2. Oktober 2006

Dieter Schlesaks neue Liebesgedichte

Sechs Jahre nach dem Band „Lippe Lust“, der erotische Texte versammelte, hat Dieter Schlesak nun einen Band Liebesgedichte veröffentlicht, der nicht sexuelle Erfahrungen in den Mittelpunkt dichterischer Auseinandersetzung rückt, sondern vielmehr existenziellen und metaphysischen Aspekten der Liebe nachgeht, deren Mysterium seit Menschengedenken eine kreative Herausforderung darstellt: „Herbst Zeit Lose“ ist 2006 in der „Lyrik Edition 2000“ der Buch & media GmbH in München erschienen, 172 Seiten, ISBN 3-86520-185-7, 17,50 Euro.
Es ist ein nahezu biblisches Liebeskonzept, das Dieter Schlesaks neuen Gedichtband prägt, wie es der erste Korinther-Brief des Apostels Paulus, Vers 12 und 13, umreißt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort ... Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Denn der Autor blickt – jenseits von lust- und leidvoll erfahrener Nähe bzw. Ferne der Geliebten – vor allem in den Spiegel der Wörter, mit denen er – jenseits von üblichen Schreibprozessen – auch Dimensionen außerhalb von Ort, Raum und Zeit heranzuholen sucht: „Einsammeln hier in der wartenden Zeile / Strandgut aus kosmischen Fernen / Und du mit mir umarmt weich im Sand / Im Hier zwei Einsamkeiten gelandet“ (S. 42). Die Liebe offenbart sich ihm als vitale wie als universale Kraft, als das Leben selbst, wie bereits das zweite Gedicht des Bandes, das zudem den gleichen Titel „Herbst Zeit Lose“ trägt, gewissermaßen programmatisch festhält: „Bist du der Weg und der Flug der ihn nimmt? / Weißt du / Liebe ist Leben für immer // Du es brennt dieses ewige Licht HIER / Wenn die gestohlene Zukunft / Als Sein wiederkehrt // Für dich mein Herz du geöffnetes Lid / Zum neu entdeckten sich häutenden / Land hier / Nah unter der warmen Haut“ (S. 10).

Die Gleichsetzung der Liebe mit dem Leben rückt sie zwangsläufig in den Gegensatz zum Tod, der sich allerdings als ihr Pendant nicht ohne Weiteres ausklammern lässt – vor allem wenn, mal abgesehen von der tradierten mythologischen Eros/Thanatos-Konstellation, der Herbst des Lebens die Sicht der Dinge bestimmt und zur Abschiedsfähigkeit mahnt: „Was sich jetzt hier ereignen kann / Hat kaum noch feste Ränder. / Und schon ist’s ausgespannt. / Entschlossen weich nimmt mich die Nacht / An ihre Wange. / Groß wie ein Echo könnte dieses Abnehmen jetzt sein / das in Bereitschaft steht mit Abschiedsrühren“, hält das Gedicht „Ein Stillstand schwer“ fest (S. 152–153). Der innere Reifeprozess des Los-Lassens, den die Liebe mutatis mutandis in Gang setzt, spielt nicht nur in den einzelnen Texten eine zentrale Rolle, er liegt auch der thematischen Gliederung des Buches zugrunde, die mit „Zeit Los“ anhebt und sich über Kapitel wie „Komm, Geliebte, küss mir den Schlaf vom Lid“, „Zu Hause Sein“, „Wortliebe“ und „Das was uns sein lässt, vernichtet uns auch“ bis zum abschließenden „Aber der Tod ist nicht bei Trost“ spannt.

Doch das letzte Wort hat in diesen Gedichten nicht die Vergänglichkeit, sondern eine metaphysische Seinsgewissheit, die alles aufhebt und in der alles aufgehoben ist, wobei Schlesak den Begriff Gott zu meiden sucht und sich auf das groß geschriebene Personalpronomen „Er“ als sprachlichen Notbehelf beschränkt: „Vergänglichkeit ein Spalt / da tritt Er ein / ein unsichtbares weißes Blatt / das sich im Löschen / zeigt“, heißt es etwa im Gedicht „Schwarzes Buch“ (S. 63). Und „Nie endet das Leben mit dir“ hält fest: „Wartezeit / noch immer / tickt die Welt-Uhr tickt / in meinem Hirn / im Herzen aus der Schrift / als könnten mich kleine Buchstaben Augen / retten / tickt die Uhr im Gehör das Sausen / des Windes der Grillen nachts tickt Er in allem“ (S. 65).

Die schönsten, weil dichtesten Texte dieses Bandes sind allerdings nicht jene, in denen Schlesak das Numen, die „Absenz“ – in welcher Erfahrungsvariante auch immer – poetisch zu fassen strebt, sondern jene, in denen ,Frau Welt‘ als ,Große Hure Babylon‘ ihre unausweichliche Präsenz behauptet und ihren Preis fordert – sei’s als Heimatverlust wie in den Gedichten „Transsylvanien mit dir“ oder „Grün unter einer Kugel“, sei’s als Geschichtsverlust wie in den lyrischen Szenarien „Todtnauberg“ oder „Ein Stillstand schwer“.

In solch realen Kontexten vermag das neue, überraschende poetische Credo des Autors durchaus zu überzeugen, mit dem das Gedicht „Abschied“ beginnt: „Es gibt eigentlich nur Liebesgedichte alles / Andere fällt aus den Zeilen wie Schutt“ (S. 106). Denn die Liebe setzt ein Gegenüber voraus, das sich greifen und begreifen lässt – also Welt. Und der galt bislang Schlesaks gesteigertes Interesse, das sich keineswegs auf sein oft unbequemes politisches Engagement beschränkte. Gegen sogenannte letzte Fragen bzw. Wahrheiten ist zwar per se nichts einzuwenden, entspringen sie doch ebenfalls der Auseinandersetzung mit dem Allzumenschlichen und Allzuweltlichen – doch wenn sie das lyrische Feld behaupten, dann schwindet das ,Fleisch‘ von den Rippen der Gedichte, sie verlieren ihren doppelten Boden und drohen in esoterischen Gemeinplätzen zu versacken. „Zusammen zum Wesen der Dinge?“ (S. 91) mag also eine bedenkenswerte metaphysische Fragestellung sein, die gleich des eingangs zitierten Bibeltextes zur Exegese herausfordert – ihre poetische Tragweite aber kann mit der eschatologischen nicht Schritt halten.

Edith Konradt

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 15 vom 30. September 2006, Seite 7)

Schlagwörter: Rezension, Gedichtband

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