kapazitäten wie Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821-1882), Rudolf Virchow (1821-1902), Robert Koch (1843-1910), Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) u.a. zu lesen - legendäre Gestalten der deutschen Medizingeschichte und naturwissenschaftlichen Forschung. Seine Entdeckungen im Bereich der Krebsforschung gelten als bahnbrechend, wobei ihn die Krebserzeugung durch Viren und durch chemische Stoffe vordringlich beschäftigte.
Der am 30. Januar 2006 in Berlin im Alter von 95 Jahren verstorbene Professor Dr. Dr. h. c. Arnold Graffi war das Kind siebenbürgischer Eltern. Am 19. Juni 1910 in Bistritz in Nordsiebenbürgen geboren, begann er Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Marburg mit dem Medizinstudium, das er in Leipzig und Tübingen fortsetzte und abschloss. An der Berliner Charité promovierte er und wurde gleichzeitig Mitarbeiter des durch die Revolutionierung der Lungenchirurgie berühmt gewordenen Sauerbruch.

Verschieden: Prof. Dr. Dr. h.c. Arnold Graffi.
Verschieden: Prof. Dr. Dr. h.c. Arnold Graffi.
In dieser Zeit, 1937-1939/40, begründete er die zytoplasmatische Mutationstheorie der Krebsentstehung; seine Arbeiten über die Einwirkung krebserregender Chemikalien sollten ihn beginnend mit den fünfziger Jahren auch zur Beobachtung möglicher Beteiligung von Viren an der Entstehung von Geschwülsten führen, ein Gebiet, das er ebenfalls schon als Sauerbruch-Assistent betreten hatte. Er setzte seine Forschungen am Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt am Main, danach in Prag, Budapest und - seit 1943 wieder in Berlin - in einem Labor der Schering-AG fort, dem pharmazeutisch-chemischen Unternehmen von Weltruf, gleichzeitige arbeitete er am Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie beim Biochemiker Otto Warburg (1883-1970), der 1931 für seine Forschungen zur Zellatmung den Nobelpreis erhalten hatte.

Arnold Graffis Habilitation im Jahre 1948 an der Humboldt-Universität Berlin fällt in die angespannte und verworrene Zeit der Teilung Deutschlands. Mit seiner Berufung in diesem Jahr ans Akademie-Institut für Medizin und Biologie im Ostteil der Stadt setzte jene kontinuierliche Forschungsarbeit des damals rund Vierzigjährigen ein, die seinen Namen in der internationalen Fachwelt etablieren sollte. Als Abteilungsleiter am Akademie-Institut und später als Instituts-Direktor der großzügig ausgestatteten Niederlassung in Berlin-Buch wurde er dann "zu einem der Wegbereiter der experimentellen Krebsforschung der 20. Jahrhunderts", wie es im offiziellen Nachruf des Max-Delbrück-Zentrums für Molikulare Medizin hieß, das sich - 1992 gegründet - das Akademie-Institut eingegliedert hatte. Von Arnold Graffi entdeckte und nach ihm benannte Viren, die Entwicklung eines Gentherapiekonzeptes, wesentliche Anstöße für Chemotherapieverfahren, eine Mutationstheorie der Krebsentstehung - schon Jahrzehnte v o r den molekularbiologischen Erkenntnissen über die Bedeutung des Erbmaterials bei bösartiger Missbildung aufgestellt - , die Entdeckung einer Reihe tierischer Tumorviren u. a.: Die Aneinanderreihung bezeichnet nur einige der Daten, mit denen der große Mediziner zusammen mit seinen Mitarbeitern, zu denen auch seine Ehefrau Dr. Ingeborg Graffi gehörte, der Krebsforschung und -therapie neue Möglichkeiten eröffnete.

Dass sich das Forschungs-Institut in Berlin-Buch, von Graffi bis zum altersbedingten Ausscheiden 1975 geleitet, in dem nach Muster des Kommunismus total politisierten Staat DDR von den allmächtigen SED-Funktionären ungestört, ja unangetastet wissenschaftlich entfalten durfte, war eine Folge des uneingeschränkten Ansehens, das es genoss. Eine "Insel der Seligen" nannte es einer der früheren Graffi-Mitarbeiter, Dr. Erhard Geißler, im Berliner "Tagesspiegel" am 7. Februar 2006 aus diesem Grund. Die Bezeichnung bezieht ihre Berechtigung freilich nicht allein aus der angedeuteten Abgeschirmtheit gegen Funktionärsanmaßung, sondern ebenso aus der warmherzigen, souveränen Menschlichkeit Arnold Graffis, der den Mut hatte, politisch gefährdete Mitarbeiter unter die Fittiche zu nehmen. Sie strahlte auf die gesamte Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Buch aus, deren Chef und Spiritus rector er war. Wer de Verhältnisse in kommunistischen Staaten einigermaßen kennen lernte, vermag sich die unterschwellige Dramatik der Situation vorzustellen.

