28. August 2009

Beitrag zum imaginären Erinnerungswerk Siebenbürgens

Der Germanist Joachim Wittstock kann auf eine langjährige, erfolgreiche Tätigkeit als Schriftsteller und Publizist zurückblicken. Anlässlich seines 70. Geburtstages, den er heute feiert, sprach Gerda Ziegler mit dem bekannten Hermannstädter.
Welche Ihrer Arbeiten würden Sie in eine Ju­bi­läums­ausgabe „Joachim Wittstock zum Sieb­zigsten“ aufnehmen?
Ihre Frage, hochgemut formuliert, darf ich wohl pragmatisch umsetzen in die Erwägung: Welche Nachauflage älterer, aus dem Buchhan­del verschwundener Veröffentlichungen wäre gegenwärtig sinnvoll? Schon seit geraumer Wei­le habe ich daran gedacht, jene Bücher wieder aufzunehmen, die dazumal ein relativ lebhaftes Echo ausgelöst haben. Zunächst ginge es um die Agnethler Urzelgeschichte „Karussellpolka“ (1978) und weiterhin um eine Folge von Erzäh­lungen, um die unter dem Titel „Asche­regen“ (1985) vereinten Schilderungen von Weltkriegs­schicksalen.

Im Umfang und Aussehen könnten die revidierten Texte den im Hermannstädter hora-Ver­lag erschienenen Bänden „Scherenschnitt“ (2002) und „Keulenmann ...“ (2005) angepasst werden. Auch ließe sich daran denken, den etwa im Jahresrhythmus herausgebrachten Bänden eine Sammlung mit kurzen Texten folgen zu lassen.

Einen breiten Raum in Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit nimmt die Beschäftigung mit dem Leben und Werk Ihres Vaters, Erwin Wittstock (1899-1962), ein. Wie hat sie sich auf Ihre Per­sönlichkeit und auf Ihr eigenes Werk ausgewirkt?
Um die nahe liegende, nicht zum ersten Mal ausgesprochene Frage nach dem Vater-Sohn-Verhältnis zu beantworten, habe ich mir folgende Aussage zurechtgelegt: Die familiäre Bin­dung, betont subjektiv – es liegt in der Natur der Sache –, versuchte ich zu objektivieren, zu vergegenständlichen, indem ich über Erwin Witt­stocks Arbeiten schrieb. Dabei war ich anfangs bestrebt, private Momente, allzu Persönliches, herauszuhalten aus der Erörterung, später war ich weniger befangen, denn ich sagte mir: Bei Autoren ist auch das Private in einem gewissen Maß öffentlich (natürlich nicht im Ausmaß heutiger Hemmungslosigkeiten). Außerdem er­kann­te ich im Verlauf der Jahre: Indem Schriftsteller seiner Altersklasse, seines Zuschnitts, aus dem Horizont literarischer Aktualität glitten, ja regel­recht aus diesem hinausgeschoben wurden, er­schien es mir zunehmend nötig, etwas zu unternehmen, um das Andenken Erwin Wittstocks, um sein nicht völlig ediertes Werk durch Vortrag und fragmentweisen Ab­druck von Nachlass-Schriften im Bewusstsein der Leserschaft zu erhalten. Das sehe ich auch gegenwärtig als eine meiner Aufgaben an.

Außerdem war ich bestrebt, kompositorisch-stilistische Lehren zu beherzigen, die sich mir noch aus Gesprächen mit ihm als Richtlinien ein­geprägt hatten oder sich aus der Beschäftigung mit seinen Arbeiten ergaben. Soweit es eben ging, solche Lehren anzunehmen und nicht Ab­weichungen das verhinderten, Unterschiede in der Lebenserfahrung, im Temperament. Soweit die Orientierung auf andere gestalterische Ziele, auf andere Gattungen als die von Erwin Witt­stock bevorzugten eine Übernahme gestalterischer Prinzipien gestattete (ihm lag viel an authentischer Erzählung, an realistischer Ro­manschilderung, auch am Drama, ich hingegen war in jungen Jahren aufs Gedicht eingestellt sowie auf lyrische Prosa).

