19. Dezember 2010

Entmythisiertes Bild von Rumänien im Ersten Weltkrieg

Besprechung der beiden Bücher Lucian Boia: „Germanofilii“. Elita intelectuală românească in anii primului razboi mondial (Die „Germanophilen“. Die intellektuelle rumänische Elite im Ersten Weltkrieg). In rumänischer Sprache, Humanitas Verlag Bukarest, 2009, 375 Seiten, ISBN 978-973-50-2546-5, und Lisa Mayerhofer: Zwischen Freund und Feind – Deutsche Besatzung in Rumänien 1916-1918. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2010, 412 Seiten, 59,90 Euro, ISBN 978-3-89975-715-6.
Die oben genannten Bücher, die hier kurz besprochen werden sollen, präsentieren die Geschichte Rumäniens im Ersten Weltkrieg in vieler Hinsicht in einem neuen Licht und frei von nationalen Visionen. Zum besseren Verständnis sei zunächst der historische Rahmen skizziert.
Als der Erste Weltkrieg 1914 ausbrach, erklärte die Regierung Rumäniens, zur großen Enttäuschung Königs Karl I., seine Neutralität, obwohl das Land einen Bündnisvertrag mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn besaß. Im Jahr 1916 trat Rumänien dann doch in den Krieg ein, aber auf Seite der Entente (Frankreich, England, Russland). Sein in Siebenbürgen einmarschiertes Heer wurde aber von deutschen und österreichisch-ungarischen Militäreinheiten zurückgeschlagen und die Oltenia und Muntenia mit der Hauptstadt Bukarest besetzt, während gleichzeitig ein bulgarisches, türkisches und deutsches Heer in der Dobrudscha eindrang. Der Königshof und die Regierung flohen nach Jassy, ebenso zog sich das rumänische Heer in die Moldau zurück. Es konnte im Sommer 1917 in den Schlachten von Mărășești und Mărăști den Versuch des deutschen Heeres, auch die Moldau zu besetzen, abwehren. Das geschlagene Rumänien musste dann am 9. Dezember 1917 einen Waffenstillstand und am 7. Mai 1918 einen schmachvollen Separatfrieden mit den Mittelmächten abschließen. Am Ende des Krieges gehörte Rumänien zu den großen Gewinnern: Es erhielt Siebenbürgen, die Bukowina und Bessarabien und vergrößerte damit sein Territorium um zwei Drittel, so dass man mit Recht von einem Großrumänien sprach.
In der rumänischen Geschichtsschreibung wurden und werden diese Ereignisse aus der Perspektive des glücklichen Ausgangs von 1918 eingeschätzt und zu einem nationalen Mythos ausgebaut, so als ob keine Alternativen möglich gewesen wären. Die Kriegsteilnahme an der Seite der Entente erscheint als eine dem allgemeinen Zuspruch und Willen der Rumänen entsprungene Entscheidung, um Siebenbürgen zu „befreien“.
Lucian Boia, der bereits in mehren Büchern festgefahrene geschichtliche Visionen als nationalistische Interpretation zerstäubt hat, setzt sich in diesem Buch zum Ziel, die in der rumänischen Geschichtsschreibung und im öffentlichen Bewusstsein zum Mythos gewordene Meinung über Geschehnisse im Ersten Weltkrieg zu entzaubern. So geht er hauptsächlich der Frage nach, in welchem Maße die Rumänen in den Jahren der Neutralität für die Entente oder die Mittelmächte waren. Boia weist nach, dass anfangs nicht vorauszusehen war, welches die beste Alternative war, und dass es vor allem unter der politischen und intellektuellen Elite viele „Germanophile“ (Deutschfreundliche) gab. Unter den Historikern bildeten die „Deutschfreundlichen“ die Mehrheit, und unter den Universitätsprofessoren war etwa die Hälfte „germanophil“. Es gab nicht wenige, die sich gegen eine Kriegsteilnahme aussprachen. Die rumänische Elite Siebenbürgens verhielt sich zwiespältig. Als der Krieg ausbrach, begaben sich einige führende Persönlichkeiten nach Rumänien und befürworteten, wenn auch nicht vorbehaltlos, ein Eingreifen Rumäniens gegen Österreich-Ungarn. Zur selben Zeit ­bekundete die rumänische National-Liberale Partei Siebenbürgens ihre Treue gegenüber Österreich-Ungarn. Im Februar 1917 unterzeichneten etwa 200 siebenbürgische Rumänen mit ihren Metropoliten und Bischöfen und einigen rumänischen Abgeordneten des Budapester Parlaments eine Deklaration, in der sie ihre Treue gegenüber der ungarischen Krone verkündeten. Die rumänische Elite Bessarabiens war gegen ein Bündnis mit Russland.
Der Ausgang des Krieges sollte den Ententophilen Recht geben. Die Germanophilen, die zum größten Teil im besetzten Gebiet verblieben waren und mit den Besatzern kooperiert hatten, wurden nach dem Krieg als Vaterlandsverräter gebrandmarkt, vielen wurde der Prozess gemacht und einige wurden sogar eingekerkert. Zu den Verurteilten gehörten unter anderen Ioan Slavici, Tudor Arghezi, Dem Teodorescu und Constantin Stere. C. Boia vertritt die Meinung, Rumänien hätte Siebenbürgen, die Bukowina und Bessarabien auch ohne Kriegsteilnahme und ohne seine angeblichen Siege erhalten und es wären ihm dadurch viele Opfer erspart geblieben. Rumänien habe die angeschlossenen Gebiete erhalten als Folge des Zerfalls der habsburgischen und zaristischen Kaiserreiche sowie dank der internationalen Konstellation und des Entschlusses der Rumänen in diesen Provinzen, sich mit dem Mutterland zu vereinigen. Nach Boia wurde die Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien öffentlich vor 1914 nie ausgesprochen, die Rumänen Siebenbürgens forderten eher nationale Gleichheit innerhalb der Doppelmonarchie.

