22. Juni 2006

"Die Russen kommen! " Erschütterndes Filmzeugnis eines siebenbürgischen Wendepunkts

Günter Czernetzkys Idee ist einleuchtend und faszinierend zugleich: Der begabte siebenbürgisch-sächsische Filmemacher aus Schäßburg will auch mit seinem Film "Die Russen kommen! - Schicksal der Siebenbürger Sachsen aus Nordsiebenbürgen" erlebte Geschichte medial auf hohem Niveau erfahrbar machen. Und dies gelingt ihm imposant. Der Regisseur produziert dabei ein thematisch abgerundetes lebensgeschichtliches Netz erster Güte. Einschneidende, unauslöschbare Erlebnisse ihrer Kindheit, überlagert von grundlegenden Erkenntnissen und Lebenserfahrungen breiten etwa dreißig betagte Zeitzeugen im Film "Die Russen kommen" ruhig und unaufgeregt vor der Kamera aus und lassen uns Zuschauer nachvollziehen, was an einem markanten historischen Wendepunkt in Nordsiebenbürgen 1944/1945 geschah.
Frauen und Männer, die bei Kriegsende vorwiegend ca. 10 bis 20 Jahre alt waren - neuerdings Teenager genannt -, bringen in dem Film eigene Wahrnehmungen ungewöhnlicher Art zur Sprache, informieren und mahnen uns zugleich. Darüber hinaus geben die Interviewten Auskunft über ihre Einstellungen und ihr Verhalten in tragischer Zeit und über den Umgang mit der Vergangenheit nach 1945. Es finden sich dabei in beträchtlichem Maße noch heute nachwirkende traumatische, oft auch aktuell noch bedrängende Evakuierungserlebnisse. Stellvertretend für die bewegenden, zum Teil erschütternden Aussagen im Film sei diejenige von Michael Groß, geboren 1928 in Dürrbach, hier erwähnt: "Ich dachte, in deinem Leben kannst du nie mehr froh werden."


Günter Czernetzky, geboren 1956 in Schäßburg, seit 1989 Freier Dozent, Autor, Regisseur und Produzent, befragte mehr als 50 Zeitzeugen für diesen 58minütigen Videofilm, der am 11. September 2004 im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg uraufgeführt wurde. Für diese Veranstaltung hatte ihn das Hilfskomitee der Siebenbürger Sachsen und evangelischen Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD in Auftrag gegeben. An der Finanzierung beteiligten sich auch das Haus des Deutschen Ostens in München, das Haus der Heimat in Nürnberg, die Siebenbürgisch-Sächsische Stiftung, der Siebenbürgisch-Sächsische Kulturrat und die Heimatortsgemeinschaft Lechnitz.