Inwiefern kann man Heinrich Schirmer aus dem Roman „Bestätigt und besiegelt“ (2003) und Georg Härwest aus dem Roman „Die uns angebotene Welt“ (2007) als literarische Spielarten Ihres Ichs, als „Alter Ego“, bezeichnen? Falls ja – haben Sie in der Prosa Erlebnisse verwendet, die Sie als Mensch und Schriftsteller prägten?
Georg Härwest ist, wie im Vorwort des Romans „Die uns angebotene Welt“ gesagt wird, tatsäch­lich ein Abbild meiner selbst, das heißt, er wurde jener Person angenähert, die ich um 1960 gewe­sen sein mag. Da wir es mit einer Schilderung zu tun haben, die den Entwicklungsgang eines jungen Mannes und seiner Generationsgenossen spiegelt, darf man zu Recht erwarten, in der Darstellung prägende Erfahrung vorzufinden, also genau das, was mein Erleben in jenen Jah­ren bestimmt hat.

Weniger eindeutig ist die Parallele zwischen Autor und Heinrich Schirmer. Die Handlung des Romans „Bestätigt und besiegelt“ führt in die Nachkriegszeit, als die Deportation in die Sow­jetunion ablief, ein Geschehen, das zu meiner eigenen Biographie bloß einen mittelbaren Bezug hat. Obwohl bis zur Gleichsetzung zwischen Schirmer und mir noch ein beträchtlicher Abstand bleibt, ist in dessen Physiognomie, in seine Denkweise und sein Verhalten manches von meinen persönlichen Erfahrungen eingeflos­sen. Zu diesem Ergebnis trugen Dokumentation und Einfühlung bei, außerdem Ortskenntnis. Der Heltauer Schauplatz des Romangeschehens war mir aus den Jahren 1961-1966 geläufig, die ich als junger Lehrer in Heltau verbracht hatte.
Joachim Wittstock. Foto: Konrad Klein ...
Joachim Wittstock. Foto: Konrad Klein


In einigen Ihrer Texte (z. B. im Band „Scheren­schnitt“) sieht sich der Leser mit dem Ele­ment des Unheimlichen konfrontiert. Was können Sie uns über den Einsatz dieses gestalterischen Mit­tels sagen?
Das Unheimliche ist mehr als gestalterisches Mittel, es ist ein Wesensmerkmal unseres Da­seins. Wenn wir dem Philosophen Erwin Reis­ner (1890-1966) folgen, einem biographisch auch Hermannstadt verbundenen Wiener und nachmaligen Berliner (Hermannstadt-Aufenthalt mit Unterbrechungen 1915-1935), so ist das Un­heimliche, das Dämonische, eine Hauptkompo­nente im Weltgefüge und im Seelenleben. Es gilt daher, die Dämonie unserer Existenz in ihren Erscheinungsformen zu erkennen, um dieser negativen Kraft wirksam begegnen zu können. Reisners Buch „Der Dämon und sein Bild“ (1947, Neuausgabe 1986) erörtert diese Problematik in aller Ausführlichkeit. Dort vertretene Ansichten dienten mir schon wiederholt als Anregung, auch habe ich aufgemerkt, bereit, Triftiges zu übernehmen, wenn sich etwas vom Leben und Schaf­fen dieses auf die mythisch-religiösen Grundla­gen unseres Lebens eingestellten Schriftstellers erfahren ließ.

