20. August 2010

Kronstädter schreibt an Geschichte von Winnenden mit

Der Deutsche Orden hat 1294 nicht nur Schloss Horneck erworben und ausbauen lassen. Um 1500 entstand auch Schloss Winnental, das 1834 zur ersten Heilanstalt für psychisch Kranke im Königreich Württemberg wurde. Der Kronstädter Martin Eitel Müller hat in Klausenburg Medizin studiert, seine Laufbahn in Siebenbürgen begonnen. Er war aufgrund seines Fachwissens bald nach seiner Umsiedlung in Winnental ein gefragter Arzt, dann Chefarzt des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Winnenden, das 1995 in Zentrum für Psychiatrie umbenannt wurde und stetig ausgebaut wird.
Gemeinsam mit der Stadtarchivarin Sabine Beate Reustle hat Dr. Müller ein geschmackvoll ausgestattetes Buch herausgebracht: „175 Jahre Heilanstalt Winnenden“, das als Nummer 3 der Reihe „Winnender Veröffentlichungen“ 2009 erschienen ist (ISBN 978-3-89735-547-7). Den Einband hat die ebenfalls in Klausenburg ausgebildete Ehefrau von Dr. Müller, die durch ihre Buchillustrationen schon in Rumänien bestens bekannte Renate Mildner-Müller gestaltet: eine Collage aus einem historischen Bericht der Anstalt mit den Porträts von Robert Mayer, Albert Zeller und Nikolaus Lenau.

Was hat diese lokalgeschichtliche Dokumentation aus Winnenden mit Siebenbürgen zu tun? Das, was immer mehr zum Alltag in der Bundesrepublik gehört: Die aus Siebenbürgen mitgebrachten Kenntnisse werden Teil der bundesdeutschen Gesellschaft und der regionalen Geschichte, die von Siebenbürger Sachsen mitgestaltet wird. In diesem Fall handelt es sich um einen wichtigen Aspekt des württembergischen Gesundheitssystems (heute: des baden-württembergischen), der darauf hinweist, wie sich der Umgang mit Menschen im Laufe der Zeit grundlegend verändert hat.

Als 1834 die königliche Heilanstalt entstand, sorgte der Pietist Albert Zeller, ein Mitglied der hierzulande rühmlich bekannten Großfamilie, dafür, dass sowohl die Patienten als auch die Mitarbeiter einer geregelten Tätigkeit nachgingen und angemessen behandelt wurden. Dafür mussten sie sich der alleinigen Autorität des Leiters unterwerfen, von einer Mitbestimmung war nichts zu verspüren. Die Patienten, die nach einem Freiraum suchten, waren an die strenge Anstaltsdisziplin gebunden. Dies änderte sich auch unter den Nachfolgern von Zeller nicht.

Einen Höhepunkt autoritären Zwangs er­reichte die Anstalt in der NS-Zeit. Damals be­trachtete man die Kranken als „unwertes Leben“ und vernichtete sie in der Gaskammer des Schlosses Grafeneck: unter den 10 645 Ermordeten von Grafeneck waren knapp 400 Patienten aus Winnental. Diese Geschichte von strenger Autorität bis zur grauenhaft-grausamen Ermordung Kranker wird von den Autoren des Bandes exakt und mit merklicher Anteilnahme dokumentiert. Wie sehr man heute im modernen Zentrum für Psychiatrie versucht, die Patienten mit größter Sorgfalt zu pflegen, zu betreuen, als aktive Teile der Gesellschaft zu respektieren, wird ebenso belegt. Sabine Reustler, Gerhart Zeller, und mehrfach Martin Müller haben die historischen Informationen gesammelt und präsentiert.

Spannend sind die Kapitel, die den berühmtesten Patienten der Anstalt gewidmet sind: dem spät anerkannten Heilbronner Physiker Robert Mayer und seinem Gesetz der Erhaltung der Energie, dem Dichter Nikolaus Lenau und dem Massenmörder Ernst Wagner, der 1913 20 Menschen umbrachte. Hauptlehrer Wagner war auch Schriftsteller und Propagator eines Rassismus, der unmittelbar in den NS-Fanatismus mündete. Dass der Anstaltsleiter Zeller, Wagner und Lenau literarisch tätig waren, mag eine regionale Kuriosität sein. Aber was hat Lenau mit Siebenbürgen zu tun? Vielleicht nur, dass er einen Anhänger im fernen Broos aufwies, den man zwischenzeitlich vergessen hat: Karl Borromäus Grubačevic, den „siebenbürgischen Lenau“. Von Harald Grieb zu erfahren, wie Lenau in seinem Notizbuch aus Winnental sich sarkastisch über die „Haft“, als die er seinen Aufenthalt verstand, ebenso über den poetische Provinzialismus in Württemberg äußerte, ist eine spannende Lektüre. Zwang, Isolation sind Themen geblieben, die uns auch heute beschäftigen, nicht immer nur mit Bezug auf Patienten.

Die Dokumentation einer württembergischen Traditionseinrichtung, die Teil einer inzwischen offenen Gesellschaft geworden ist, in der auch Siebenbürger Sachsen mithelfen, den Dienst am Menschen zu konkretisieren, ist ein sehr lesenswertes Buch.

Horst Fassel


Martin Eitel Müller / Sabine Beate Reustler (Hrsg.): 175 Jahre Heilanstalt Winnenden. „Ich bin kein Narr …“. Winnenden: verlag regionalkultur 2009, 224 Seiten, 18,90 Euro, ISBN 978-3-89735-547-7.

Der „siebenbürgische Lenau“

Im „Deutschen Literatur-Lexikon“ stößt man auf den „siebenbürgischen Lenau“. Er hieß Karl Borromäus Grubačevic und ist am 29. Mai 1871 in Broos geboren worden. Seine Mutter war Maria Schneider, als Vater galt zunächst Carl Wisinger, Taufpaten waren Ferdinand Zentner und Elisabeth Breitenstein. 1891 erfolgt im Matrikelbuch der Eintrag: uneheliches Kind, Vater György Grubačevic. Der „siebenbürgische Lenau“ lebte nach 1900 in Wien und publizierte dort den Gedichtband „Pusztablumen“. Mehr ist über ihn nicht bekannt. Wer weiß mehr? Es wäre auch für die Herausgeber des „Deutschen Literatur-Lexikons“ von Interesse. Bitte melden Sie sich bei Prof. Dr. Horst Fassel in Tübingen, Telefon: (0 70 71) 64 08 50.

Schlagwörter: Rezension, Medizin, Kronstadt

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