Kaum, dass ich meinen deutschen Personalausweis in der Tasche hatte, fing ich an zu planen. Wie in der alten Heimat wollte ich hier für meine Landsleute (und indirekt für die noch in Schaas lebenden) etwas Heimatbezogenes ins Leben rufen. Ihnen fehlte die Zusammengehörigkeit, der Gedankenaustausch mit den anderen Schaasern, die altbewährten Sitten und Bräuche, die uns jahrhundertelang zusammengeschweißt hatten. Meiner schriftlichen Einladung für den 4. Mai 1974 an alle nach dem Zweiten Weltkrieg Hiergebliebenen und deren nachgereiste Familien folgten beinahe alle: Sie wählten mich zu ihrem Nachbarvater (Vorstandsvorsitzender). Damals ahnte ich nicht, dass ich dieses Amt drei Jahrzehnte lang bekleiden würde. Der erste Beschluss: jährliches Treffen im Mai, zudem wurde der Jahresbeitrag festgelegt und die Satzung erstellt. Wir hatten es uns zur Aufgabe gemacht, unsere Schaaser Gemeinde mit unseren bescheidenen Mitteln bei größeren Vorhaben finanziell zu unterstützen: Renovierungen, Instandhaltung des Friedhofs, Bescherung der Kinder unter dem Christbaum in der Kirche.

Bis zum Ende der Ceaușescu-Ära war die Zahl derer, die jährlich mit Ausreise- bzw. Besucherpass ausreisen durften, gering. Der rumänische Staat duldete diese Art der Ausreise, weil Devisen gebraucht wurden. Ab 1990 fanden über 400 Schaaser den Weg zu uns. Jahr für Jahr hieß ich die Neuangekommenen in unserer Nachbarschaft herzlich willkommen und hoffte, dass sie sich hier ein neues Zuhause aufbauen könnten. Ich bin stolz darauf, dass die meisten es geschafft haben, hier eine neue Heimat zu finden.

Seit langem gab es in Schaas drei Nachbarschaften, die vierte hier gegründete kann man mit den althergebrachten nicht vergleichen. Ich übernahm diese Bezeichnung aus nostalgischen Gründen, als Zeichen der heimatverbundenen Gemeinschaft. Bei unseren anfangs jährlichen Treffen bot sich die Gelegenheit, Freunde und Nachbarn wiederzusehen und sich auszutauschen. Beim Abschied sagte mir eine etwas ältere Nachbarin: „Heute war ich wieder in meinem lieben Schaas. Ich habe mit vielen gesprochen, die ich sonst nicht sehe. Ich komme nächstes Jahr wieder, weil es mir sehr gut gefallen hat.“ Das machte mir Mut für die zukünftigen Treffen.

Ich betrachte die Fertigstellung des Schaaser Heimatbuches als Höhepunkt meiner aktiven Zeit. Zusammen mit Dr. Heinz Heltmann zeichne ich dafür verantwortlich. Ilse Köber, eine Nachbarin, schrieb: „Danke für das Buch, ihr habt damit vieles gerettet, was auf dem Weg des Vergessens war.“ Nach drei Jahrzehnten trat ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge als Nachbarvater zurück. Pfarrer Peter Paul Sattler bin ich sehr dankbar, dass er dieses Ehrenamt von mir übernommen hat. Die Neugewählten machen ihre Arbeit sehr gut. Besonders freue ich mich, dass jedes Jahr vor Weihnachten das „Schaaser Nachbarzeichen“ erscheint. Für viele von uns ruft es Erinnerungen wach an die gemeinsame Zeit in der alten Heimat.

Die Folgen der Auswanderung: In den letzten Jahren sind einige Häuser und die Kirche in Schaas renovierungsbedürftig geworden. Das von Werner Platz und unserer HOG finanzierte geologische Gutachten ergab ein Sanierungsvolumen von knapp 200000 Euro. Da unsere finanziellen Möglichkeiten dies nicht zuließen, hat unser Nachbar Werner Platz, der heute in Kanada lebt, mit einer sehr großzügigen Spende die Renovierung des Kirchendaches ermöglicht. Danke, Werner! Meine Lieben, ich danke euch, dass ihr mich über viele Jahrzehnte hier und in Schaas in meiner Arbeit unterstützt habt. Danke auch Jung und Alt, dass ihr zu den Treffen gekommen seid. Dem Vorstand wünsche ich weiterhin viel Erfolg und freue mich auf das nächste Treffen am 9. Mai 2015.

Euer Altnachbarvater Martin Binder