21. Juni 2014

Grenzenlose Heimat: der Trachtenumzug der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl

Pfingstsonntag, 8. Juni. Festumzug, das meistersehnte Ereignis beim Sachsentreffen: 100 Trachtengruppen, 2700 Teilnehmer. 20 000 Siebenbürger Sachsen sind zu dem Fest gekommen, 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Sturz des Kommunismus in Rumänien, 70 Jahre nach der Evakuierung der Sachsen aus Nordsiebenbürgen. Ich kenne die Geschichte aus Büchern und Erzählungen, viele der Anwesenden haben sie noch selbst erlebt.
In einer guten Stunde beginnt der Trachtenaufzug, der Höhepunkt des Treffens der Siebenbürger Sachsen von überall. Dinkelsbühl ist der ideale Drehort für den Film Die Wunderwelt der Brüder Grimm, ein reizvolles mittelalterliches Städtchen. Seit 1950 ist die Partnerstadt von Schäßburg eine der Hauptattraktionen an der berühmten Romantischen Straße, die die schönsten Burgen und Schlösser im Süden Deutschlands verbindet, von Würzburg bis Füssen. Ein märchenhaftes Fleckchen mit zwölf tadellos erhaltenen Türmen, die ein Nest harmonisch aufeinander abgestimmter und geometrisch angeordneter Häuser bewehren. Die Tradition der Sachsentreffen in dieser Stadt nahm schon 1951 ihren Anfang. Seit dem 25. Mai 1985 gibt es eine enge Partnerschaft zwischen Dinkelsbühl und dem Verband der Siebenbürger Sachsen. Und 1997 wurde die Stadt vom deutschen Staat für die Maßnahmen zur Integration von Aussiedlern – den Siebenbürger Sachsen – mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

Trachtenträgerin aus Deutsch-Kreuz. Foto: Mihaela ...
Trachtenträgerin aus Deutsch-Kreuz. Foto: Mihaela Kloos-Ilea
„Die Stadt sei Euer!“, hatte Bürgermeister Christoph Hammer die Gäste bei der Eröffnungsfeier herzlich willkommen geheißen. Unter allen malerischen Städten Deutschlands ist Dinkelsbühl die ideale Wahl für das Sachsentreffen, wenn man von Siebenbürgen einmal absieht. Ihre mittelalterlichen Reize beschwören die Erinnerung an die siebenbürgischen Kirchenburgen herauf. Mit seiner Grenzlage zwischen Bayern und Baden-Württemberg, den beiden Bundesländern mit einem hohen Anteil an Siebenbürger Sachsen, bietet Dinkelsbühl die adäquate touristische Infrastruktur für ein Ereignis, das für ganze vier Tage die Anzahl der Bewohner verdoppelt. Jedes Jahr zu Pfingsten wird der beschauliche Stadtkern zu einem Städtchen der Sachsen, er erliegt dem Angriff der Blaskapellen und der Feierstimmung, dem Grillrauch der Mici und dem süßen Duft des Baumstriezels. Vielleicht treffen sich die Sachsen in Dinkelsbühl, weil sie sich hier „wie daheim“ fühlen. Im Grunde feiern die Sachsen in Deutschland – sei es noch so paradox – gerade dies: das Zuhause, die Gemeinschaft, die Heimat. Eine Heimat jenseits der Grenzen bedeutet selbstbestimmte Identität.

Dinkelsbühl ist eine der romantischsten und beschaulichsten Städte in einem zunehmend kosmopolitischen und hektischen Deutschland. Ein Deutschland der Deutschen und der Einwanderer aller Art, darunter der Sachsen. Seit zwei Jahren ist es auch das meine. Es ist der Ort, wohin zur Zeit des Kommunismus und danach alle unsere Leute ausgewandert sind. In dem alle Geschichten nach dem Kehrreim klingen, der in meiner Kindheit in war: Titan Eis, altă viață! (Titan Eis, ein anderes Leben! – In übertragener Bedeutung: da lässt sich’s leben!)

Ich bin hier. Das ist zumal für mich ein Zeichen, dass die Schranken, die wir zu überwinden haben, einzig und allein in uns selbst sind. Das diesjährige Treffen in Dinkelsbühl steht unter dem Motto Heimat ohne Grenzen. Heimat kommt von Heim, Daheim, Zuhause. Nicht immer ist das eine mit dem anderen deckungsgleich. Die Wirklichkeit entspricht nicht der symbolischen Geographie, die wir im Innern tragen. Eine Über-Identität jenseits formaler Grenzen ist auch die Voraussetzung eines neuen Europas, ohne dass dadurch die ethnische oder nationale Identität aufgehoben würde.