Deutsches Besatzungsregime in Rumänien

Mit dem deutschen Besatzungsregime im besetzen Rumänien von 1916 bis 1918 befasst sich Lisa Mayerhofer in dem zweiten angezeigten Buch. Es handelt sich dabei um eine Doktorarbeit, die von der Ludwig-Maximilian-Universität München 2009 angenommen wurde. Die Historikerin gliedert ihre Ausführungen in folgende Kapitel: 1.) Historischer Hintergrund und Beginn der Okkupation, 2.) Zwischen Kooperation und Repression, 3.) Verbündete als Konkurrenten: Der Kampf um wirtschaftlichen Einfluss, 4.) Versorgung von Okkupanten und Okkupierten, 5.) Die einheimische Bevölkerung als Arbeitsreservoir, 6.) Okkupanten und Okkupierte im Spannungsfeld von Integration und Abgrenzung, 7.) Eine Herrschaft löst sich auf.
Gegenüber bisherigen historischen Untersuchungen, die ihr Hauptaugenmerk auf die erfolgreiche Verteidigung der Moldau gegenüber den Mittelmächten richten und die Jahre fremder Besatzung von 1916-1918 als Unterdrückung und Ausraubung der Bevölkerung werten, bietet Mayerhofer eine nuancierte und eingehende, auf Quellen gestützte sachliche Untersuchung, wobei sie darauf hinweist, dass die deutsche Okkupation eine Sonderstellung innerhalb der Besatzungsregime des Ersten Weltkrieges einnahm. Diese Sonderstellung ergab sich daraus, dass die deutsche Besatzungsarmee gegenüber der Bevölkerung sich nicht wie in einem Feindesland verhielt, was andererseits dazu führte, dass sie auf eine breite Kooperationsbereitschaft stieß. Das okkupierte Rumänien unterstand dem Oberkommandierenden von Feldmarschall August Mackensen, das neben dem Gebiet der Militärverwaltung auch diverse Etappen- und Operationsgebiete umfasste. Die südliche Dobrudscha hatten die Bulgaren besetzt. In die Landesverwaltung wurden größtenteils einheimische Kräfte einbezogen und die bestehenden Strukturen beibehalten. Dieses Vorgehen der Okkupanten war, wie Mayerhofer unterstreicht, auch darauf zurückzuführen, dass es ihnen an Personal mangelte, um die gesamte Verwaltung zu übernehmen. Das ermöglichte der rumänischen Bevölkerung sich einer lückenlosen Kontrolle und dem Zugriff der Besatzer zu entziehen. Es gab allerdings auch Internierungen von verdächtigen Personen. Sonst verlief das öffentliche Leben ohne wesentliche Eingriffe.
Auf wirtschaftlichem Gebiet waren die Mittelmächte daran interessiert, möglichst große Mengen an Agrarprodukten, Erdöl und sonstigen Gütern zu exportieren und dementsprechend die Wirtschaft zu fördern. Die Güter wurden angekauft oder requiriert und direkt bezahlt, oder es wurden dafür Quittungen oder Gutscheine zur späteren Einlösung ausgehändigt. Die Besatzungsmächte waren zwar bestrebt, durch den Export der „Überschüsse“ das Land nicht auszulaugen, doch die Requirierungen und Missernten führten angesichts der großen Not in Deutschland und Österreich 1918 auch im besetzten Rumänien zu Engpässen und Nahrungsmittelknappheit. Der Unmut der Besetzten verstärkte sich in dem Maße, in dem sich die Niederlage der Mittelmächte abzeichnete. Als deren Heere das Land 1918 verlassen mussten, hinterließen sie ein ausgeplündertes Land.
Unter den deutschen Militärangehörigen befanden sich prominente Persönlichkeiten wie die Dichter Kurt Tucholsky, Hans Carossa, der Architekt Ernst May, der Archäologe Kurt Schuchart, der Kunsthistoriker Günther von Pechmann, Rudolf Hess, der spätere Stellvertreter Adolf Hitlers u.a. Sie haben ihre Erlebnisse zum Teil in Tagebüchern festgehalten oder dichterisch verarbeitet. Da Mayerhofer diese Namen nicht erwähnt, verweise ich auf meinen Aufsatz „Wie deutsche Armeeangehörige den Ersten Weltkrieg in Rumänien erlebten“ in Südostdeutsche Vierteljahresblätter, München, Folge 4, 1996. Die beiden Bücher habe ich mit großem Gewinn gelesen, da sie das Bild über Rumänien im Ersten Weltkrieg, das uns in der Schule, auf der Hochschule und durch Fachliteratur vermittelt wurde und das ich als Lehrer an die Schüler weitergegeben habe, genauer zeichnen und entmythisieren.

Michael Kroner

Zwischen Freund und Feind - De
Lisa Mayerhofer
Zwischen Freund und Feind - Deutsche Besatzung in Rumänien 1916-1918

Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften
Gebundene Ausgabe
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Schlagwörter: Rezension, Geschichte, Weltkrieg, deutsch-rumänische Beziehungen

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