11. Oktober 2020

Iris Wolff eröffnet neue Reihe „Lebendige Worte“

Die Siebenbürgische Zeitung beginnt eine neue Reihe, in der zeitgenössische siebenbürgische Schriftsteller jeweils auf einer ganzen Zeitungsseite zu Wort kommen werden. Mit dem Titel „Lebendige Worte“ verbinden wir die Hoffnung, dass die aktuellen Texte ein breites Publikum ansprechen und auch begeistern werden. Iris Wolff eröffnet die Reihe mit einem Auszug aus ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“, der schon kurz nach seinem ­Erscheinen für den Deutschen und den Bayerischen Buchpreis sowie den ­Wilhelm-Raabe-Preis nominiert wurde.
Iris Wolff. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz ...
Iris Wolff. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Drei Fragen an die Autorin

Was gab den Anstoß für dieses Buch?
Ich habe mir die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist, eine Biographie einzeln zu betrachten oder ob nicht alles mit allem verbunden ist. So entstand die Idee, ein Leben zu erzählen, jedoch nie aus der Perspektive der Hauptfigur, sondern anhand der Berührungen mit anderen Leben.

Um welche Themen geht es in Ihrem Roman?
Je weiter die Niederschrift des Textes zurückliegt, desto deutlicher wird es für mich, dass das Buch ein Plädoyer für eine Offenheit der Deutung ist. Das heißt: Widersprüchlichkeiten zulassen, andere Menschen aus unseren Bildern und Festschreibungen befreien.

Wer sind die idealen Leserinnen und Leser?
Das sind Menschen, die Freude an der Sprache haben, für die Bücher wichtige Lebensbegleiter sind, und die es mögen, wenn nicht alles auserzählt ist.

Inhalt & Biographie

In ihrem neuen Roman „Die Unschärfe der Welt“ verbindet Iris Wolff die Lebenswege von sieben Personen, die sich trotz Schicksalsschlägen und räumlichen Distanzen unaufhörlich aufeinander zubewegen. Vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblocks und der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts entsteht eine vielstimmige Geschichte über Flucht und Verlust, Freundschaft und Liebe, die Kraft und Grenzen der Sprache, Erinnerung und Identität. (Lesen Sie die Besprechung des Romans in der Siebenbürgischen Zeitung Online vom 29. September 2020).

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, studierte Deutsche Sprache und Literatur, Grafik und Malerei sowie Religionswissenschaft in Marburg. Für ihre Romane wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ernst-Habermann-Preis, dem Literaturpreis ALPHA und dem Otto-Stoessl-Preis. 2019 erhielt sie außerdem den Thaddäus-Troll-Preis und wurde mit dem Marie-Luise-Fleißer-Preis für ihr Gesamtwerk geehrt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Breisgau.

Textauszug

„Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff beginnt Ende Dezember 1967 im Banat und führt über die im Zerfall begriffene DDR ins Süddeutschland der Gegenwart.

