22. Oktober 2012

Tagung in Tübingen: Krieg und Zwangsmigrationen in Südosteuropa 1940-1950

Mit dem Auslösen des Zweiten Weltkriegs geriet Europa in Bewegung. Das Hin- und Herschieben von Minderheiten und das Anpassen der Grenzen an tatsächliche oder vorgebliche ethnische Verhältnisse wurde zur gängigen Praxis – auch in Südosteuropa.
Ungarn verschob seine Grenzen und führte Bevölkerungsumsiedlungen durch. Die Eroberung Jugoslawiens mit der „Neuordnung“ der Grenzen auf dem Balkan, u. a. mit der Errichtung des Unabhängigen Staates Kroatien, hatte Umsiedlungen und Vertreibungen zur Folge. Dem von Deutschland und Italien abhängigen kroatischen Ustascha-Regime empfahl Hitler „50 Jahre lang eine national intolerante Politik zu verfolgen“. Sie fand ihren Ausdruck in massenhaft betriebenen Ausweisungen, Vertreibungen und im Töten von Serben, Kroaten, Slowenen, Zigeunern und Juden. Nach der Eroberung Mazedoniens wies Bulgarien hunderttausende von Griechen und Serben aus. Die Annexion der südlichen Dobrudscha durch Bulgarien war auch mit einem Bevölkerungsaustausch verbunden. Als sich das amputierte Rumänien an der Seite Hitler-Deutschlands am Angriff gegen die Sowjetunion beteiligte, verband der rumänische Staatsführer damit weit reichende Ziele: völkische Reinigung und nationale Revision.

Dem nationalsozialistischen Deutschland dienten Umsiedlungen und Vertreibungen als Mittel, um seine Rassen- und Expansionspolitik zu verwirklichen. Mit der von Hitler verkündeten „weitschauenden europäischen Politik“ war, wie es schon im Herbst 1939 in der Sprache der SS hieß, „ethnische Flurbereinigung“ gemeint. Die Umsiedlung und Ansiedlung von Volksdeutschen auch aus Südosteuropa unter der Parole „Heim ins Reich“, die mit der Ausweisung und Liquidierung der eingesessenen Bevölkerung einherging, bildete nur den Auftakt groß angelegter Planungen zur „völkischen Neuordnung“ auch Südosteuropas.

Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands hörten die Bevölkerungsverschiebungen nicht auf. Im Gegenteil: Aus dem Verschiebebahnhof unter den Bedingungen des Krieges wurde auch Südosteuropa nach 1945 ein Verschiebebahnhof in Abwesenheit des Krieges. Der Gedanke des ethnisch entmischten, von Minderheiten „gereinigten“ Nationalstaats hatte nicht nur bezogen auf deutsche Minderheiten Konjunktur. Praktisch alle Bevölkerungsgruppen der Region wurden als „austauschbar“ eingestuft: Ungarn aus der Tschechoslowakei, Rumänen und Jugoslawien; Italiener aus Jugoslawien; Rumänen aus Ungarn, Bulgaren aus Jugoslawien und Griechenland, Rumänen aus Bulgarien und umgekehrt; Albaner aus Jugoslawien und Griechenland. Die „nationalen Purifizierung“ stand in ihrer Hochblüte.

Das bei der Erforschung der skizzierten Zwangsmigrationen in Südosteuropa bestehende Forschungsdefizit bildet den Ausgangspunkt für die internationale Tagung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Ohne langfristig wirksame Faktoren auszublenden, legt sie den Schwerpunkt auf den Zusammenhang von Krieg und Zwangsmigrationen zwischen 1940 und 1950. In fünf Abteilungen zielt die mit ausgewiesenen Kennern der Materie besetzte Tagung darauf, den Stellenwert des Krieges als wesentliche Voraussetzung, als Motor und Kontext für Zwangsmigrationen herauszuarbeiten; an Beispielen das breite Spektrum an ethnischen Säuberungen in Südosteuropa zu verdeutlichen; die Verflechtungen aufzuzeigen, die zwischen den einzelnen Zwangsmigrationen bestehen; die Planung und Praxis der Zwangsmigrationen in den einzelnen Staaten zu vergleichen und die ethnischen Säuberungen vom Genozid abzugrenzen.

