18. November 2018

Hellmut Seiler – „zweiheimischer Grenzgänger“, hintersinniger „Sprachspieler“

Am 17. Oktober hat der aus Reps stammende und in Backnang lebende Hellmut Seiler im Haus des Deutschen Ostens München (HDO) und am darauffolgenden Tag im Zeitungs-Café Hermann Kesten in Nürnberg Gedichte, Aphorismen, Glossen und poetische Erzählungen zum Besten gegeben. Zu der Münchner Lesung unter dem Titel „Ich wäre lieber eine Frage als ein Aufruf …“ hatten das HDO, das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) und der Verband der Siebenbür­ger Sachsen in Deutschland e.V. geladen. Ihren Reiz bezog die Veranstaltung auch aus dem Gespräch, das Dr. Enikő Dácz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des IKGS, mit dem Autor führte und das einen Rahmen zu Seilers Texten bot. Es bot aber auch erhellende Einsichten in Seilers schöpferischen Impuls wie auch Sprachwerkstatt (ausführlicher Bericht unter www.ikgs.de/bericht-lesung-und-gespraech-mit-hellmut-seiler). Die Nürnberger Lesung mit dem Titel „Dieser trotzigen Ruhe Weg“ wurde vom Nürnberger Kulturbeirat zugewanderter Deutscher in Kooperation mit dem Bildungscampus Nürnberg veranstaltet. Auch diese Lesung, in die Dr. Anton Sterbling, Professor der Soziologie, einführte, war ein voller Erfolg. Die Einführung Sterblings, der der schöngeistigen Literatur nicht nur durch seine Zugehörigkeit zu der Aktionsgruppe Banat verbunden ist, wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben (siehe auch Sterblings Band „Über deutsche Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle aus Rumänien. Autorenportraits, Essays und Rezensionen“, der Anfang 2019 im Pop Verlag erscheint).
Hellmut Seiler wurde am 19. April 1953 in der siebenbürgischen Kleinstadt Reps geboren. Dies war zwar gut einen Monat nach dem Tod des damals nahezu ganz Osteuropa beherrschenden Diktators J. W. Stalin, aber noch mitten in der finsteren Zeit des Stalinismus in Rumänien, die für den größten Teil der deutschen Bevölkerung dieses Landes vielfältige Schrecken, Repressionen und Diskriminierungen bedeutete. Gleichzeitig gehört er damit aber auch einer Alterskohorte an, die gleichsam in ein einmaliges „Zeitfenster“ der Nachkriegszeit hinein wuchs, das man zutreffend die „Tauwetterperiode“ nannte und das durch eine allmähliche Entspannung der interethnischen Beziehungen, eine Liberalisierung auf vielen Gebieten, eine vorübergehend deutliche Westorientierung Rumäniens und nicht zuletzt durch einen Aufbruch der rumäniendeutschen Kunst und Literatur in die „Moderne“ gekennzeichnet war. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien und die Hoffnungen des „Prager Frühlings“ stellten zwei Schlüsselereignisse dieser besonderen Zeitkonstellation dar. Wie die Mitglieder der „Aktionsgruppe Banat“, wie Herta Müller und einige andere, etwas ältere und jüngere rumäniendeutsche Autoren im Banat und in Siebenbürgen war auch Hellmut Seiler von diesem, durch den damaligen Zeitgeist der weltweiten Jugendprotestkultur und der westlichen künstlerischen Avantgarde deutlich inspirierten intellektuellen und literarischen Aufbruch in der deutschen Kultur und Literatur Rumäniens angesprochen und wohl auch in seinem eigenen Schreiben deutlich beeinflusst. So ist es sicherlich kein Zufall, dass er ähnliche Wege wie diese jungen Banater Autoren ging und später auch in ein engeres Verhältnis zu ihnen fand.
Hellmut Seiler bei der Lesung in München. Foto: ...
Hellmut Seiler bei der Lesung in München. Foto: Hans-Werner Schuster
Hellmut Seiler debütierte 1971, noch bevor er ein Jahr später sein Lehramtsstudium der Germanistik und Anglistik in Hermannstadt aufnahm, mit Gedichten und Prosa in der Karpaten Rundschau und in der Neuen Literatur. Seinen ersten Gedichtband „die einsamkeit der stühle“ veröffentlichte er 1982 im Klausenburger Dacia Verlag unter Betreuung von Franz Hodjak. 1984 wurde er Preisträger des damals auf Eigenständigkeit in seiner Preisverleihung bedachten „Adam-Müller-Guttenbrunn“-Literaturkreises in Temeswar. Seit den Anfängen seines Schreibens stehen Seilers Texte im Zeichen jener experimentell innovativen Literatur in Rumänien, die Anschluss an die damalige zeitgenössische literarische Avantgarde im Westen, namentlich der konkreten Poesie, der gesellschaftskritischen Gedankenlyrik, der Literatur des Absurden und des späten Surrealismus suchte – und teilweise auch international durchaus aufsehenerregend fand.

