26. Juli 2009
Ingmar Brantsch erinnert sich: „Ich war kein Dissident“
Der Schriftsteller Ingmar Brantsch (Jahrgang 1942) lebt seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor war er Deutsch- und Rumänischlehrer in Kronstadt und hatte als Lyriker Erfolge erzielt. Über seine Erfahrungen als Lehrer in der Bundesrepublik und als Opfer eines bundesdeutschen Justizirrtums hat er zuletzt von sich hören lassen. Diesmal geht es ihm um seine Kindheit und Jugend im siebenbürgischen Kelling und in Kronstadt, Schulbesuch, Studium, seine Tätigkeit im Haus der Presse in Bukarest und als Lehrer in Kronstadt.
Durch den Titel „Ich war kein Dissident“ ist das Ziel vorgegeben: Der Autor will sich von all jenen absetzen, die sich im Westen als Widerständler gegen die kommunistische Diktatur präsentieren, obwohl sie – wie Brantsch und viele andere – dem Bukarester Regime Tribut gezollt hatten. Brantschs Hauptaugenmerk bei der provokanten Formulierung gilt Mitgliedern der Aktionsgruppe Banat, deren inszenierte Selbstdarstellung er nicht zum ersten Mal entlarven will. Während präzise über die Ereignisse in Rumänien berichtet werden soll, wird auf intimste Details eingegangen, die belegen wollen, dass Brantsch selbst nicht aus politischen Gründen und nicht als Dissident handelte, sondern sich – wie die meisten Deutschen in Rumänien –, als er in Rumänien lebte, den dort herrschenden Normen angepasst hat.
Die Darstellung verläuft auf drei Ebenen: der individuellen, deren Glaubwürdigkeit kaum anzuzweifeln ist; der gesellschaftlichen Zusammenhänge, wo das Bildungssystems besonders beachtet wird; der publizistischen und literarischen Präsenz der deutschen Minderheit. Die ersten beiden Ebenen werden innerhalb der in letzter Zeit zunehmenden Memoirenliteratur der Deutschen aus Rumänien Anhaltspunkte liefern, die Soziologen, Historiker, Mentalitätsforscher dann heranziehen werden, wenn sie versuchen, jenseits der Einzelfälle soziale und politische Verhaltensweisen im kommunistischen Rumänien genauer zu bestimmen. Das literarische Leben in Kronstadt und Bukarest, an dem Brantsch vom Ende der fünfziger Jahre bis zu seiner Ausreise aktiv beteiligt war, ist ein besonderer Anziehungspunkt der vorliegenden Ausführungen. Auch hier wird ein Vergleich mit ähnlichen Darstellungen letztlich zu einem überprüfbaren Gesamtüberblick führen können.
Bei den biographischen Details ist eine Kontinuitätslinie vorhanden: Brantsch stellt seine Außenseiterrolle dar, in die er nach eigener Ansicht schon aufgrund seiner Körpergröße gedrängt wurde. Seine kontinuierlichen gesundheitlichen Probleme kommen hinzu und so findet man immer neue Belege dafür, dass der Sich-Erinnernde tatsächlich – zwar nicht aus politischen Gründen – zu Protesten gegen Ungerechtigkeit und Unwahrheiten gezwungen gewesen wäre. Demnach doch eine Art genetisch bedingten Außenseitertums, das man eventuell als Synonym zum Dissidenten setzen könnte? Unter Verzicht auf Schwarz-Weiß-Urteile werden bei sich selbst, bei anderen, in den gesellschaftlichen Beziehungen Gegensätze erkannt und Widersprüche festgehalten. Klischees werden aufgezeigt und sollen durch Wissen und konkrete Information ersetzt werden. Die Vorstellung, dass es zwischen Deutschen und Rumänen vorgegebene Unterschiede im alltäglichen Verhalten gibt, entkräftet Brantsch, der aus der deutschen Schule in die rumänische übergewechselt war, durch eigene Erlebnisse. Auch das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen in den Bukarester Studentenheimen lässt die Erkenntnis zu, dass Unterschiede zwischen Menschen nicht in erster Linie durch ethnische Unterschiede bedingt sind. Wenn es trotzdem in Kronstadt und Bukarest ein Nebeneinander der ethnischen Gruppen gibt, die einander zwar begegnen, aber sich wenig kennen, ist dies nicht ganz neu, wird aber an Exempeln veranschaulicht.
