2. September 2008

Deformierung der Köpfe und Charaktere

Hans Bergel hat die Dokumentation „Chronologie und Geografie der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien. Zählung der zwangsinternierten Bevölkerung 1945-1989“ von Romulus Rusan übersetzt. Das Ergebnis langjähriger Studien in Archiven, Bibliotheken, Zeitungskollektionen, Privatkorrespondenzen u.Ä. ist das bestürzende Bild der Bukarester Diktatur, das neben einer Menge erregender Daten auch die Tarnungsstrategien des Regimes enthüllt.
Wer eine leicht fassliche Dokumentation der 45 Jahre Kommunismus zur Hand haben will, ist gut beraten, die preisgünstige Publikation zu erwerben! Bergel ergänzte eine Reihe Fußnoten und die Kurzbiographien der beiden Siebenbürger Rudolf Brandsch und Hans Otto Roth, beide im Kerker verstorben, und schrieb ein Vorwort, das wir unten nachdrucken.

Die Studien „Chronologie und Geografie der kommunistischen Unterdrückung” und „Zählung der zwangsinternierten Bevölkerung 1945-1989“ des Bukarester Forschers Romulus Rusan eröffnen in ihrer synoptischen Dichte einen Einblick in Wesen und Absicht der über fast fünf Jahrzehnte ausgedehnten kommunistischen Zerstörungsherrschaft in Rumänien, wie es ihn bisher nicht gab. Romulus Rusan bündelte die Ergebnisse schwieriger Nachforschungen zu knappen und übersichtlichen Zusammenfassungen. Sie wecken nicht allein das Interesse an der jüngsten, unglücklichen Geschichte des Landes, sondern zugleich am Phänomen Kommunismus als politischer Alltagspraxis. Die beiden Studien sind über den konkreten Fall hinaus ein Handbuch zur Einführung in die Techniken der diktatorischen Folterkammer, ein Blick ins Laboratorium par excellence skrupellos umgesetzter politischer Macht.

Dass der Autor beim Bemühen um die Datenerforschung, bei den Versuchen, sich Zutritt zu Archiven und Einblick in unbekannte Dokumentensammlungen zu verschaffen, immer wieder auf Schwierigkeiten stieß, macht das Ausmaß an Präsenz kommunistischer Machterben und die verbreitete Neigung zur Vergangenheitsverdrängung in der postrevolutionären Gesellschaft sichtbar. Die Erscheinung ist allgemeiner Natur, Kenner beobachten sie in allen Ländern des ehemaligen sowjetischen Staatenblocks.

Rusans Darlegungen gipfeln in der Erkenntnis, dass sein Land dank der kommunistischen Diktatur brutal aus der Bahn jener freien Entwicklung geworfen wurde, die in den Ländern des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg möglich war. Sie erheben „Anklage gegen ein Verbrecherregime, das uns für die Dauer eines halben Jahrhunderts von Europa losriss und alles tat, uns vergessen zu lassen, wer wir sind ...“ Die Anklage ergibt sich von selbst aus den – schauerlichen – Mitteilungen, die sich in den Studien aufgezeichnet finden. Vieles im amorphen Bild des heute um inneres Gleichgewicht und Selbstverständnis ringenden Landes geht auf die destruktive, die moralische Substanz ruinierende Gewalttätigkeit und Hinterhältigkeit des Kommunismus zurück, deren Ziel die Zerstörung der Charaktere war. Wer Rumäniens derzeitige spezifische Problematik im Kontext der ohnehin mühsamen europäischen Vereinigung richtig beurteilen will, wird sich die Auswirkungen davon vergegenwärtigen müssen: Für ein Land, das über lange geschichtliche Zeitspannen hinweg bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein immer wieder Spielball überlegener politischer und militärischer Mächte war und dabei nicht nur territoriale Umwandlungen erfuhr, sondern mehr noch fast pausenlos seelischen und geistigen Verunsicherungen mit den dazu gehörenden extremen Reaktionen ausgesetzt war, bedeutete der kommunistische Eingriff in seine Existenz die kardinale Erschütterung der ethischen Grundlagen und deren Vergiftung bis in unsere Tage.

Das Interesse an Europa schließt primär unser Interesse an dessen Geschichte ein; zu ihr gehört als eine der kontinentalen Katastrophen des 20. Jahrhunderts der Kommunismus. Eine der krudesten und charakteristischsten kommunistischen Varianten wurde in Rumänien exerziert. Daher lässt sich an diesem Beispiel das Repertoire der Mechanismen seiner Ausübung in klassischer Weise veranschaulichen; Rusans Studien machen es eindringlich bewusst. Als ich sie am Tag nach ihrer öffentlichen Präsentation durch den Autor im Rahmen der Bukarester Internationalen Buchmesse im November 2007 las, festigte sich der Entschluss – nachdem eine französische und englische Fassung bereits vorlagen – , sie zu übersetzen, weil zur Information über die jüngsten Ereignisse auf unserem Kontinent die Kenntnis der rumänischen Vorgänge gehört: als eine der Spielformen möglicher Machtausübung in Europa und deren verheerenden Folgen nicht nur als wirtschaftliche Verwüstung, sondern vor allem als Deformierung der Köpfe.

Hans Bergel

Romulus Rusan: „Chronologie und Geografie der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien. Zählung der zwangsinternierten Bevölkerung 1945-1989.“ Aus dem Rumänischen mit Ergänzungen: Hans Bergel, Broschur, 143 Seiten, Tabellen, Karten, etc. Fundația Academia Civică, Bukarest, und Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München, 2008. ISBN 978-973-8214-41-5, 4,50 Euro. Zu beziehen über: IKGS-München, Halskestraße 15, 81379 München.

Schlagwörter: Kommunismus, Neuerscheinung

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Neueste Kommentare

  • 02.09.2008, 22:57 Uhr von Don Carlos: Avant la lettre und ohne zu wissen, ob und wann die oben bekannt gegebene Publikation von Romulus ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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