Zăpadă

Lass mir das Kind.
Florentine dachte diesen Satz nicht, sie sprach ihn nicht aus. Sie überließ sich ihm. Er hatte sich ihr eingeschrieben, begleitete sie. Zunächst auf dem Pferdewagen, dann im Zug nach Arad, wo sie am Bahnhof ein Taxi zum Krankenhaus nahm. Lass mir das Kind, bitte. Der Satz tönte im Schnee, flog auf wie die Flocken am Straßenrand, rollte mit ihr auf den Schienen dahin, monoton, stoßweise. Ein dünnes, hohes Pfeifen klang wie eine Mahnung darin an. Im Taxi wurde der Satz knotig und fest, er saß ihr in der Speiseröhre, er saß ihr im Magen, in den Fäusten, im Mund. Lass, bitte.
Es schneite seit einer Woche. Zuerst kleine, unschuldig anmutende Flocken, die den Hof sprenkelten wie den Rücken eines Tieres. Sie bedeckten die Dächer der Häuser, nur am Kirchturm rutschten sie zunächst ab. Jede Flocke ein wie im Überfluss entworfenes Einzelstück, ausgeschickt, damit alles verschwand: umliegende Dörfer, Äcker, die Hügel am Horizont, schließlich der Horizont selbst. Hannes hatte aufgegeben, den Schnee im Hof zu schippen, sich darauf beschränkt, den Zugang zur Straße und den Weg zum nächsten Haus freizuhalten. Er ging dreimal täglich hinaus und nahm in Kauf, dass die Schneeberge zu beiden Seiten meterhoch anwuchsen.
Durch diese Hohlwege hatte er Florentine am Vormittag begleitet, aus dem Hof, über die Straße, an der Kirche vorbei. Ein einzelner Wagen stand an der Hauptstraße. Auf dem Kutschbock ein Mann in Pelzmantel und -mütze, eingesunken, als würde er schlafen. Florentine und Hannes tauschten einen Blick. Sie nickte. Als sie sich ihm näherten, richtete sich der Mann auf. Er stieg auf die Ladefläche, öffnete mehrere Holzfässer und pries, was sich darin befand. In einem Fass zeigten die Fischleiber alle in eine Richtung, die Bäuche silbrig, die Rücken grauschwarz, als wären sie ein Schwarm im Meer, bereit, in jedem Augenblick die Richtung zu wechseln. In einem anderen Fass waren sie sternförmig ausgerichtet, der Schwanz zur Mitte, der Kopf nach außen, Dutzende von Köpfen, Kiemen, Augen.
Hannes sagte, worum es ging, steckte dem Mann Geld zu, kaufte ihm schließlich sogar Fisch ab, damit er losfuhr. Der Fisch sollte im Müll landen. Florentine würde nach dieser Fahrt nie wieder gesalzenen Hering essen.
Der Mann gab dem Pferd die Peitsche. Hannes ging einige Schritte mit, als wollte er dem Wagen folgen. Florentine blickte zurück, bis er nach einer Wegbiegung nicht mehr zu sehen war. Kurz darauf war auch das Dorf verschwunden. Die Schlittenkufen glitten über den Schnee, das Geschirr knarrte, ein Glöckchen klingelte, hell, unablässig, und wenn sie ihren Unterleib berührte, meinte Florentine einen Ton zu hören, als bräche Glas entzwei.
Der Kutscher schwieg. Florentine bemerkte, dass er sie von der Seite musterte, längst zur Kenntnis genommen hatte, wie sie die Hände vor dem Bauch kreuzte und sich abstützte, wenn sie über holprige Stellen fuhren. Er lenkte das Pferd mitten auf die Straße, drosselte das Tempo in den Kurven – er hatte verstanden, worum es ging.
Ausgerechnet ein Rumäne, würde ihr Vater sagen. Aber in diesem Augenblick war ihr der Mann näher als jeder andere Mensch.