Grenzen sind also das Thema des diesjährigen Heimattages. Was gibt es denn für Grenzen? Da gibt es die administrativen Grenzen zwischen Ländern und Regionen, die unsichtbaren zwischen uns, die in der Mentalität und dem Verhalten begründet sind, außerdem haben wir unsere inneren Grenzen. Heutzutage, da nationale und Gruppenidentität noch in manchen Ecken der Welt gewaltsam bestimmt werden, mögen wir uns in metaphorischer Harmonie üben. Rund um uns wabern allerhand Farben, wir selbst mögen unserer ethnischen oder nationalen Identität die eine oder andere Farbe zuweisen. Darin bestehen Zauber und Reichtum der Welt, dessen, was wir sind. Seit Newton weiß man, dass das Licht alle möglichen Farben enthält. Wir sind farbig und, alle zusammen, Licht.

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9.30 Uhr. Ein heißer Pfingstmorgen. Kaiserwetter wie noch nie zu Pfingsten in Deutschland, 35 Grad sind vorhergesagt worden. Möglicherweise ist Gott ja auch Sachse. (Wer weiß, vielleicht mag er sogar Speck.)

Noch eine Stunde bis zum Trachtenaufzug. Wie all die Jahre davor sind Tausende Menschen aus Deutschland, Österreich, Kanada, den Vereinigten Staaten und natürlich Siebenbürgen zu dem einzigartigen Festumzug angereist. Es gibt keine bessere Gelegenheit, die Vielfalt der Tracht in all ihrer Herrlichkeit zu bewundern. Kein Museum vermag die Schönheit dieser über Generationen bewahrten Kleidung so zur Schau zu stellen, wie es ihre Träger hier tun, und das freudig leuchtenden Auges. An langen Winterabenden haben die geschickten Hände von „Omamas“ geweihte Gewänder genäht, die zu so vielen freudigen Anlässen daheim getragen worden sind. Nicht geahnt haben dürfte Omama, dass sich ihre Pfaunen, Adler und Tulpen dereinst in Deutschland zu Hieroglyphen auswachsen würden.

10.30 Uhr. Von weither dröhnt Paukenschlag. Dutzende von Pauken, eine ganze Armee, deren Wummern von verspielten Tschinellen aufgelockert wird, sie kommen immer näher. Die Pauken geben uns den Herzschlag vor. Die Gruppe, die den Aufzug anführt, treibt gar manchem Tränen in die Augen. Es ist die Knabenkapelle der Gastgeberstadt. Der Sammelplatz, die Bleiche, wo der Umzug seinen Anfang nimmt, wimmelt von Trachten und bebt vor Emotionen.
Trachtenträger aus Tartlau im Burzenland. Foto: ...
Trachtenträger aus Tartlau im Burzenland. Foto: Mihaela Kloos-Ilea
Den Anfang machen die Vereine des Landes Baden-Württemberg, es folgen die Heimatortsgemeinschaften Harbachtal und Großschenk, Mergeln, Probstdorf, Schönberg …

Schönberg, der Mittelpunkt Rumäniens, wie am Ortseingang zu lesen ist. Für einen jeden ist das Zuhause der Mittelpunkt der Welt. Wie viele Mittelpunkte hat denn die Welt? Und wie viele Paradiese? Viele, die jetzt an uns vorbeimarschieren, sind in Dörfern Siebenbürgens geboren, Deutschland aber war das endgültige Ziel, die Wiege aller Träume vom Wohlstand. Sie sind mit Nachrichten aus Deutschland aufgewachsen, mit Paketen aus Deutschland, aus Deutschland kamen die Verwandten und Freunde einmal im Jahr im Mercedes angefahren, mit hocherhobenem Kühlergrill – weil der Gepäckraum voll beladen war. Bei der Rückkehr gähnte er dann wie der geblähte Bauch des Wolfes, der gierig sämtliche Köstlichkeiten der Welt geschluckt und wieder hatte hergeben müssen. In einer anderen Welt.