„Der deutschen Sprache ausgeliefert, / die fürs Ungeschaffene Benennungen bereithält, / der Unersättlichen ausgeliefert, / was kann ich durch sie?“ Damit endet Ihr Gedicht „Sprache“ aus dem Bändchen „Mondphasenuhr“ (1983). Wie würden Sie heute diese Frage hinsichtlich Ihres Ringens um Adäquatheit, Kohärenz und Ursprünglichkeit der Sprache in Ihren Gedich­ten, Erzählungen, Essays und Romanen beantworten?
Der Sprache gegenüber sind Schreibende stets in nachgeordneter, in dienender Stellung. Ins Bild gebracht: Ein Imperium mit unermesslichen Räumen ... darin Arbeiter, schlichten Tagewer­ken hingegeben. Meine Beschäftigung mit älteren Texten ließ mich Einblick gewinnen in die geschichtliche Stufung des Deutschen. Sprach­liche Eigenheiten einzelner Jahrhunderte fessel­ten mich, die Ausdrucksweise des Humanismus, des Barockzeitalters, der Aufklärung. Sinnvolle Entwicklungen der Gegenwartssprache (nicht ihre Verirrungen) versuchte ich zu begreifen und war, soweit möglich, bestrebt, ihnen in meinen Entwürfen Rechnung zu tragen. Bemüht, als Autor mein Bestes zu geben, war mir jederzeit bewusst, in Sprachdingen ein Lernender zu bleiben.

Im Gedicht „Klassentreffen“ aus demselben Band kontrastieren Sie das Abenteuer des Rei­sens ausgewanderter Sachsen mit dem Aben­teu­er der Sesshaftigkeit – offensichtlich sind damit all jene gemeint, die in Siebenbürgen verblieben sind. Wie sehen Sie die Problematik dieser beiden Lebensweisen heute? Wie hat sich diesbezüglich Ihr eigenes Leben gestaltet?
Das Stichwort „Klassentreffen“ ist in diesem Zusammenhang hilfreich; auch sonstige Treffen zwischen Ausgewanderten und in Siebenbürgen Verbliebenen bieten sich an, um die Beziehung zwischen hüben und drüben zu erhellen. Alle Beteiligten wissen – und hier zitiere ich aus dem Gedichttext – „vereinzelt spielt sich ihr Leben ab, / und dass sie zurückkehren werden in den eignen Verlauf“. Das heißt: Individuelles gibt heutzutage den Ausschlag, Einzelmenschliches. Dennoch messen die von nah und fern zum jeweiligen Treffen Gekommenen diesem besondere Bedeutung zu, es ist „ein Begegnen, / nach langer Zeit, für lange Zeit“. Gemeinsamkeiten werden hervorgehoben, über Trennendes wird lebensklug hinweggesehen. „Aus Frage und Zwi­schenfrage ergibt sich das Gespräch, / aus wortkarger oder flüssiger Antwort, / bisweilen aus Monologen, Einkapselungen, / aus Bekenntnissen und Verschwiegenheiten.“

Um aber nicht den Eindruck hervorzurufen, es komme bloß auf die Form des Umgangs an, und um auch die Frage nach meinem eigenen Erleben zu beantworten, sei gesagt: Meiner Frau und mir erschien das Daheimbleiben – aus der Ferne betrachtet: „das Festsitzen auf größeren oder kleineren Riffen“ – als das uns Gemäße. Andere haben für sich und die Ihren den Land­wechsel vollzogen, haben sich für eine Existenz unter neuartigen Bedingungen entschieden.
Joachim Wittstock zu Hause vor seiner Bibliothek. ...
Joachim Wittstock zu Hause vor seiner Bibliothek.
Welchen Stellenwert hat Ihre breit gefächerte literaturwissenschaftliche Arbeit heute in Ihrem schriftstellerischen Schaffen?
Wer sich so lange wie ich mit literaturgeschichtlichen Themen beschäftigt hat, wird auch weiterhin zur Mitarbeit in diesem Bereich her­angezogen. Im Programm sind: Symposien und die von ihnen angeregten Studienbände, thematisch ausgerichtete Ausgaben von periodischen Schriften, Beiträge zu Jahrbüchern und Gemein­schaftswerken. Weiterhin geht es um Stellung­nahme zu Strittigem, um dokumentarische Absi­cherung von ungenauem Wissen, um Ergänzung lückenhafter Quellenverzeich­nisse, um Textkor­rektur. Den mir zugebilligten Freiraum versuche ich so zu nutzen, dass ich mich nach Möglich­keit auf mir relativ leicht erreichbare Dokumen­tationen stütze und die im Lauf der Jahre erwor­bene Personen- und Sachkenntnis zur Geltung bringe. Zeitgeschichtliches, Gegenwartsnahes erhält damit einen gewis­sen Vorrang.