Der Schnee hatte eine Helligkeit ausgesetzt, die Florentine über die Zeit schreckhaft gemacht, sie in den letzten Tagen unruhig von einem Zimmer des Hauses ins andere getrieben hatte – Zimmer, die ihr noch nicht vertraut waren. Es war, als beobachteten sie die Räume, als würden ihnen selbst geflüsterte Worte und kleine Gesten nicht entgehen, als hätte sich das Haus längst ein Bild von ihnen gemacht: eine Frau mit sommersprossiger Haut, dünn, fast schlaksig, in Schlaghosen und besticktem Leibchen. Ein Mann mit dunklem Vollbart und halblangen Haaren, der Fußball und Gitarre spielte und an die westliche Außengrenze des Landes entsandt worden war, um seine erste Pfarrstelle anzutreten. Ein Paar Mitte zwanzig, das die Abende beim Kartenspiel verbrachte. Das dem Haus mit seinen vielen Zimmern, dem Garten mit den Weinstöcken, Quitten-, Pfirsich- und Birnbäumen prüfend begegnete, ebenso wie die Dorfbewohner ihnen.
Am gestrigen Nachmittag waren Jugendliche des Christkindspiels von Haus zu Haus gegangen. Alles geschah lautlos. Seit der Schnee fiel, gab es kein sich öffnendes oder schließendes Hoftor, Türenschlagen, Kinderschreien, keine Rufe über Höfe hinweg. Der Schnee hatte die Geräusche in die Häuser verbannt, selbst das Bellen der Hunde war abhandengekommen, das sich mehrmals am Tag, und jede einzelne Nacht, von einem Hund ausgehend fortsetzte, bis das Heulen das ganze Dorf erfasste. Es hörte immer von einem auf den anderen Augenblick auf, setzte eine Stille aus, die tiefer war als zuvor. Wenn Florentine etwas hätte benennen sollen, das ihr neues Leben ausmachte, so wäre es diese Stille.
Florentine hatte den Weg der Jugendlichen vom Küchenfenster aus verfolgt. Sechs in weiße Gewänder gehüllte Gestalten, zwischen den Schneebergen fast nicht zu bestimmen: Josef, Maria mit Brautschmuck, zwei Engel mit Zepter und Schwert, Ochs und Esel mit fratzenhaften Gesichtern und langen Hörnern. Als der zweite Engel Maria in den Flur des Pfarrhauses rief, hatte Florentine etwas Heißes zwischen ihren Beinen gespürt. Sie zog im Bad die Hose hinunter, Blut tropfte über ihre Schenkel auf den Kachelboden. Die Hebamme gab ihr ein blutstillendes Mittel. Als die Blutung am Morgen wiederkam, war Florentine kurzentschlossen aufgebrochen. Sie wollte ins Krankenhaus, auch wenn das Dorf durch den Schneefall vom Zugverkehr abgeschnitten war.
Auf der Fahrt zur Bahnstation dachte sie an das, was Hannes im heutigen Weihnachtsgottesdienst sagen würde: Unbesiegbar sei, wer nicht gewinnen wolle, seinen Willen dem Gottes anheim gab. Florentine war an diesem Tag nicht unbesiegbar. Sie kreuzte die Arme vor dem Bauch, presste die Oberschenkel zusammen und schloss die Augen. Aber sie fand keine Dunkelheit, nur anhaltendes Weiß.
Der Fischverkäufer wartete, bis der Zug kam. Erst später fiel ihr auf, dass sie den ganzen Weg kein Wort miteinander gewechselt hatten. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wischte sie ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe.
Er stand am Bahngleis, die Hände in den Manteltaschen, das Gesicht von Mütze und Kragen verhüllt. Sie nickte ihm zu und glaubte, dass auch er nickte, vielleicht aber auch nur die Hand hob; sie konnte sich, schon als der Zug den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, nicht mehr daran erinnern.
Auch jemand, dachte sie, der der einzige Mensch auf der Welt für einen gewesen war, kann verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben.