Dass überall und auch in jedem Einzelnen Gut und Böse nebeneinander existieren, verdeutlicht der Autor häufig: Dieter Schlesak soll als Germanistikstudent auch unrühmliche Auftritte gehabt haben, als Literaturredakteur aber gesteht ihm Brantsch zu: „Ohne Dieter Schlesak hätte es eine fünfte deutsche Literatur von diesem ernstzunehmenden europäischen Format wohl kaum gegeben“ (S. 203). Da Brantsch selbst die Zeit von 1959 bis 1971 am besten kennt, versucht er vor allem die Besonderheiten des Übergangs der Neuen Literatur von stalinistischen zu europäisch-modernen Positionen darzulegen, und betrachtet Schlesak als denjenigen, der die wichtigsten Impulse vermittelte. Das ist – wie vieles in den Erinnerungen – eine subjektive Deutung, die einiges für sich hat, aber ergänzt werden kann. Die Hinweise auf die Entwicklungen der deutschsprachigen Literatur Rumäniens in den sechziger Jahren verdienen in diesem Buch eine besondere Beachtung. Ebenso die Ausführungen über die Karpatenrundschau und deren Vorläuferin, die Kronstädter Volkszeitung. Das Hintergrundwissen des Teilnehmers an den kleinen und großen Ereignissen der einzelnen Redaktionen wird mit dem Mut zum Risiko präsentiert. Wie viel subjektive Betrachtungsweise, wie viel objektive Faktenwiedergabe ist, wird sich im Laufe der Zeit herausstellen.
Erinnerungen haben vor allem dann, wenn sie sich auf relativ weit zurückliegende Lebensperioden beziehen, den Vorteil, dass sich Ältere peinlich genau an alle möglichen Details erinnern; und sie haben den Nachteil, dass manche unumstößlich erscheinenden Erinnerungen bearbeitungsbedürftig sind. Eine Neuauflage sollte das berücksichtigen. Es gibt nämlich Fälle, bei denen die eigene Erinnerung täuscht: Jean Livescu war nicht Jan L., und obwohl er eine Arbeit über Grimmelshausens Simplicissimus als Entwicklungsroman publiziert hatte, war diese keineswegs seine Doktorarbeit. Die Promotionsschrift aus dem Jahre 1942 beschäftigte sich mit dem Petrarkismus in der deutschen Lyrik des 18. Jahrhunderts. Es ist wenig plausibel, dass Livescu wegen seiner angeblich jüdischen (?) Herkunft vor 1945 verfolgt wurde. Seine Promotion konnte er mitten im Krieg in Straßburg bestreiten, was einem Verfolgten kaum möglich gewesen wäre. Livescus Kollege in Bukarest, Ernst Maria Flinker (1899-1970), stammt sicher nicht aus Prag, sondern aus Czernowitz, hatte allerdings, wie andere Bukowiner, 1916 bis 1917 die Schule in Prag besuchen müssen, weil Czernowitz im Ersten Weltkrieg mehrfach von den Russen besetzt war.
Wir begnügen uns mit dem einen Beispiel. Ähnliche Erinnerungslücken sollten ausgemerzt werden. Dies gilt ebenso für viele der rumänischen Redewendungen oder Sprichwörter, die der Autor gewissenhaft ins Deutsche übersetzt: auch in diesen Beispielen sollte man Fehler beseitigen, die der junge Ludwigsburger Pop-Verlag übersehen hat. Eine Neuauflage verdient dieses mit vielen ironischen und humoristischen Einsprengseln versehene Erinnerungsbuch von Ingmar Brantsch auf jeden Fall. Es regt dazu an, Klischees zu hinterfragen, kurz: die kollektive Erinnerung anhand subjektiver Berichte immer wieder neu zu überdenken, eigene wie fremde Fehler zu korrigieren. Das tut dann allen gut.
Die Darstellung verläuft auf drei Ebenen: der individuellen, deren Glaubwürdigkeit kaum anzuzweifeln ist; der gesellschaftlichen Zusammenhänge, wo das Bildungssystems besonders beachtet wird; der publizistischen und literarischen Präsenz der deutschen Minderheit. Die ersten beiden Ebenen werden innerhalb der in letzter Zeit zunehmenden Memoirenliteratur der Deutschen aus Rumänien Anhaltspunkte liefern, die Soziologen, Historiker, Mentalitätsforscher dann heranziehen werden, wenn sie versuchen, jenseits der Einzelfälle soziale und politische Verhaltensweisen im kommunistischen Rumänien genauer zu bestimmen. Das literarische Leben in Kronstadt und Bukarest, an dem Brantsch vom Ende der fünfziger Jahre bis zu seiner Ausreise aktiv beteiligt war, ist ein besonderer Anziehungspunkt der vorliegenden Ausführungen. Auch hier wird ein Vergleich mit ähnlichen Darstellungen letztlich zu einem überprüfbaren Gesamtüberblick führen können.
