2. Februar 2025

Erschütternde Zeugenaussagen: Deportationen und Leiden

Oft erinnere ich mich an die Erzählungen meiner Mutter, die im Winter des Jahres 1945 lange Zeit versteckt lebte, um nicht nach Russland verschleppt zu werden, wie es vielen ihrer deutschen Generationskolleginnen passiert war. Als sie es dann nicht mehr aushielt in einem dunklen, winzigen Raum, von wo sie tagsüber nie herauskonnte, denn sie wäre von den Haushaltshelferinnen oder der Amme meines Bruders gesehen worden, traf sie eine Entscheidung. Um rauszukönnen, heiratete sie der Form halber einen Freund, der ihr seinen rumänischen Namen „lieh“, um sie vor der Deportation zu retten. Neben den beiden Rettungsformeln, die Mutter angewandt hat, verstecken oder/und einen Rumänien formhalber heiraten, konnte man sich auch chirurgischen Operationen unterziehen lassen, die mehr oder weniger reelle Gründe hatten, die einen aber auf alle Fälle im Krankenhaus festhielten, bis die Gefahr des Zusammentreibens vorüberging.
In Russland war den Deutschen, den „nemţii“, ein schreckliches Leben beschert: Schwerstarbeit auf Baustellen, in Wäldern oder Gruben, das Überleben in einer furchtbaren Kälte und angesichts eines allesverzehrenden Hungers, der sie soweit trieb, Kartoffelschalen zu essen und sich Suppen zu kochen aus faulenden Krautblättern oder sonst etwas von den Abfallhaufen der Lagerküchen. Dazu kam noch das Fehlen elementarster hygienischer und medizinischer Betreuungsbedingungen. Die Gesundheit der Verschleppten wurde unter diesen Bedingungen so stark untergraben, ihre physische Konstitution so sehr geschwächt, dass sie wie Wesen funktionierten, die dem Tod näher waren als dem Leben.

Am quälendsten aber war die unstillbare Sehnsucht nach ihren Familien, ihren Kindern, ihrem Heim, egal, ob sie Banater Schwaben waren oder Sathmarschwaben, Deutsche aus dem Banater Bergland oder Siebenbürger Sachsen. In leise gesungenen Liedern und in nur noch geflüsterten Erzählungen erinnerten sie einander an die geliebten Orte und Menschen ihrer Herkunft – von denen sie nichts mehr wussten.

All das sind Dinge, die mir durch den Kopf gingen, als ich ein Buch bekam, das diesen dramatischen Ereignissen gewidmet ist: „Deportarea germanilor din Banat în Uniunea Sovietică“ (Cosmopolitan-Art, 2022), die Übersetzung ins Rumänische der „Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder. Erzählberichte” (Übersetzung: Werner Kremm und Sigrid Kuhn). Es handelt sich um eine Sammlung von mehr als hundert Zeitzeugenberichten, die von den Herausgebern Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling und Walter Tonța gesammelt und redigiert wurden. Sie hatten sich an die Kinder und Enkel der 1945 nach Russland Verschleppten gewandt und um ihre Erinnerungen gebeten.

Der Band beeindruckt durch die Widergabe des Schreckens, den die Betroffenen auch ihren nächsten Verwandten vermittelten – sofern sie die Deportation überlebt haben. Das Verladen in Viehwaggons, zum mehrwöchigen Abtransport in die Weiten Russlands, mitten in einem grausamen Winterjanuar 1945, in Lager mit Namen wie Gorlowka, Stalino, Makejewka, Tritibis, Iljanowka, Dnjeprodsherdshinsk, Krasnoarmejskoje und wie sie alle geheißen haben. Alle diese Lager waren dieselbe Hölle für die Deutschen aus Rumänien, die schmerzliche Erinnerungen zutiefst in ihr Gedächtnis und in ihre Seelen eingruben. Es kamen für die Verschleppten „Tage und Jahre, die bei Weitem die schmerzlichsten waren, die man sich überhaupt vorstellen kann“. Tage und Jahre, die einen verbissenen Überlebenskampf ausgelöst haben. So wiedergibt Eva Jauch, was sie von ihrem Vater erfahren hat, der im Alter von sechszehn Jahren und zehn Monaten verschleppt und in Russland gezwungen wurde, in einer Eisenerzgrube in Kriwoj Rog (heute ukrainisch Krywyi Rih) unter Tag zu schuften. „Vom täglichen Hunger besessen, abgemagert und abgearbeitet, mit von Läusen und Flöhen misshandeltem Körper, in der ungeheizten Baracke dem Erfrieren nahe, schlafend auf dem Holz der kahlen Holzpritschen, noch mit Ratten und Wanzen konfrontiert und über alldem zusätzlich der Willkür des Lagerkommandanten ausgesetzt, wurde Vater immer schwächer magerte immer mehr ab, bis er mit Lungenentzündung in einem Lazarett landete – ohne auch nur zu ahnen, dass er bereits an Silikose erkrankt war.“

