6. April 2015

Gott in Abtsdorf

Als in meiner Vaterstadt Rostock am 25. August 2012 demonstriert wird, um an den Pogrom vor 20 Jahren zu erinnern, stehe ich 2000 km davon entfernt auf einer Dorfstraße und sehe: Der Turm befindet sich separat vor der Hallenkirche aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Als ich ihn das zweite Mal durchschreite, sitzen im Turmraum drei Kinder und unterhalten sich miteinander. Die Jungen sind Rumänen, das Mädchen besucht eine deutsche Schule in Griechenland. Unsere eigenen Enkel bewegen sich mit Rumänisch und Deutsch, notfalls auch etwas Ungarisch, wie Fische im Wasser durch das siebenbürgische Abtsdorf bei Agnetheln. Globalisierung auf Rumänisch im fernen und dazu auch noch ländlichen Winkel.
Die Kirche selbst ist unter einem intakten Dach ausgeweidet. Außer Bänken, Emporen und Altarsockel ist die Innenausstattung abtransportiert worden in ein Depot der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. Ein Versuch zur vorläufigen Rettung ungesicherten Kulturgutes. Das Taufbecken fand am 7. Oktober 2012, dem Erntedankfest, seinen Platz in der Evangelischen Kirche St. Peter und Paul zu Moskau, berichtete die Siebenbürgische Zeitung Online am 21. Oktober 2012. Der Kanzel galt dieser Versuch zu 33%: Korb und Schalldeckel finden sich noch am angestammten Platz. Die Treppe fehlt. Ich vermag also nicht den Platz zu betreten, zu dem ich andernorts jahrzehntelang und oft mit wackeligen Knien hinaufgestiegen bin.

Der Anblick einer aufgegebenen Kirche ist mir nicht fremd. Ich bin darauf vorbereitet. Wenn seit 1945 schier 99% der Beter, Sänger und Prediger das Gotteshaus verlassen, um im Westen Europas besser zu leben, kommt es, wie es ist. Und hier ist das so, und bei aller Armseligkeit: aus dem Rahmen fällt die Reinlichkeit des Kirchenschiffes. Vielleicht ist sie das Selige in dieser Armut. Es gibt also eine Seele, die dieses Zeichen setzt (oder vielleicht sogar noch eine dazu). Vielleicht aber läuft alles gar nicht so persönlich, sondern institutionell ab; denn die Kirche ist laut Landeskonsistorium an die Asociația Culturală Villa Abatis „übergeben“ (Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien vom 3. Februar 2012). So ist für Ordnung gesorgt – stetig und jedenfalls zu diesem besonderen Anlass heute. Denn auf einem Gehöft nahe der Kirche sind über 100 Gäste aus ganz Rumänien samt einer Reisegruppe der Stadtkirchengemeinde Berlin-Köpenick eingetroffen. Von Mai bis September lädt die Aktionsgruppe Harbachtal (GAL) zum Transilvanian Brunch in Täler und auf Hügel Siebenbürgens ein und hat zuvor Menschen am Ort für das ­Anliegen Begegnung und Austausch bei gemeinsamen Mahlzeiten gewonnen. So geraten abgelegene Ortschaften in den Blick, und ihre Einwohner können spüren, dass sie nach wie vor für Mitmenschen interessant sind. Die ländlichen Gerichte auf den langen Tischplatten sind nicht allein herrlich anzusehen, sondern auch köstlich zu essen. Bei den 42°C am heutigen 25. August spielen auch Wasser und alkoholfreie Obstsäfte eine wichtige Rolle für die 100 Gäste (noch einmal so viele Angemeldete sind wegen der Hitze ferngeblieben). Ich betrete diese Kirche, 50 km von Hermannstadt entfernt, in der Nähe von Agnetheln, allein und beuge mich vor dem Ewigen. Wirklich vor dem Ewigen? Ist er hier nicht wie auch an anderen Orten die versiegte Quelle, die verblichene Hoffnung? Der Brüchige? Der Flüchtige? Der Abgelöste? Die verschwiegene Zusage? Das verstummte Wort? Aufgegeben und vergessen? Sind das aber nicht auch allesamt Namen des Ewigen, der kommen soll, wie glatt oder holprig die Verdrängungen auch funktionieren mögen?

Aus allen diesen Attacken des Vergangenen bildet sich mir das Bildnis des immer noch nicht Gewesenen von Anfang an, die heilige Anwesenheit des Künftigen, der sich nun so zeigt. Die heilige Leere von Abtsdorf wird zur eindringlichen Anschauung.

„Was für ein schönes Gehöft“, radebreche ich mit einer meiner Nachbarinnen aus dem Dorf. „Das große Haus war das Parochialgebäude unseres Ortes. Jetzt habe wir es mit dem Hof gekauft“, erklärt sie mir. Ein Pfarrhaus aus Zeiten vor der Sturzflut eines Massenexodus im Jahre 1990. (Das Kritzkower Pfarrhaus bei Güstrow/Mecklenburg-Vorpommern –, in dem ich einmal lebte und arbeitete, wird gerade vom Immobilienhandel in unserer Straße zum zweiten Mal zwecks Verkaufs angeboten.) Auf dem verkauften Pfarrhof von Abtsdorf in Siebenbürgen steht noch immer ein riesiger Birnbaum. Er ist stockvertrocknet. Das wird nicht wieder. Kleinere Apfelbäume auf diesem Areal tragen reichlich Frucht.

Jetzt ist eine andere Zeit. Der Transilvanian Brunch ist ein kleiner Wink für Künftiges, das schon Gegenwart wird. Einheimische und Fremde sorgen sich gemeinsam um die Zukunft der abgelegenen Welten und vernetzen sich zögerlich, allmählich für das Leben gegen Verstockung und Abgestorbenes. Sie brauchen noch Jahrzehnte und für jedes Jahr davon viel Geduld. Geduld und Zukunft sind Namen Gottes. Stefan Vaida, Restaurator aus Alzen, hat es aber schon jetzt nicht ruhen lassen, bis er zwei Jahre später mit Gleichgesinnten den von Vandalen heimgesuchten Friedhof aufgeräumt und Grabsteine wieder in die Senkrechte gebracht hat.

Kinder stehen am Eingangstor des Festes. Sie trauen sich nicht hinein. Einer bringt ihnen Kuchen und Melonenstücke. Eine Geste mehr peinlich als zukunftsvoll. Immerhin ein Anfang in diesem Anfang. Am Abend lese ich, voller Erinnerungen an die „heilige Leere“ von Abtsdorf, aus den Herrnhuter Losungen den Lehrtext des Tages: Jakob nannte die Stätte, da Gott mit ihm geredet hatte, Bethel (Haus Gottes). 1. Mose 35,15. Das ist zu viel Zufall. Bloß nicht übertreiben.

Jens Langer, Rostock

Schlagwörter: Reise, Siebenbürgen, Abtsdorf

Bewerten:

15 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.