Wie kaum ein zweiter unter den damaligen rumäniendeutschen Lyrikern, von Bernd Kolf und Rolf Bossert vielleicht abgesehen, experimentierte Hellmut Seiler mit verschiedenen Techniken der Sprachdekonstruktion und des Sprachspiels. Dabei löste er sich sehr weitgehend von überkommenen Strukturzwängen poetischer Sprache, von formalen Regeln, einschließlich herkömmlicher Schreibweise und Interpunktion, von vertrauten Sprachfügungen, Sprachbildern und Sinnbedeutungen der Wörter, denen er nicht nur neue Anordnungen, Intonationen und Sinnbezüge abgewann, sondern zumeist auch geistreiche Wendungen und Spannungen vermittelte. Aphoristische Zuspitzungen oder bis ins Bizarre gesteigerte Abwandlungen und Paraphrasierungen gängiger Sprach- und Sinnmuster, ebenso wie komplizierte und vielschichtige, das Denken spannungsreich herausfordernde Wortfügungen, unerwartete ironische bis sarkastische Sprachpointen und hintersinnige Anspielungen kennzeichnen seine damaligen wie auch späteren Texte. Nicht selten finden sich eigentümliche, zum Nachdenken zwingende Wortschöpfungen wie etwa „zweiheimisch“. Vielfach zielen die Sprach- und Wortspiele auf unerwartete Erkenntnisse ab, sind kritisch gegen Alltagsbanalitäten, traditionale gesellschaftliche Engstirnigkeiten wie auch Zwänge und Grenzen ideologisch politischer Art gerichtet.
In München: Hellmut Seiler und Dr. Enikő ...
In München: Hellmut Seiler und Dr. Enikő Dácz. Foto: Hans-Werner Schuster
So heißt es in dem „holzgedicht“ aus dem Debütband, auf das bereits Richard Wagner und Rolf Bossert in ihren damaligen Rezensionen positiv eingegangen sind: „holzmusterehen verlaufen ungeschieden / dafür sorgen die gatten mit hölzernen gliedern / holzkinder sodann / wer denn legt feuer an?“. „Grenzgänge“ und „Grenzen“ in den verschiedensten Bedeutungsvariationen und Verwendungen durchziehen, wie übrigens bei anderen rumäniendeutschen Autoren, als Schlüsselbegriff, bei dem die „Gedankenpolizei“ in Rumänien immer besonders hellhörig wurde, viele der Texte Seilers. So blieben denn auch bei ihm wie bei vielen anderen rumäniendeutschen Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern Beobachtungen, Bespitzelungen, Drangsalierungen, Abhörungen, Verhöre, Veröffentlichungs- und Berufsverbote, Protestschreiben und schließlich auch der Ausreiseantrag nicht aus.

Diese bedrückenden Erfahrungen finden sich unter anderem in Hellmut Seilers Beitrag „Eine Wanze namens Boris. Absurditäten der Überwachung und der geheime Streudienst“ (in: Csejka, Gerhardt/Sienerth, Stefan (Hrsg.): Vexierspiegel Securitate. Rumäniendeutsche Autoren im Visier des kommunistischen Geheimdienstes, 2015) trefflich dargestellt, wobei es ihm in diesem Text vor allem gelingt, die Widersprüche und Absurditäten des Vorgehens und der Maßnahmen der Securitate, die ideologischen Fixierungen und die Stupidität einzelner Angehöriger dieser berüchtigten politischen Polizei Rumäniens, greifbar und anschaulich zu machen.