Bei den biographischen Details ist eine Kontinuitätslinie vorhanden: Brantsch stellt seine Außenseiterrolle dar, in die er nach eigener Ansicht schon aufgrund seiner Körpergröße gedrängt wurde. Seine kontinuierlichen gesundheitlichen Probleme kommen hinzu und so findet man immer neue Belege dafür, dass der Sich-Erinnernde tatsächlich – zwar nicht aus politischen Gründen – zu Protesten gegen Ungerechtigkeit und Unwahrheiten gezwungen gewesen wäre. Demnach doch eine Art genetisch bedingten Außenseitertums, das man eventuell als Synonym zum Dissidenten setzen könnte? Unter Verzicht auf Schwarz-Weiß-Urteile werden bei sich selbst, bei anderen, in den gesellschaftlichen Beziehungen Gegensätze erkannt und Widersprüche festgehalten. Klischees werden aufgezeigt und sollen durch Wissen und konkrete Information ersetzt werden. Die Vorstellung, dass es zwischen Deutschen und Rumänen vorgegebene Unterschiede im alltäglichen Verhalten gibt, entkräftet Brantsch, der aus der deutschen Schule in die rumänische übergewechselt war, durch eigene Erlebnisse. Auch das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen in den Bukarester Studentenheimen lässt die Erkenntnis zu, dass Unterschiede zwischen Menschen nicht in erster Linie durch ethnische Unterschiede bedingt sind. Wenn es trotzdem in Kronstadt und Bukarest ein Nebeneinander der ethnischen Gruppen gibt, die einander zwar begegnen, aber sich wenig kennen, ist dies nicht ganz neu, wird aber an Exempeln veranschaulicht.
Dass überall und auch in jedem Einzelnen Gut und Böse nebeneinander existieren, verdeutlicht der Autor häufig: Dieter Schlesak soll als Germanistikstudent auch unrühmliche Auftritte gehabt haben, als Literaturredakteur aber gesteht ihm Brantsch zu: „Ohne Dieter Schlesak hätte es eine fünfte deutsche Literatur von diesem ernstzunehmenden europäischen Format wohl kaum gegeben“ (S. 203). Da Brantsch selbst die Zeit von 1959 bis 1971 am besten kennt, versucht er vor allem die Besonderheiten des Übergangs der Neuen Literatur von stalinistischen zu europäisch-modernen Positionen darzulegen, und betrachtet Schlesak als denjenigen, der die wichtigsten Impulse vermittelte. Das ist – wie vieles in den Erinnerungen – eine subjektive Deutung, die einiges für sich hat, aber ergänzt werden kann. Die Hinweise auf die Entwicklungen der deutschsprachigen Literatur Rumäniens in den sechziger Jahren verdienen in diesem Buch eine besondere Beachtung. Ebenso die Ausführungen über die Karpatenrundschau und deren Vorläuferin, die Kronstädter Volkszeitung. Das Hintergrundwissen des Teilnehmers an den kleinen und großen Ereignissen der einzelnen Redaktionen wird mit dem Mut zum Risiko präsentiert. Wie viel subjektive Betrachtungsweise, wie viel objektive Faktenwiedergabe ist, wird sich im Laufe der Zeit herausstellen.
Erinnerungen haben vor allem dann, wenn sie sich auf relativ weit zurückliegende Lebensperioden beziehen, den Vorteil, dass sich Ältere peinlich genau an alle möglichen Details erinnern; und sie haben den Nachteil, dass manche unumstößlich erscheinenden Erinnerungen bearbeitungsbedürftig sind. Eine Neuauflage sollte das berücksichtigen. Es gibt nämlich Fälle, bei denen die eigene Erinnerung täuscht: Jean Livescu war nicht Jan L., und obwohl er eine Arbeit über Grimmelshausens Simplicissimus als Entwicklungsroman publiziert hatte, war diese keineswegs seine Doktorarbeit. Die Promotionsschrift aus dem Jahre 1942 beschäftigte sich mit dem Petrarkismus in der deutschen Lyrik des 18. Jahrhunderts. Es ist wenig plausibel, dass Livescu wegen seiner angeblich jüdischen (?) Herkunft vor 1945 verfolgt wurde. Seine Promotion konnte er mitten im Krieg in Straßburg bestreiten, was einem Verfolgten kaum möglich gewesen wäre. Livescus Kollege in Bukarest, Ernst Maria Flinker (1899-1970), stammt sicher nicht aus Prag, sondern aus Czernowitz, hatte allerdings, wie andere Bukowiner, 1916 bis 1917 die Schule in Prag besuchen müssen, weil Czernowitz im Ersten Weltkrieg mehrfach von den Russen besetzt war.
Wir begnügen uns mit dem einen Beispiel. Ähnliche Erinnerungslücken sollten ausgemerzt werden. Dies gilt ebenso für viele der rumänischen Redewendungen oder Sprichwörter, die der Autor gewissenhaft ins Deutsche übersetzt: auch in diesen Beispielen sollte man Fehler beseitigen, die der junge Ludwigsburger Pop-Verlag übersehen hat. Eine Neuauflage verdient dieses mit vielen ironischen und humoristischen Einsprengseln versehene Erinnerungsbuch von Ingmar Brantsch auf jeden Fall. Es regt dazu an, Klischees zu hinterfragen, kurz: die kollektive Erinnerung anhand subjektiver Berichte immer wieder neu zu überdenken, eigene wie fremde Fehler zu korrigieren. Das tut dann allen gut.
Horst Fassel
Ingmar Brantsch
Ich war kein Dissident: Brantsch, Ingmar
Pop, Traian
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Schlagwörter: Rezension, Erinnerungsliteratur, Schriftsteller
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