25. Oktober 2009

Literaturnobelpreis für Herta Müller - eine Rückschau

Wie SbZ-Online bereits berichtet hat, geht der Nobelpreis für Literatur in diesem Jahr an die aus dem rumänischen Banat stammende, deutsche Schriftstellerin Herta Müller. Der mit rund 970 000 Euro dotierte Nobelpreis wird am 10. Dezember in Stockholm vergeben. In einem Themenblock mit einem Nachbericht, Statements siebenbürgischer Persönlichkeiten sowie einem Beitrag der Schwester von Oskar Pastior, Anne-Sabine Pastior, will die SbZ-Online diesem Ereignis nochmals Rechnung tragen.
Das Nobelpreiskomitee begründete die Entscheidung unter anderem auch mit der Reinheit der Dichtung, die Müllers Werken innewohne. Als Höhepunkt ihres literarischen Schaffens, in dem die Autorin gegen das Vergessen ankämpft, gilt der im August 2009 im Carl Hanser Verlag erschienene Roman „Atemschaukel“. Darin erzählt Herta Müller vom Schicksal der zwischen Dezember 1944 und April 1945 zur Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion deportierten fast 80 000 Rumäniendeutschen (Männer zwischen 17 und 45, Frauen zwischen 18 und 30 Jahren). Den Stoff dazu hat sie in Gesprächen mit dem aus Hermannstadt stammenden Lyriker Oskar Pastior, Büchner-Preisträger 2006, sowie anderen Überlebenden der Deportation gesammelt. Auch Müllers Mutter war fünf Jahre in einem Arbeitslager in der heutigen Ukraine interniert.

Oskar Pastior hätte es sehr gefreut

Gegenüber den Medien zeigte sich Herta Müller in einer ersten Reaktion sprachlos ob ihrer Auszeichnung: „Ich bin überrascht und kann es noch immer nicht glauben, mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte die 56 Jahre alte Autorin: „Oskar Pastior hätte es natürlich sehr gefreut, vielleicht sogar mehr als mich. Ohne ihn und seine detaillierten Erzählungen aus dem Lageralltag hätte ich das Buch auch gar nicht schreiben können. Er wollte aber, dass es das Buch gibt. Es war meine Trauerarbeit, darüber darf man eigentlich auch kein schlechtes Buch schreiben.“

Bundespräsident Horst Köhler hat der frisch gekürten Nobelpreisträgerin in einem Glückwunschschreiben gratuliert. Müller habe immer wieder „gegen das Vergessen angeschrieben und so an den hohen Wert der Freiheit erinnert, die niemals selbstverständlich ist“, unterstrich Köhler. Auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel betonte ihre außerordentliche Freude: „Müller gehört zu den Schriftstellerinnen, die diese Auszeichnung mehr als verdient haben.“ Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall sei es „ein wunderbares Signal“, dass so hochwertige Literatur mit dem Nobelpreis prämiert werde. Müllers Werk sei „gespeist aus einer Lebenserfahrung, die von Diktatur und Unterdrückung, Ängsten, aber auch von unglaublichem Mut spricht“. „Wir freuen uns natürlich, dass Herta Müller eine Heimat in Deutschland gefunden hat.“, erklärte die Bundeskanzlerin.

Siebenbürger Sachsen gratulieren

Anlässlich der Zuerkennung des Literaturnobelpreises hat der Bundesvorsitzende Dr. Bernd Fabritius Herta Müller im Namen des Bundesvorstandes des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und aller Siebenbürger Sachsen in der weltweiten Föderation herzlich gratuliert: „Wir sind stolz, dass mit Ihnen eine Deutsche aus Rumänien für ihr literarisches Werk und die darin vorgenommene Darstellung des Alltagslebens in der Diktatur, aus welcher wir kommen, die höchste weltweite Auszeichnung erfahren hat.“ Durch den Roman „Atemschaukel“ und die dort enthaltene Thematisierung des Verschleppungsschicksals eines Siebenbürger Sachsen nach Russland habe die Schriftstellerin „einen der großen Schicksalsschläge für unsere Gemeinschaft der gesamten deutschsprachigen Öffentlichkeit (...) in noch nie dagewesener Weise literarisch überragend präsentiert und zugänglich gemacht“. Der Bundesvorsitzende dankte Müller „für Ihr literarisches Geschenk als Beitrag zum besseren Verständnis des Schicksals und Daseins unserer Gemeinschaft“ und wünschte der Autorin „weiterhin viel Erfolg und Schaffenskraft“.

Nobelpreis krönt literarisches Werk

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf (Kreis Temesch) im Banat geboren. Ihre Kindheit in Rumänien, die schmerzhaften Erinnerungen an die kommunistische Diktatur unter Ceaușescu, an Repressionen, an Zensur und den rumänischen Geheimdienst Securitate, hat die „Chronistin des Alltagslebens in der Diktatur“ vielfach und in beklemmender Weise literarisch verarbeitet. Ihr erster Erzählband, „Niederungen“, erschien 1982 in stark zensierter Fassung. 1987 konnte Müller zusammen mit ihrem damaligen Mann, dem Schriftsteller Richard Wagner, nach Deutschland ausreisen und in das seinerzeitige West-Berlin übersiedeln.

Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, avancierte Müller zu einer international renommierten Autorin. Ihre Werke, darunter „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992), „Herztier“ (1994), „Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet“ (1997), „Der König verneigt sich und tötet“ (2003), sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden. Ihr von der Kritik gefeierter Roman „Atemschaukel“ wird zu den Höhepunkten der „Gulag“-Literatur gezählt. Für den Literaturkritiker Hellmuth Karasek ist dies ein „sehr eindrucksvolles Buch über die Menschenzerstörung im Kommunismus“, mit dem Müller die Kraft eines Autors wie Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“) erreiche. Vor allem für dieses Werk wird Herta Müller am 1. November 2009 in der Frankfurter Paulskirche mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2009 der Stiftung Zentrum gegen Vertreibung ausgezeichnet. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Nobelpreis-Verleihung haben Verlage und Buchhandlungen eine enorme Nachfrage nach Müllers Werken registriert. Der Münchner Carl Hanser Verlag ließ inzwischen 120 000 Exemplare der „Atemschaukel“ nachdrucken. Die exzessive Medienberichterstattung über die frisch gekürte Literatur-Nobelpreisträgerin wirkt erwartungsgemäß verkaufsfördernd, und auch das öffentliche Interesse an Müllers Autorenlesungen ist sprunghaft gewachsen (siehe Terminübersicht).

Seit 1995 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, hat die Banater Schwäbin bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Kleist-Preis (1994), die Carl-Zuckmayer-Medaille (2002), den Joseph-Breitbach-Preis (2003), den Würth-Preis für Europäische Literatur (2006) und den Walter-Hasenclever-Literaturpreis (2006). Der Literaturnobelpreis krönt Herta Müllers schriftstellerisches Schaffen.

Christian Schoger


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Schlagwörter: Herta Müller, Oskar Pastior

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