2. Februar 2011

Über den Sinn von Aufklärung und die Schädlichkeit des Verdrängens

Sollen wir uns ab sofort aus der Medienberichterstattung über die Securitate-Verstrickungen von (prominenten) Landsleuten heraushalten, sollen wir das Thema in der Siebenbürgischen Zeitung tabuisieren? Dafür haben sich Hans-Joachim Acker und Michael Miess in ihren Leserbriefen ausgesprochen. Durch diese Berichterstattung, so das Hauptargument, erleide das Bild der Siebenbürger Sachsen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit beträchtlichen Schaden. Dass Aufklärung bitter notwendig ist – für die Opfer, die Täter, letztlich für unsere gesamte siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft – und dass in dieser Frage unser Wertebewusstsein auf dem Prüfstand steht, sei im Folgenden dargelegt.
Hans-Joachim Acker schreibt in seinem Leserbrief ("Securitate und kein Ende"), das seinerzeit von Führungsoffizieren ausgebrachte „Gift des Misstrauens und der Angst“ würde nachwirken, die „Schatten der alten Feindbilder“ wieder aufsteigen. Dabei säßen „die wahren Schuldigen“ doch „in der alten Heimat“, zu der wir „als Brückenbauer zwischen den Völkern und Kulturen“ gute Verbindungen pflegen würden. Wir sollten nicht „über uns und unsere Landsleute bösartig sprechen“, zumal es uns nicht anstünde, „über die erzwungene, selten freiwillig geleistete Arbeit des Inoffiziellen Mitarbeiters (IM), des Spitzels (...) zu spekulieren“. Rhetorisch fragt Hans-Joachim Acker, ob wir „selbsternannte Richter“ seien. Er stellt den Nutzen der „immer neuen ‚Entdeckungen’“ in Frage. (Es ist schon bemerkenswert, dass sich ein ehemaliger Mitarbeiter von Radio Free Europe für Verdrängung statt für Aufklärung in die Bresche wirft.) Man solle die ehemaligen IMs schonen, da sie heute angesichts ihres hohen Alters „vom Leben nicht mehr all zu viel zu erwarten“ hätten. Und man sollte „jenen vergeben, die sich eventuell schuldig gemacht haben“. Es sei unsere Pflicht, unseren großteils in der neuen Heimat geborenen Kindern und Kindeskindern „die Würde und Geradlinigkeit unserer Vorfahren weiterzugeben“, fordert Acker, der wie Michael Miess der Generation der über 70-Jährigen angehört. (Der Verfasser dieses Beitrags ist Jahrgang 1969 und bereits 1971 nach Deutschland ausgesiedelt.) Michael Miess behauptet in seinem Leserbrief ("Die Rumäniendeutschen und die bundesdeutschen Medien"), dass, da die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder im Spiegel veröffentlichten Securitate-Beiträge nicht von allen Bundesbürgern gelesen würden, „wir dafür gesorgt haben, dass auch der Fernsehkonsument erfährt, wer wir eigentlich sind, zwar zwischen 1950 und 1990 gering an Zahl, aber dafür eifrige Securitate-Kollaborateure.“

Siebenbürger Sachsen nicht pauschal verunglimpft

Unklar bleibt, wen Michael Miess mit „wir“ meint. Etwa die in den Medien zu Wort gekommenen rumäniendeutschen Literaten und Wissenschaftler? Im Fokus der Medien stand und steht der Fall des 2006 verstorbenen siebenbürgischen Dichters Oskar Pastior, Träger des Georg-Büchner-Preises 2006. An der ausgelösten Securitate-Debatte beteiligten sich dann die ihm freundschaftlich verbunden gewesene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und weitere rumäniendeutsche Autoren, wie Richard Wagner, der Schäßburger Schriftsteller Dieter Schlesak, als gefragter Experte der Literaturhistoriker Stefan Sienerth. Von niemandem kam ein die Siebenbürger Sachsen verunglimpfendes Pauschalurteil. Eine solche diskriminierende Verallgemeinerung wurde nicht medial verbreitet. Die Siebenbürger Sachsen sind nicht, wie Acker und Miess unbelegt behaupten, in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Öffentlichkeit diskreditiert. Infolgedessen eignet sich dieses Argument auch nicht, um einen Boykott des brisanten Themenfeldes zu begründen. Vielmehr entspricht ein kritisches Aufarbeiten und Wahrnehmen dieses Kapitels unserer Geschichte dem Geist der öffentlich anerkannten gesellschaftlichen Integrationsleistung der Siebenbürger Sachsen.

In unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft hat die Aufarbeitung des menschenverachtenden Überwachungs- und Bespitzelungssystems der DDR einen hohen Stellenwert. Die Bundesregierung plant aktuell eine Änderung des Stasi-Unterlagengesetzes. Bewerber für den öffentlichen Dienst sollen künftig wieder schärfer auf eine frühere Stasi-Tätigkeit überprüft werden, berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 10. Februar 2011 und zitiert den zuständigen Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann (CDU): „Das Bedürfnis nach Einsichtnahme in die Stasi-Unterlagen ist bei Bürgern, Wissenschaftlern und Journalisten auch 20 Jahre nach der deutschen Einheit noch ungebrochen.“ Mit etwa 90 000 Anträgen auf Akteneinsicht im vergangenen Jahr bleibe das Interesse an einer Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hoch. Aufgrund des eigenen kollektiven Erfahrungsreservoirs dürfte die Öffentlichkeit „unserer“ Securitate-Problematik durchaus aufgeschlossen und verständig begegnen. Öffentliches und mediales Interesse scheinen hier einander zu bedingen. Diese Aufmerksamkeit können wir Siebenbürger Sachsen auch als Chance begreifen und nutzen. Gewiss nicht, indem wir uns bei diesem düsteren Kapitel Zeitgeschichte sperren und Belastendes totschweigen.

Ohne unseren Aufklärungsbeitrag mag sich manche Erkenntnis vielleicht hinauszögern lassen, unseren nachfolgenden Generationen bliebe jedoch der durch eine kollektive Verweigerungshaltung entstehende Imageschaden. Dessen ungeachtet schreitet die Securitate-Forschung unaufhaltsam voran. Wissenschaftliche Publikationen mehren sich. Bei Tagungen (wie in München, Jena, Hermannstadt, Klausenburg) referieren Experten, Zeitzeugen ergreifen das Wort. Das Thema bewegt. Unwillkürlich kommen einem die auch in der Siebenbürgischen Zeitung veröffentlichten Zeitzeugenberichte über die Russlanddeportation in Erinnerung. Auf der Münchner „Securitate-Tagung“ (7./8. Dezember 2009) offenbarte der Dichter Werner Söllner seine geheimdienstliche Tätigkeit und trat bald darauf als Leiter des Hessischen Literaturforums in Frankfurt am Main zurück. Zwischenzeitlich haben auch der ehemalige Chefredakteur der Hermannstädter Zeitung, Horst Weber, und der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Zeitschrift Neue Literatur, Dr. Claus Stephani, öffentlich erklärt, Informant der Securitate gewesen zu sein.

Jene, die sich wie Herta Müller, wie Stefan Sienerth, Peter Motzan und andere Intellektuelle öffentlich engagieren für eine tabufreie kritische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur in Rumänien, sollten nicht als „Nestbeschmutzer“ verunglimpft werden, wie es in Michael Miess‘ Leserbrief zwischen den Zeilen anklingt: „Anlässlich einer Fernsehsendung fragte mich meine jüngste Enkeltochter erschrocken: ‚Opa, wer ist diese böse Frau?‘ ‚Aber Kind, so darfst du nicht reden, das ist unsere Nobelpreisträgerin, auf die wir sehr stolz sind‘, war meine Antwort.“ Den dieser Antwort innewohnenden Zynismus entlarvt der Kontext (im vorangehenden Satz verwendete Adjektive: „rachsüchtig“ und „gehässig“).

Sollen wir, wie Hans-Joachim Acker fragt, die „wahren Schuldigen kennen“? Dessen Antwort lautet: „Die sitzen, soweit sie noch leben, in der alten Heimat, die wir gerade deshalb verlassen haben, weil wir Gefahr liefen, unsere Würde als Menschen zu verlieren.“ In Rumänien soll aufgeklärt werden, hierzulande nicht, obwohl es „doch sehr viele“ IMs gewesen sein könnten, räumt Acker ein. Eine schon sehr bequeme Haltung: Doppelmoral.