Florentine konnte den Arzt am Fußende des Bettes zwischen den Klagen, dem Bitten und Weinen der anderen Frauen kaum verstehen.
Hatte er tatsächlich gefragt, was sie genommen hatte?
Der Arzt hatte einen kahlen Kopf und sehnige Hände, die er nur aus den Kitteltaschen zog, um sich die Nase zu putzen. Untersucht hatte sie bislang niemand.
„Nichts, ich habe nichts genommen. Ich bin hier, damit Sie das Kind retten.“
Florentine machte Anstalten aufzustehen. Eine Schwester, die neben ihrem Bett stand, drückte sie wieder zurück. Dann bequemte sich der Arzt, sie abzutasten. Er legte den Kopf auf ihren Bauch. Sie spürte sein großes, kaltes Ohr. Irgendetwas wurde gesagt, notiert, sie konnte es nicht verstehen. Der Arzt ging, ohne die anderen Frauen zu beachten. Die Schwester reichte ihr eine bläuliche Pille. Florentine betrachtete sie misstrauisch, schluckte sie. Dann, endlich, Dunkelheit.
Als sie erwachte, war vor den Fenstern Nacht. Sie legte ihre Hände auf den Bauch, wie sie es die letzten sechs Monate getan hatte, flach, die Finger gespreizt. Wie merkwürdig es auch klang, sie sah das Kind, konnte seine Umrisse spüren. Nach ihren inneren Vermessungen war sie beruhigt. Sie setzte die Füße auf den Boden und stand, da sie ihre Schuhe nicht fand, widerwillig barfuß auf. Im Nebenbett lag ein Mädchen, kaum älter als fünfzehn Jahre; eine Siebenbürgerin, wie am Nachthemd zu erkennen war. Sie hatte die Augen zur Decke gerichtet, rührte sich nicht. Neben ihr lag eine Rumänin, murmelte etwas vor sich hin, das wie ein Gedicht klang, vielleicht auch ein Gebet. Eine Frau, eigentlich zu alt für eine Schwangerschaft, saß auf der Bettkante, hielt sich den Bauch und schaukelte vor und zurück. Jemand weinte, andere unterhielten sich. Dann spürte sie ein warmes, warnendes Prickeln im Nacken. Eine Frau fixierte sie vom Fenster her, als wollte sie sagen: Hör auf, die anderen anzustarren. Florentine spürte, wie etwas in ihr wegsackte. Die Luft war stickig. Das Stimmengewirr wurde leiser, verklang fast und setzte sich doch immer weiter fort. Ihr kam der Gedanke, dass sie vorsätzlich alle in einem Zimmer untergebracht worden waren. Es entband die Ärzte davon, sie als einzelne Menschen zu sehen, und es war leichter, vom Fußende des Bettes zu urteilen und zu richten.
Sie ging den hell erleuchteten Gang entlang. Niemand war zu sehen. Schließlich fand sie etwas, das sie für eine Toilette hielt. Sie trat ein, lehnte sich an die Tür und schloss die Augen. Dann nahm sie den Gestank wahr. Es gab keine Toilettenschüsseln, nur zwei Löcher im Boden. Der fest gefügte Raum löste sich auf, als sie bemerkte, was auf dem Fußboden lag, wie unachtsam mit einem Eimer ausgeschüttet und mit dem Besen in die Aborte gekehrt. Sie sah die kleinen Arme, die winzigen Hände, noch ganz nah am Körper, die gekrümmten Wirbelsäulen, die reptilienartigen Köpfe mit den zarten geschlossenen Augenlidern, die rosa Haut, die blauen Flecken, das Blut. Florentine konnte sich gerade noch seitlich über eines der Waschbecken beugen und übergab sich.