Mit der im Jahr 1988 erfolgten Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland beginnt sodann gleichsam die zweite, mit der ersten wohl kompliziert verschränkte „zweiheimische“ Hälfte des Lebens des „Grenzgängers“ und „Sprachspielers“ (wie Georg Aescht ihn mal sehr zutreffend bezeichnete) Hellmut Seiler, der im „Brotberuf“ bis vor wenigen Monaten als Lehrer tätig war und die wohlverdiente Beendigung dieser Tätigkeit vermutlich auch als so etwas wie eine zweite Befreiung aus den Zwängen und Pflichten des berufsbestimmten Alltags empfunden haben dürfte. Neben diesem Berufsalltag gab es allerdings seit der Ausreise auch eine weitere, befreiende Entfaltung der literarischen Kreativität, die zu einer Reihe eindrucksvoller Bücher führte, von denen ich hier lediglich den Gedichtband: „siebenbürgische endzeitlose“, aus dem Jahr 1994, mit einem Nachwort von Dieter Schlesak, und die Bände „Schlagwald, Grenzen, Gänge“, 2001, „An Verse geheftet“, 2007, und „Dieser trotzigen Ruhe Weg“, 2017, erwähnen möchte. Diese Bücher stehen einerseits unverkennbar in der Kontinuität seiner Denk- und Schreibweise der1970er und 1980er Jahre, entfalten sich aber andererseits thematisch und schreibtechnisch weiter, bis hin zu ganz neuen Wortschöpfungen, virtuosen Sprach- und Gedankenspielen wie auch erkenntnisreichen Gedankenblitzen und eigentümlich verfremdeten Sinnwelten. Seiler hat nicht nur aus verschiedenen Sprachen übersetzt, sondern viele nuancenreichen Assoziationen, die er literarisch anspricht und evoziert, lassen häufig neben der siebenbürgischen Heimat auch diese anderen fremdkulturellen Erfahrungsräume aufscheinen und mitschwingen.
Hellmut Seiler (rechts) dankt Prof. Dr. Anton ...
Hellmut Seiler (rechts) dankt Prof. Dr. Anton Sterbling (links) für seine Einführung bei der Lesung in Nürnberg. Foto: Éva Seiler
Für seine Veröffentlichungen ist Hellmut Seiler mehrfach mit wichtigen Literaturpreisen geehrt worden. Neben dem bereits erwähnten „Adam-Müller-Guttenbrunn“-Preis im Jahr 1984 sind unter anderem der „Literaturpreis der Künstlergilde Esslingen für Prosa“ 1998, der „Literaturpreis der Künstlergilde für Lyrik“ 1999, der „Würth-Literatur-Preis“ 2000 der Tübinger Poetik-Dozentur sowie der Erfolg beim Wettbewerb „Lyrik in einem Zug“ des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und der Deutschen Bahn AG 1997 und 2001 zu nennen. Seit 2014 ist er mit den wahrscheinlich nicht ganz einfachen Aufgaben des Generalsekretärs des „Internationalen Exil-P.E.N. – Sektion deutschsprachige Länder“ betraut.

Zu der Sammlung von Sätzen für Richard Wagner, zu dessen 65. Geburtstag, steuerte Hellmut Seiler in Anlehnung an eigene Verse den Satz bei: „Eine abgerundete Persönlichkeit bist du nicht, nie gewesen, eine solche eckt ja nicht an.“ Diese Aussage kann man wohl umstandslos auch auf ihn selbst anwenden. Dem kann man als weitere selbstbekennende Zeilen hinzufügen: „Angst habe ich keine, deswegen / habe ich doch nicht gelebt / um jetzt Angst zu haben.“ So möge es bleiben.

Schlagwörter: Seiler, Lesungen, München, Nürnberg, Literatur, Lyrik, Bericht

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