Zum freundschaftlichen Verhältnis der am Akademie-Institut Tätigen trug nicht zuletzt die musische Komponente der Persönlichkeit Graffis bei. Denn so zielgerichtet, beharrlich und arbeitsbesessen der Professor Dr. Dr. h.c. Arnold Graffi auf der einen Seite war, so gemütvoll, einfühlsam und für alles Schöne jederzeit ansprechbar begegnete er ausnahmslos jedem Menschen in seiner Umgebung - erst so wurde er ja zu jenem Idealtypus des Mediziners, in dem sich unanfechtbare Wissenschaftlichkeit mit hoher Menschlichkeit paart. Niemand bekam im persönlichen Gespräch mit diesem Mann zu spüren, dass er dem Träger bedeutender öffentlicher Ehrungen gegenübersaß. Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, Paul-Ehrlich-Preis, Helmholtz- und Cothenius-Medaille, Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin, der 1652 gegründeten Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina Halle/Saale, Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig u. a. markieren die Anerkennung seiner Forschungsleistungen. Und als im Jahr 2003 ein mit 18 Millionen Euro errichtetes Labor- und Bioinformatik-Zentrum als Teil des Max-Delbrück-Zentrums eingeweiht wurde, erhielt es den Namen "Arnold-Graffi-Haus", vor dem Mittelgebäude wurde eine Graffi-Büste enthüllt. Die Biotechnikpark auf dem Campus Berlin-Buch zählt zu den größten europäischen Einrichtungen dieser Art.

Das Musische fand bei Arnold Graffi konkreten Niederschlag. Seine auch öffentlich aufgeführten Klavierkompositionen aus den "24 Miniaturen für Klavier", dem "Notenbuch", dem "Album" und anderen - darunter die "Erinnerung an Chopin", die "Russische Impression", die "Etüde II" - eröffnen Einblicke in eine Welt des Klangverständnisses, in der sich sangliche Melodik im Stil der Neuromantik mit perfekter Kenntnis der Harmoniegesetze bis hin zu Diatonik etwa in der Auffassung Francis Poulencs (1899-1963). Graffi bewegte sich dabei zwischen einfachen Kompositionsmustern wie in seinen "Kinderliedern" und dem virtuos konzipierten atonalen pianistischen Versuch wie in den "Sieben Stücken für Klavier". Makellos gebaut, besticht seine Klaviermusik durch unpathetische Transparenz und innere Stimmigkeit, die sich auch bei Ausflügen in enharmonische Bereiche nicht verleugnen.

Gleiches gilt mutatis mutandi für den Aquarellmaler Arnold Graffi. Als er mir bei unserer ersten Begegnung in seinem Gartenhaus in der Frundsberg-Straße in Berlin-Karow einige dieser Originalarbeiten zeigte - Garten-, Straßen-, Wassermotive der Umgebung - und ich beim Anblick der in lasierender Farbfreudigkeit vor mir liegenden Blätter die Anmerkung machte, dass mich Auffassung und Technik der Arbeiten an Siebenbürgens Meisteraquarellisten Heinrich Schunn (1898-1984) erinnerten, über den ich 1983 ein Buch veröffentlicht hätte, brach er fast fassungslos in den Ausruf aus: "Das war mein Lehrer in Bistritz! Von ihm habe ich malen gelernt!" Aquarelle wie "An der Löcknitz bei Erkner" von 1959, "Steilküste an der Ostsee bei Wustrow" von 1962 oder "Straße nach Biesental" von 1995, die neben anderen im Sommer 1995 in einer Ausstellung im Foyer des Klinikums Benjamin Franklin am Hindenburgdamm in Berlin zu sehen waren, weisen auch nicht den Anhauch des Dilettantischen auf. So wie die geglückten Klavierkompositionen sind auch die geglückten Aquarelle Graffis nicht nur Belege eines beachtlichen Kunstkönnens, das über weite Strecken vergessen lässt, dass ihr Schöpfer von Beruf weder Musiker noch Maler war - es sind ebenso Zeugnisse einer lauteren, mit sich selber von Grund auf in Übereinstimmung lebenden unwankelmütigen Menschlichkeit.

Dazu gehörte die heitere Selbstsicherheit, mit der dieser große Mann jenseits der Phrase und Sentimentalität seiner Herkunft verbunden war. Im Gespräch über den Ursprung des Familiennamens "Graffi" berichtete er schmunzelnd, dass er "nur noch im Venezianischen" zu finden sei, "können S i e sich vorstellen, was den ersten Graffi dorther nach Bistritz trieb?" fragte er mich lachend. Als auf meine geheime Anfrage zu DDR-Zeiten über eine Verwandte in West-Berlin die Rede kam, ob er - ohne sich politisch zu gefährden - den Kulturpreis der Siebenbürger Sachsen anzunehmen bereit sei - was er mit dem Vorbehalt begrüßte, nicht am Verleihungsort Dinkelsbühl erscheinen zu müssen -, sagte er sehr nachdenklich: "Es stand zuviel auf dem Spiel. O nein, ich meine nicht mich! Ich meine die Forschungsarbeit in Berlin-Buch ... Aber ich werde es nicht vergessen, dass Sie an mich dachten." 1979 erhielt er den Preis in Abwesenheit. Er bedankte sich bei mir - damals Vorsitzender des Preisgerichts - in einem "durch Güte" zu mir gelangten Brief, den ich als Zeitdokument aufbewahre. Gezeichnet vom hohen Alter und von der Krankheit bedauerte er es, die Veranstaltungen seiner Landsleute in Berlin nicht mehr besuchen zu können. Die Gastfreundschaft unter der behutsamen Obhut seiner Gattin Ingeborg im Haus in der Frundsberg-Straße war von menschlichem Takt, Klugheit und Herzenswärme geprägt.

Vergleichbar seinem um 16 Jahre älteren Landsmann Hermann Oberth (1894-1989), war auch Arnold Graffi, der andere große Siebenbürger unter den Naturwissenschaftlern, von einer Bescheidenheit, die ebenso Achtung abnötigte wie seine überragende wissenschaftliche Lebensleistung.

Hans Bergel

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 3 vom 20. Februar 2006, Seite 7)

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Schlagwörter: Porträt, Medizin, Nachruf

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