Nicht nur in Russland, auch nach der Rückkehr gab es Tragödien. Die nach Hause Geschickten wurden gelegentlich von den Viehwaggons aufs freie Feld ausgeladen und bis zu drei Tage dort sich selbst überlassen, ohne Wasser, ohne Nahrung. Als eine der deutschen Verschleppten stirbt, graben ihr ihre Leidensgenossinnen und -genossen ein Grab mit Löffeln, die sie aus ihren Lagern mitgenommen hatten, um sie dann irgendwie mit Erde zu bedecken.

Auch Eva Jauchs Vater kam aus Russland mit einem Suppenlöffel zurück. Den zeigte er immer seiner Tochter, sooft die übers aufgetragene Essen am Mittagstisch der Familie die Nase rümpfte. Zeitlebens war ihr Vater überzeugt, dass allein das Vorzeigen des russischen Suppenlöffels ausreicht, um seine Tochter zu überzeugen, beim Essen keine Zicken zu machen. Die Magie des russischen Suppenlöffels sollte sie zeitlebens davor bewahren, jemals und in aller Zukunft Hunger zu leiden.

Stimmt: über all das und alles, was die Verschleppten in Russland damals erleben und ertragen mussten, wurde bereits geschrieben. Ich erwähne hier nur Herta Müllers „Atemschaukel“. Aber die Zeugenaussagen dieser Überlebenden, die dieses Buch vereint, sind von so einer erschütternden Intensität, dass man sich überhaupt nicht wundern darf, dass und wenn die näheren oder ferneren Verwandten der überlebenden Opfer heute noch zahlreiche Erinnerungsveranstaltungen organisieren. Dass an Gedenktagen an die Russlandverschleppung, in Deutschland und in Rumänien Requiems und Messen zelebriert werden. Derartige menschliche Grausamkeit und Leiden erinnern uns aber auch an unsere Verantwortung, nie die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und deren immerwährende Mahnfunktion zu vergessen.

Dazu würde ich noch etwas hinzufügen, das ich für wichtig halte, wenn solcherart Konfrontationen zwischen Menschen und ihrer Geschichte zur Sprache gebracht werden: sie zeigen, so finde ich, auch die ungeahnten Kräfte, die in uns ruhen, in jeden gewöhnlichen Menschen. Unsere Widerstandskraft, unsere Kraft und unser Überlebenswille sind unbegrenzt. Trotzdem: Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass uns, die Heutigen, die Zukunft nie mehr in die Lage versetzt, all das nochmal nachzuweisen, die Grenzen unserer Kraft, unseres Überlebenswillens auszuloten. Was wir hoffentlich auch aus diesem Buch über die Leiden der Banater Deutschen in Russland gelernt haben, was uns durch dieses Buch bewusst gemacht wurde. Geschichtliche Wahrheiten sind am besten aufgehoben, wenn sie zwischen den Deckeln von Büchern versiegelt werden, wo über sie Geschriebenes festgehalten ist. Für immer.

Pia Brânzeu


Prof. Dr. Pia Brânzeu unterrichtete Englisch an der Temeswarer West-Universität, war 1996-2004 Lehrstuhlinhaberin Englisch an der wichtigsten Banater Hochschule, danach Prorektorin dieser Hochschule und Präsidentin der Rumänischen Gesellschaft für Britannische und Amerikanische Studien. Der hier veröffentlichte Beitrag entstand für die Temeswarer Zeitschrift „Orizont“, Ausgabe Januar 2025, und wurde von Werner Kremm ins Deutsche übersetzt.

Schlagwörter: Deportation, Zeitzeugenbericht, Buch

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