Günter Czernetzky verknüpft gekonnt und einprägsam durch eine einfache, sehr geschickte Menüführung tief im Gedächtnis der Erlebnisgeneration eingegrabene Einzelerlebnisse aus der Biographie der Zeitzeugen mit dem gesamthistorischen Fluss. Die sparsamen Einblendungen von Fotos, Fließtexten, Landkarten, Grafiken und ganz besonders von zeitnahen Bild- und Tondokumenten (vorwiegend aus NS- oder rumänischen Propagandawochenschauen) erleichtern nicht nur die saubere Einordnung der erzählten Geschehnisse, sie verweisen in der Art ihrer Handhabung auch auf den ausgeprägten künstlerischen Impetus bei Günter Czernetzky. Als Regisseur - etwa von Strauss' Zigeunerbaron, Schnitzlers Reigen, Goethes Urfaust oder aktuell von Luftwurzeln nach einem Text von Joachim Rocholl und Musik von Hans Peter Türk - sowie zahlreicher Filme (Sabbat, 1981, Die Meuterer, 1982, Liebesblut, 1983-85, Yma Sumac, Hollywood's Inkaprinzessin, 1988-90, Siebenbürgen - Auf den Spuren eines Pfarrers, 1992, Donbass - Sklaven, Verschleppte Deutsche erinnern sich, 1992, Arbeitssklaven unter Hitler und Stalin, 1993, Workuta 1953, Rebellion im Straflager, 1993, Wunden - Erzählungen aus Transsilvanien, 1992-94, Stalingrad an der Donau, 1994-1995, Gefangen + Verurteilt - Spätheimkehrer erinnern sich, 1996, Deutsche im GULAG, 1997, Schicksal der Donauschwaben mit Co-Autorin A. Beyer, 1998, Deutsche Spezialisten für Stalin, 1997-98, Deutsche Experten in Ägypten - Waffen für Nasser, 1998, KATH.taubenbriefe (Künstlerportrait Katharina Zipser), 1999, Vermisst, Verschollen, Vergessen - Auf der Suche nach dem Vater, 2000, 50 Jahre - BG Unfallklinik Murnau, 2003, Kommando Himmelfahrt - z.b.V. 800 - "Die Brandenburger", 2000-2003, Haus der Heimat - Nürnberg, 2005) gelingt es dem gerade 50-jährigen Autoren in besonderer Manier, exaktes Recherchieren mit aussagekräftigem Zusammenfügen zu verbinden und daraus ein wahres Dokukunstwerk mit starker ästhetischer Ausstrahlung zu schaffen. Ein kundiger Experte, ein konsequenter Mahner, ein wirklicher Meister seines Fachs, dieser Günter Czernetzky.

"Die Russen kommen", thematisch klug gegliedert, mit expressiver, passender Musik untermalt, beleuchtet anschaulich und im Gesamtzusammenhang gut nachvollziehbar das Erleben der Nordsiebenbürger Sachsen ab dem Wiener Schiedsspruch 1940 mit den Auswirkungen des seit 1941 tobenden Krieges gegen die Sowjetunion, der Rekrutierung von echten und so genannten Freiwilligen für die Waffen-SS, dem Schicksal der Juden in Nordsiebenbürgen, den Folgen des 23. August 1944 für das Deutsche Reich und Siebenbürgen, der Evakuierung von ca. 40 000 Deutschen aus 53 nord- und mittelsiebenbürgischen Orten im Herbst 1944, dem Weg durch Ungarn, der Ankunft im "Reich", der zweiten Flucht im Frühjahr 1945 und der "Heimkehr" von rund 7 000 Deutschen nach Siebenbürgen im Sommer 1945.

Im Gedenkgottesdienst am 12. September 2004 in der Sebalduskirche in Nürnberg fasste Pfarrer Kurt Franchy sehr treffend das Geschehen vor 60 Jahren in Nordsiebenbürgen zusammen, als er betonte: "Als unsere Seele aus dem Taumel irrer Wege zur Ruhe gekommen war und wir nur noch in unseren Kirchen Zuflucht fanden, merkten wir, dass Gott uns nicht verlassen hatte, obwohl viele, unsere völkische Elite voran, ihn verlassen und verleugnet hatten. Er schenkte uns, auch wenn es uns sehr große Anstrengung und viel Bescheidenheit abverlangte, einen neuen Anfang." Der bewegende Film von Günter Czernetzky unterstützt ähnlich in besonderem Maße auch die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit europäischer Zeitgeschichte und Gegenwart. Er erlaubt uns nach einem schonungslosen Blick in die Untiefen deutscher Verwirrung im 20. Jahrhundert ein selbstbewusstes Aufrichten im Angesicht der würdevollen Leistung der einzelnen Leidgeprüften unserer damaligen Erlebnisgeneration.

Horst Göbbel

Der Film "Die Russen kommen" kann zum Preis von 15 Euro als Videokassette (VHS) bzw. 20 Euro als DVD bei der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, Karlstraße 100, 80335 München, oder bei Günter Czernetzky, E-Mail: gunterczernetzky@aol.com, bestellt werden. Achtung: Die Auslieferung erfolgt erst im Herbst 2006.(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 15. Mai 2006, Seite 7)

Schlagwörter: Film, Nordsiebenbürgen

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