Wie sehen Ihre literarischen Zukunftspläne aus?
Zusammen mit meiner Schwester Rohtraut Wittstock wollen wir einen der Kronstädter Bild­hauerin und Malerin Margarete Scherg-Depner (1885-1970) gewidmeten Bildband veröffentlichen. 2010 wären auch biographisch-kommemorative Anlässe zu solcher Würdigung gegeben: 125 Jahre seit der Geburt, 40 Jahre seit dem Tod dieser ungewöhnlichen Frau. Mein Anteil an dem Projekt fußt auf einem eigenen Typoskript aus älteren Zeiten, das es nun auszuformen gilt.

Außerdem habe ich ein weiteres Manuskript aus dem Schreibtisch hervorgezogen und will es durchgestalten, das heißt: dokumentarisch fundieren, durch bezeichnende Episoden ergänzen, stellenweise straffen, stilistisch vereinheitlichen. Es wird ein siebenbürgischer Arztroman, provisorischer Titel: „Strahlenarzt Dr. Petrus Benve­nuto Bogner“. Szenen aus der medizinischen Praxis Kronstadts, zumal aus der faszinierenden, nicht ungefährlichen Strahlentherapie will ich einbeziehen, will Spitalsbetriebe mit ihrem leitenden und sonstigen Personal darstellen, und das auf Grund von Quellen, zu denen ich durch familiäre Vergünstigung Zugang habe. Auch soll es an Schilderungen nicht mangeln, die Her­mannstadt zum Schauplatz medizinisch-juridisch-gesellschaftlicher Abläufe haben.

Inwiefern dürfen Ihre Leser Sie den „letzten Chronisten der siebenbürgischen Landschaft und Kultur“ nennen?
Mit der Bezeichnung „letzter, letzte“ sollten wir vorsichtig umgehen. Was macht man, wenn sich „allerletzte“ Berichterstatter einstellen oder wenn Historienschreiber auftreten, die sich durchaus nicht als Verfertiger von Epilogen verstehen? Streng genommen trifft in meinem Fall auch die Benennung „Chronist“ nicht zu, sie mag Schriftstellern vom Typus Balzacs vorbehalten bleiben, die darauf ausgehen, in ihren Zeitbil­dern möglichst viele – schier alle – Facetten eines Geschehens, einer Entwicklung aufzuzeigen.

Den Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen meine Schilderungen nicht, es sind jeweils nur Ausschnitte, die sie aus einer Epoche oder aus einer kürzeren Zeiteinheit bieten – vorhanden ist eine in der Summe kaum befriedigende Rei­hung von Personen und Geschehnissen aus der Vergangenheit des Landstrichs.

Wahr ist freilich auch, dass manche Episode, manches Porträt sich in die – teils geschriebene, teils ungeschriebene, in etlichen Abschnitten auch gar nicht mehr schreibbare – Chronik des Südostens eingliedern lässt und dass dadurch, wenn auch bloß durch wenige Blätter, ein be­scheidener Beitrag zum imaginären Erinne­rungswerk Siebenbürgens erbracht wurde.

Zum 70. Geburtstag herzliche Glück- und Se­genswünsche und dazu den Dank Ihrer Leser­gemeinschaft!

Schlagwörter: Kultur, Schriftsteller, Wittstock, Germanistik

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