Eine ungewollte Schwangerschaft beendete man, indem man vom Tisch sprang, schwer trug oder jemanden bat, einem in den Bauch zu schlagen. Die Engelmacherinnen im Dorf rieten zu Salbei, Arnika, Rosmarin, Petersilie, Beifuß oder Angelica in hoher Dosis. Wenn alles nichts half, dann verabreichte man sich gering konzentrierte Blausäure oder versuchte es mit Stricknadeln. Frauen, die solche Maßnahmen ergriffen, nahmen das Risiko in Kauf, unfruchtbar zu werden.
Oder es konnte ihnen ergehen wie Nika.
Sie hatten einander im Rathaus kennengelernt, wo sie, in eine Schlange eingereiht, darauf warteten, zu jemandem vorgelassen zu werden. Nika mutmaßte, dass das Schlangestehen von der Regierung als Leibesübung gedacht war und sie somit von weiteren sportlichen Aktivitäten entband. Die dadurch gewonnene Zeit sollte ihrer Meinung nach beim Kaffee verbracht werden. Oder bei einem Glas Vișinată – noch besser, beidem.
Nika war die erste Freundin, die Florentine im Dorf hatte. Mehrmals in der Woche trafen sie sich zu Kaffee und Sauerkirschlikör.
Meist in Nikas Küche, wo das Radio plärrte, eines der drei Kinder spielte und immer ein Kuchen im Rohr oder eine Suppe auf dem Herd stand. Hannes erkannte am Geruch, wo Florentine gewesen war. Eine Mischung aus Küchenaromen, Kaffee und Zigarettenrauch.
Nika, eine Zigarette zwischen den Fingern, der dünne aufsteigende Rauchfaden durcheinandergewirbelt durch die Bewegungen ihrer Hände, die das, was sie sagte, unterstrichen, kommentierten, infrage stellten – war das erste Bild, das auftauchte, wenn Florentine an ihre Freundin dachte. Dann die hellgrünen Augen (ein Ausdruck zwischen Erwartung und Übermut), die Schnelligkeit ihres Verstandes, ihre Ironie und Lust zu lachen, was gleichzeitig ihre Melancholie offenbarte. Ein Erbe der Familie, wie sie sagte. Nika war in der Bukowina geboren worden, in einem Dorf, wo sich ihre erste Liebe mit achtzehn Jahren das Leben genommen hatte. Nur nicht Dichter werden, riet sie ihren Söhnen. Die sterben jung, und sagen, was sie denken, dürfen sie nicht; ob auf dieser oder der anderen Seite der Wälder.
Florentine und Nika wurden beide im Sommer schwanger. Doch Nika wollte kein weiteres Kind. Sie spritzte sich ein Mittel, das man Kühen verabreichte, und starb innerhalb von drei Tagen unter Krämpfen. Im Krankenhaus weigerte man sich, sie zu behandeln. In der Volksrepublik Rumänien gab es keine Abtreibungen.
Der Arzt mit dem kalten Ohr entließ Florentine zum Ende der Woche. Die Zwischenblutungen hatten aufgehört, und weiter konnte man nichts für sie tun. Sie meinte, an seinem Verhalten zu erkennen, dass er ihr noch immer unterstellte, etwas gegen ihre Schwangerschaft unternommen zu haben, sagte aber nichts. Sie war froh, dass sie nach Hause durfte. Aus dem überfüllten Zimmer fortkommen, im eigenen Bett schlafen, ein Bad nehmen, bei Hannes sein – der versucht hatte, sie zu besuchen, jedoch nicht vorgelassen worden war, was Mariana mitbekommen hatte, die alles mitbekam. Florentine war oft zum Bett der Zigeunerin gegangen, sie hatten das Fenster einen Spalt geöffnet und dem Schneetreiben auf der Straße zugesehen.
Mariana trug einen weiten, bodenlangen Hausmantel und ließ die Beine baumeln wie jemand, der auf einer Mauer saß. Sie erwartete ihr viertes Kind und war seit Wochen im Krankenhaus. Sie wusste, wie man eine größere Portion Essen erhielt, was man tun musste, damit die Hausschuhe nach dem Putzen nicht verschwanden, und sie zeigte ihr ein Stockwerk tiefer Toiletten, die die Schwestern benutzten.
„Woher weißt du all diese Dinge?“, hatte sich Florentine erkundigt.
„Indem ich nicht danach frage.“
„Wenn dein Sohn kommt“, riet Mariana zum Abschied, „lauf Treppen. Lass dich von diesen Teufeln nicht ans Bett binden.“
Florentine war kaum überrascht, als die Zigeunerin von einem Sohn sprach. Ihre inneren Vermessungen hatten sie zu demselben Ergebnis geführt. Im Zug legte sie die Hände auf den Bauch, flach, die Finger gespreizt, und konzentrierte sich auf die Umrisse des Jungen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie in die falsche Richtung fuhr. Sie stieg an der nächsten Station aus und fand sich auf einem verlassenen Perron wieder. Wann der nächste Zug kommen würde, war nicht auszumachen. Die Bahnhöfe im Banat waren so eingerichtet, als gäbe es keine Notwendigkeit, irgendwo anzukommen. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel war wässrig blau, Krähen spannten Bögen übers Feld. Und während Florentine Eiszapfen von einer Überdachung brach und an den Mund führte, verwandelte sich alles.
Das Blau tief, die Bögen fort.
Sie setzte sich auf einen Stein und wartete auf einen Zug, der sie wieder zurück nach Arad brachte.

Iris Wolff. Die Unschärfe der Welt. Mit freundlicher Genehmigung von © Klett-Cotta – J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 2020

Schlagwörter: Iris Wolff, Schriftstellerin, Lebendige Worte, Roman, Banat, Siebenbürgen, Literatur

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