12. Juni 2019

Der friedlichen Einigung Europas verpflichtet - Vizepräsident des EU-Parlaments, Rainer Wieland, spricht bei Kundgebung in Dinkelsbühl

Gerade in Zeiten wachsender Spannungen in Europa gilt es, das Bewusstsein zu fördern für den Wert eines friedlich geeinten Europa mit offenen Grenzen. Europa kann trotz erstarkender populistischer Bewegungen auch künftig Stabilität, Frieden, Freiheit und Wohlstand gewährleisten. Nach fester Überzeugung des Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Rainer Wieland, braucht es hierzu allerdings ein ausgeprägteres Werte- und Geschichtsbewusstsein in der Bevölkerung. In seiner Ansprache bei der Kundgebung am Pfingstsonntag in Dinkelsbühl würdigte der CDU-Politiker die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen als „ Paradebeispiel dafür, wie man Zusammenhalt organisiert“. Die Rede wird im Folgenden leicht gekürzt abgedruckt.
Liebe Siebenbürger Sachsen, liebe Dinkelsbühler, […] ich freue mich, im Rahmen des Heimattags der Siebenbürger Sachsen einige Worte an Sie richten zu dürfen. Vor zwei Wochen waren in ganz Europa über 400 Millionen Menschen, Bürgerinnen und Bürger, aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament zu wählen. Viele sprachen im Vorfeld von einer „Schicksalswahl für Europa“. Die extremen Ränder – in Deutschland, aber vor allem in Europa insgesamt – schienen immer stärker zu werden, aber wie stark sind sie tatsächlich und wie stark lassen wir sie werden?

Wenn ich mit Menschen über Europa ins Gespräch komme, dann habe ich das Gefühl, dass in den letzten zwei Jahren vielen Menschen bewusst geworden ist, wie fragil das Erreichte in Europa eigentlich ist und welchen Wert die europäische Einigung für uns hat.

Wenn man den Festzug vorher gesehen hat, dann weiß man, dass auch hier das Wort „In Vielfalt geeint“ sehr groß geschrieben wird. Man sieht dies an der messbar wachsenden Zustimmung zur EU in Umfragen – 71 Prozent erreichen die Zahlen aktuell, nachdem Menschen gesehen haben, dass das Erreichte nicht selbstverständlich ist, – man sieht auch an dieser deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung, dass wir durchaus Zuversicht haben können. Zuletzt drohten oftmals die wenigen, dafür aber umso lauteren europakritischen bis -feindlichen Stimmen, diese Zustimmung in der Gesamtbevölkerung zu übertönen. Ungeachtet der berechtigten Kritik und der Meinungsunterschiede in Sachfragen, ist Aufgabe von uns allen, dass wir den Schreihälsen entgegentreten. Es liegt ganz in unserer Hand, ob wir künftig gemeinsam und konstruktiv an der Weiterentwicklung unseres Kontinents arbeiten oder aber den Sirenen in eine ungewisse Zukunft folgen.
Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen ...
Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, spricht bei der Kundgebung vor der Schranne. Foto: Christian Schoger
Ich denke, dass uns ein Blick auf die Geschichte von Gemeinschaften wie den Siebenbürger Sachsen sehr gut vor Augen führt, welchen Wert ein friedlich geeintes Europa mit offenen Grenzen für sich darstellt. Ich selber kann aus eigener Familiengeschichte diese Dinge nicht erfassen, aber ich bin gewissermaßen angeheiratet mit Vertriebenen-Hintergrund ausgestattet. Meine Schwiegereltern sind Ungarndeutsche, und deshalb fühle ich mich den Vertriebenen und den Aussiedlern besonders verbunden. Sie sind Architekten, sie sind Brückenbauer und sie sind aber auch diejenigen, die über die Brücken gehen und dafür werben, dass darüber gegangen wird.

Trotz aller Unterschiede, trotz der Spannungen, die es in Europa immer wieder gibt, ist Europa heute – nach Jahrhunderten des Krieges, des Terrors, des Hungers – ein Anker der Stabilität, ein Anker des Friedens, der Freiheit und auch des Wohlstands. Dies haben wir auch erreicht, weil wir Unterschiede nicht nur respektieren, sondern diese auch als eine Quelle unserer Stärke erkannt haben. Und diese Rolle als Zeugen, als Mahner, aber auch als Botschafter und Bannerträger haben die Vertriebenenverbände schon viel früher praktisch vorgelebt. In der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und anderer Gemeinschaften ist das friedliche Zusammenleben von Sprachen, Kulturen und Religionen nicht erst seit 70 Jahren verankert.