Securitate-Opfer nicht nochmals entwürdigen

„Wir sollten das alles einmal in Ruhe bedenken“, empfiehlt Acker, „und jenen vergeben, die sich eventuell schuldig gemacht haben.“ Vergeben kann nur das Opfer dem Täter. Jene Täter, die keine Bereitschaft haben, sich ihren Opfern persönlich zu offenbaren, die nicht persönlich Reue zeigen und um Entschuldigung bitten, jene IMs, die unerkannt und unbehelligt in Ehren und Ruhe ihren Lebensabend verbringen wollen, ohne Mut zum Bekennen ohne Aussicht auf ein erleichtertes Gewissen, dürfen jene Täter von ihren Opfern zu Gunsten eines harmonischen Miteinander eine solche Geste einfordern? Die Opfer der Securitate, darunter auch die siebenbürgisch-sächsischen, verdienen angesichts ihrer erlittenen, nicht wegzuleugnenden seelischen Verletzungen Achtsamkeit und unser solidarisches Mitgefühl! Der Akt des Vergebens lässt sich nicht so einfach verordnen, sondern bedingt einen schwierigen innerseelischen Reifungsprozess. Das Schuldeingeständnis des Täters kann diesen Vorgang entscheidend begünstigen. Statt einer bedingungslosen Generalamnestie das Wort zu reden, statt den Opfern a priori Vergebung abzuverlangen, sollten wir an das Gewissen der Täter appellieren, mit den Geschädigten verantwortungsbewusst und mitmenschlich umzugehen. Bemühen wir uns, die Opfer sensibel wahrzunehmen. Diesen moralischen Anspruch dürfen wir ihnen gerade auch deshalb nicht versagen, weil es unsere Pflicht ist, wie Hans-Joachim Acker zu Recht betont, „die Würde und Geradlinigkeit unserer Vorfahren weiterzugeben“ an unsere Kinder und Kindeskinder.

Es ist wichtig und richtig, dass wir auf die Kulturleistungen der Siebenbürger Sachsen, ihrer hervorragenden Wissenschaftler und Künstler stolz und selbstbewusst hinweisen. Das geschieht freilich auch in identitätsstiftender Absicht, unserem tradierten Wertebewusstsein verpflichtet. In Wirklichkeit gehören Licht und Schatten zusammen. Aus dem Verdrängen von persönlichem (nicht kollektivem) Fehlverhalten und Schuld erwächst kein echtes Selbstbewusstsein. Niemand hat das moralische Recht, die Lebensleistung ehemaliger IMs pauschal zu entwerten, sich die Rolle eines Richters anmaßend. Tatsächlich konnte die Motivlage für eine Securitate-Mitarbeit vielschichtig sein. Gab es persönliche Vorteilsnahme, Opportunismus und Karrierismus, so gab es auch Druck, Zwang, Erpressung, Folter. Wie begegne ich dann dem Mitmenschen, der sich heute oder morgen aufgrund seines belasteten Gewissens erklären und frei machen will - ohne Furcht vor moralischer Vorverurteilung?

Aufklären ein Beitrag zur Versöhnung

„Verdrängung und Verharmlosung der geschichtlichen Wahrheit sind bekanntlich die schlechtesten Grundlagen für Versöhnung.“, weiß der siebenbürgisch-sächsische Literaturhistoriker Prof. h. c. Dr. Stefan Sienerth, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e.V. (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wie wir mit den bedrängenden, belastenden Schatten der Vergangenheit umgehen, ob wir uns öffnen oder verschließen, verdrängen und ignorieren, hängt nicht unmaßgeblich ab von unserem Wertebewusstsein. Werte wie Verantwortung, Aufrichtigkeit, Solidarität, Wahrhaftigkeit stehen neben Fleiß, Treue, Gleichheit. Von Thomas Mann stammt das Zitat: „Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge“, und von Aldous Huxley der Ausspruch: „Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert!“

Zurück zur eingangs gestellten Frage, ob dokumentierte Securitate-Verstrickungen von (prominenten) Landsleuten in unserer Siebenbürgischen Zeitung thematisiert werden sollen oder nicht: Im stetigen Bemühen um eine verantwortungsbewusste, sachliche und seriöse (nicht sensationslüsterne) Berichterstattung erfüllt die SbZ-Redaktion nicht mehr als ihre journalistische Informationspflicht. Diese (den SbZ-Redakteuren mitunter auch Ärger und Verdruss einbringende) Leistung können die Leserinnen und Leser der Siebenbürgischen Zeitung mit Fug und Recht erwarten. Eine redaktionelle „Selbstzensur“ widerspräche unserem publizistischen Auftrag und würde uns den berechtigten Vorwurf der interessengeleiteten selektiven Perspektive einbringen. Wir leben im Zeitalter der Information, in einer aufgeklärten Bürgergesellschaft. Wir hoffen auf das wache, offene, werteorientierte Bewusstsein unserer Kinder und Enkelkinder. Also sollen wir wissen wollen. Aufklären kann und soll ein Beitrag zur Versöhnung sein. Wozu Erinnern? Um nicht zu vergessen, um nicht zu wiederholen.

Christian Schoger


Lesen Sie dazu auch:

SbZ-Interview mit Stefan Sienerth: Aufklären ist ein Beitrag zur Versöhnung

Schlagwörter: Securitate, Medien, Herta Müller, Oskar Pastior, Stefan Sienerth, IKGS

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