Programm: Donnerstag, 8. November: Eröffnung der Tagung (18.30-20.00 Uhr), Reinhard Johler (Tübingen): Begrüßung; Stefan Troebst (Leipzig): Staatliche Ethnopurifizierungpolitik. Bulgarien als europaradigmatischer Fall von Fluchtverursachung, Bevölkerungsaustausch, Vertreibung und Zwangsassimilierung (1878-1989)

Freitag, 9. November: Einführung: Mathias Beer (Tübingen); Panel I: NS-Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik (8.30-12.00 Uhr), Moderation und Kommentar Wolfgang Hoepken (Leipzig); Isabel Heinemann (Münster): „Rassische Bestandsaufnahme, Umsiedlung, Eindeutschung“. Grundlinien der NS-Germanisierungspolitik für Südosteuropa; Walter Manoschek (Wien): Extermination statt Zwangsmigration. Das Schicksal der serbischen Juden 1941/42; Michael Wedekind (Wien): NS-Umsiedlungspläne in der Untersteiermark und in der Oberkrain; Carl Bethke (Tübingen): Heim-ins-Reich: Umsiedlung, Evakuierung, Aussiedlung; Panel II: Ethnische Säuberungen unter nationaler Flagge: Pläne, Praxis, Verflechtungen (12.00-16.30 Uhr), Moderation und Kommentar Reinhard Johler (Tübingen); Danijela Stjepić (Tübingen): Zwangskonversionen im Unabhängigen Staat Kroatien 1941-42. Politische Interessen und multiethnische Dynamiken; Vladimir Solonari (Orlando): Dangerous Triangle: Experts, Military, and Bureaucrats in the Politics of Ethnic Cleansing in World War II Romania; Marianna Hausleitner (Berlin): Deportationen in Rumänien 1941-1943. Forschungsstand und vergleichende Ansätze; Michael Portmann (Wien): Flucht, Internierung und Neubesiedlung. Migrationspolitik in der Vojvodina 1944-1948; Panel III: Die gereinigte Nation als Friedensstifter? Alliierte Planungen (17.30-19.00 Uhr), Moderation und Kommentar: Klaus Gestwa (Tübingen); Mathias Beer (Tübingen): Alliierte Umsiedlungspläne für Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs; Josef Wolf (Tübingen): Ethnisch begründete Reparationspolitik: Deportationen in die Sowjetunion

Samstag, 10. November: Panel IV: Nationale Purifizierung am Ende des Zweiten Weltkriegs (9.30-11.00 Uhr), Moderation und Kommentar Stefan Dyroff (Bern); Zoran Janjetovic (Belgrad): Feinde der Nation. Ausweisungen aus Serbien am Ende des Zweiten Weltkriegs; Ágnes TóTH (Budapest): Zwangsmigration und Machtumstrukturierung in Ungarn 1944-1948; Panel V: Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Ein diachroner Vergleich (11.30-13.30 Uhr), Moderation und Kommentar Mathias Beer (Tübingen); Marie-Janine Calic (München): Vermeintliche Parallelen. Zwangsmigrationen in Südosteuropa im Zweiten. Weltkrieg und die ethnischen Säuberungen in den 1990er Jahren auf dem Balkan; Zusammenfassung und Schlussdiskussion (12.45-13.30)

Infos, Kontakt und Anmeldung: Wissenschaftliche Leitung und Organisation: Dr. Mathias Beer; Tagungsort: Eberhard Karls Universität Tübingen, Geschwister-Scholl-Platz, 72074 Tübingen, Großer Senat; Anmeldung: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18 72074 Tübingen, E-Mail: poststelle[ät]idgl.bwl.de; Telefon: (0 70 71) 99 92-5 00; Fax: (0 70 71) 99 92-5 01

Tagungsprogramm als pdf-Datei

Schlagwörter: Tagung, Tübingen, Südosteuropa, Krieg, Migration

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  • 22.10.2012, 09:52 Uhr von bankban: Eine hochinteressante Tagung, jedem zu empfehlen. [weiter]

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