An mir vorbei ziehen die Sachsen aus Agnetheln, Hundertbücheln, Jakobsdorf bei Agnetheln, Kleinschenk, Magarei. Es folgen die Nordsiebenbürger aus Weilau und Bistritz-Nösen, dann jene aus meinen heimatlichen Gefilden, dem Unterwald, stolze Sachsen aus Urwegen, Reußmarkt, Hamlesch und Kelling. Schließlich Hermannstadt und Umgebung: Michelsberg, Großau, Neudorf und die Neppendorfer Blaskapelle.

Ich betrachte den Festumzug durch die Kamera, Klick für Klick, Gruppe für Gruppe, Siebenbürgen – Deutschland, Gegenwart – Vergangenheit, ein ständiges schwindelerregendes Hin und Her. Ein Knirps in Tracht lächelt zu mir herauf, er drückt eine Micky Maus aus Plüsch an sich. In den Armen der Mütter und Großeltern staunend winkende Kinderchen in sächsischer Festkleidung. Sind das die Organisatoren des Dinkelsbühler Treffens in 50 Jahren? Jedes Fest trägt im Kern die traurige Saat der Vergänglichkeit. Der sächsische Trachtenaufzug in Dinkelsbühl ist Jahr für Jahr etwas Besonderes. Gleichwohl ist er eine Vorspiegelung. Ich begreife, wieso er in Deutschland stattfindet, kann allerdings auch den Wunsch nicht von mir weisen, er käme daheim zustande.

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Es folgen die Sachsen aus dem Schäßburger Raum: Weißkirch, Radeln, Keisd, Deutsch-Kreuz, Meschendorf, Groß-Alisch, Trappold, Arkeden. Aus der Gegend um Mediasch kommen die Gruppen Hetzeldorf, Scharosch an der Kokel, Kleinschelken, Frauendorf und Meschen. Das Burzenland ist vertreten durch zwei Blaskapellen und die Heimatortsgemeinschaften Heldsdorf, Brenndorf, Marienburg, Honigberg, Weidenbach, Tartlau, Rosenau, Neustadt und Petersberg. Es folgen die sächsischen Verbände aus den Bundesländern Hessen, Niedersachsen/Bremen und Nordrhein-Westfalen. Dann die Sachsen aus dem Kokelland, Bulkesch, Maldorf-Hohndorf, Seiden, und aus der Repser Umgebung, Deutsch-Weißkirch, Schweischer, Hamruden, Stein, Galt am Alt, Felmern, Deutsch-Tekes.

In Rumänien geblieben sind, je nach Auskunft, 14 000 bis 16 000 Sachsen. An diesen Tagen kommen in Dinkelsbühl mehr Sachsen zusammen, als es heute in Siebenbürgen überhaupt gibt. 100 Trachtengruppen mit 2 700 Beteiligten ziehen an uns vorbei. 2700 Sachsen. Wo kriegt man in Siebenbürgen noch 2 700 Sachsen zusammen? Jede Gruppe trägt das Wappen der Heimatgemeinde. So, nach Heimatgebieten geordnet, erwecken sie den Eindruck, die Sachsen aus dem ganzen Siebenbürgen von einst, über das mir Vater erzählt hat, zögen vor unseren Augen vorbei. Welche Wiedersehensfreude, wie viele Erinnerungen! Eine Welt im Kleinen. Dennoch aus der Zeit gefallen. Ein jeder trägt ständig den Gedanken mit sich, dass wir mehr als 1 500 Kilometer weit weg sind. Ohne Grenzen.

Mittags läuten die Glocken im Herzen Dinkelsbühls mit verhaltener Klage, der Klang hallt von den Festungsmauern zurück. Ich denke daran, dass immer, wenn ein Sachse in Deutschland stirbt, zu seiner Beerdigung auch die Glocken in seinem Heimatort in Siebenbürgen läuten. Wieder ist einer von ihnen dahingegangen, selbst wenn er schon vor vielen Jahren weggegangen ist. Als steige der Klang mit seiner Seele in den Äther, wo sie alle zusammenkommen, jenseits aller Grenzen. Grenzenlose Heimat.

Mihaela Kloos-Ilea


(Übersetzung ins Deutsche: Georg Aescht)

Die rumänische Fassung der Reportage ist auf Mihaela Kloos-Ileas Internetblog Povesti sasesti erschienen.

Bildergalerie des Festumzuges 2014 in Dinkelsbühl, Fotos: Mihaela Kloos-Ilea

Schlagwörter: Heimattag 2014, Trachtenzug

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