Der Vorsitzende des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, Dr. Paul Jürgen Porr, brachte dies kürzlich auf den Punkt: „Das, was wir heute als europäisches Gedankengut bezeichnen, nämlich friedliches interethnisches und interkonfessionelles Zusammenleben, das wurde in Siebenbürgen schon seit Jahrhunderten gelebt.“

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen verdeutlicht jedoch auch, dass auch Erfolgsmodelle keine Selbstläufer sind. Die teils leidvollen Verwerfungen, die die Siebenbürger Sachsen und andere Gemeinschaften erlebt haben, zeigen uns, wie zerbrechlich die Dinge am Ende sind. […] Auch im Moment sehen wir, dass die Dinge weiterhin nicht selbstverständlich sind. Wir sind in Vielfalt geeint in Europa. Trotzdem müssen wir an diesem Haus weiter bauen. Wir haben dieses Jahr 70 Jahre Grundgesetz gefeiert. Wir dürfen stolz sein auf das, was wir damit haben, aber wir dürfen nicht das Bewusstsein dafür verlieren, auf welchen Leichenbergen diese bestgeschriebene und bestgelebte Verfassung, die wir hatten, errichtet worden ist. Es ist wichtig, dass wir uns auch mit den Schicksalen von Minderheiten in unserem Europa und in anderen Ländern abgeben. […]

Einige Akteure in Europa wollen ganz raus aus der EU. Wir dürfen nicht den Jungen einreden, dass das, was war, ihre Verantwortung, ihre Schuld ist. Aber wir müssen immer wieder dafür werben, dass die junge Generation Verantwortung dafür trägt, dass Dinge nicht wieder passieren und dass wir Dinge besser machen. In allen Konflikten, nicht nur in Kriegen, ist das erste Opfer immer die Wahrheit. Deshalb gilt es, für die Wahrheit zu werben, Erinnerungsarbeit zu leisten und das, was war, aufzuarbeiten. Auf Wahrheit baut das auf, was wir Zukunft nennen. Es gibt keine andere Alternative. Und auf Wahrheit baut auch Traditionspflege und Wertebewusstsein auf, die wichtige Baustoffe für die Zukunft sind. Die Erinnerung verblasst. Wir müssen dafür werben. Deshalb sage ich auch mittlerweile in aller Offenheit und vielleicht Brutalität: Wer 18-jährige Kinder oder Enkelkinder hat, und war noch nicht in Verdun oder noch nicht am Hartmannsweiler Kopf, der hat mindestens noch nicht alles richtig gemacht, weil wir das Bewusstsein für das Vergangene brauchen. Die Sensibilität, was auf dem Spiel steht, mit England, mit Irland und Nordirland. Dass wir dort drohen, in alte Konflikte wegzurutschen.

Ich habe am Tag des Referendums in England an alles Mögliche gedacht, aber nicht an Irland. Das war schon wieder so selbstverständlich geworden, und wir bekommen jetzt ein Bewusstsein dafür, wie dünn der Firn ist, der nach 30 Jahren, 25 Jahren allmählich entstanden ist. Und ich sehe mit Schrecken, dass es in Irland wieder Menschen gibt, Wirrköpfe, die Anschläge planen. Wir müssen das Gut, das wir haben, sorgsam bewahren. Wir müssen anderen, die in ihrem Land keine Ruhe haben oder Ruhe erst noch suchen, helfen. Da sind insbesondere die Vertriebenenverbände wichtige Botschafter. Wir dürfen uns im Luxus unserer Gesellschaften nicht die Blindheit leisten für Minderheiten, für Volksgruppen, für fragile Nationen anderswo auf unserem Kontinent und darüber hinaus. Wir müssen uns weiter für dieses Europa einsetzen. Ihre Gemeinschaft ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Zusammenhalt organisiert, und deshalb freue ich mich auch, dass sich so viele verschiedene Akteure in den vergangenen Monaten sehr aktiv für Europa engagiert haben […].

Verband der Siebenbürger Sachsen leistet durch seine Kontakte und Expertise wertvollen Beitrag im europäischen Einigungsprozess

Auch aus Rumänien gibt es positive Signale. Die Bevölkerung sprach sich in einem beeindruckenden Signal für Europa aus und für die Wahrung des Rechtsstaats in Rumänien. Es macht Mut zu sehen, dass sich eine zunehmend starke Zivilgesellschaft gegen Korruption und gegen die Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz stellt. Wir haben viel zu bitter und viel zu lang auf dem ganzen Kontinent dafür gekämpft, dass das Recht die Macht hat, als dass wir jetzt kommentarlos daran vorbeigehen können, dass es immer noch Kräfte gibt, die das wieder umdrehen wollen, dass nämlich die Macht das Recht hat. Das ist nicht das Europa, für das Sie stehen, für das ich stehe und für das viele andere auch in Rumänien gerade unter den jungen Menschen stehen.

Gerade mit Blick auf die Anliegen der Siebenbürger Sachsen und anderer Gemeinschaften in Rumänien ist es unerlässlich, dass auch in Rumänien glasklar ist, was Recht ist und was Unrecht ist, und dass dies für alle gleichermaßen gilt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ungeklärte Fragen aus der Vergangenheit endlich fair und abschließend geregelt werden. Die Europäische Union stand in den vergangenen Wochen und Monaten stets an der Seite der Bürgerinnen und Bürger in Rumänien und wird dies auch in Zukunft tun. Ich hoffe, dass auch der Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland seine Kontakte und Expertise nutzt, um diesen Prozess zu unterstützen. Sie sind prädestiniert dafür, als Brückenbauer zu fungieren und zum Gelingen der friedlichen Einigung Europas beizutragen, und auch darüber hinaus. […] Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen gelungenen Heimattag hier in Dinkelsbühl! Frohe Pfingsten!

Schlagwörter: Heimattag 2019, Kundgebung, Dinkelsbühl, EU, Vizepräsident, Wieland, EU-Parlament, Europa, Rumänien, Vertriebene und Aussiedler

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