28. November 2006

Heimatlosigkeit ein Phänomen unserer Zeit

Einen bemerkenswerten, pointierten Festvortrag zum Thema „Heimat und Heimatverlust“ hielt der Tübinger Historiker Prof. Dr. Dr. Harald Zimmermann am 8. Oktober in Freiburg, im Rahmen des diesjährigen Tages des Heimat, den die Kreisgruppe Freiburg der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland ausrichtete. Im Folgenden wird der an Bezügen zu aktuellen politischen Themen, vor allem zur Integrationsdebatte, reiche Vortrag ungekürzt wiedergegeben.
Liebe Landsleute, wo immer Sie hergekommen sind: aus dem Baltikum oder aus dem Banat, aus Baden und dem Breisgau oder eben aus Siebenbürgen! Es gibt also noch Heimattage bei uns, Tage der Heimat wie heute und hier, und das ist gut so; wie es ja auch noch Heimatortsgemeinden gibt, wenigstens bei uns Siebenbürger Sachsen, und es ist gut so, dass es sie noch gibt, wegen der Erinnerung an Herkunft und Heimat. Herkunft hat jeder von uns, hat jeder Mensch. Ob auch Heimat? Gibt es das noch und wo gibt es sie? Das ist die Frage, und mir scheint, heutzutage mehr denn je. Ist nicht eher Heimatlosigkeit das Phänomen und Problem unserer Zeit?

Himen, himen, himen!


Vor ca. 50 Jahren gab es für die Siebenbürger Sachsen ein Buch, das nannte sich „Heimatfibel für jung und alt“. Ich habe es geschenkt bekommen, damals, als ich noch jung war, und ich hatte es jetzt zur Hand genommen, um mich auf heute vorzubereiten und einzustimmen. Da fand ich seitenlang viel unter dem Titel „Aus unserer großen Geschichte“, aus der großen Geschichte eines kleinen Landes und eines noch kleineren Völkchens, wie wir es sind: Historien, Histörchen, Storys, Märchen und Geschichten für Jung und Alt, alles sehr prosaisch. Dann fand ich auch etwas Poetisches, ein Heimatgedicht: Kent ech nor ist hime kunn! / Himen, himen, himen! / Ach! ech will net wedder kunn, / Wil de Zejt verdrimen. / Doch nea packt mich Sihnsucht an / No em ställen Drimen – / Kent ech nor ist hime kunn, / Himen, himen, himen! - Die Siebenbürger Sachsen mögen mir mein schlechtes Sächsisch verzeihen. Ich hab’ es nie richtig gelernt zu Hause, denn der Dialekt galt damals nicht als fein, und heute hab’ ich keine Übung. Ich kann nicht einmal korrekt übersetzen, nämlich was „himen“ heißt, wie man dazu hochdeutsch sagt oder in Baden und dem Breisgau. „Na himen kunn“, soll man sagen: „Nach Hause kommen“? Aber unter einem oder einer, der oder die nach Hause kommt, stell ich mir jemanden vor: müde nach einem langen Tag der Arbeit; und wenn dann auch zu Hause alles endlich getan, was getan werden muss, dann, ja dann ... Was macht ein moderner, müder Mensch zu Hause?

Das kann alles sehr gemütlich sein zu Hause, wenn man sich endlich setzen kann. Man besitzt dies und das, was man sich so anschaffen konnte im Laufe der Zeit. Man kann es sich heimelig machen, aber „himen“ ist man dann wohl noch lange nicht: „Kent ech nor ist hime kunn! Himen, himen, himen!“ So ein heimeliges Zuhause kann es überall geben in der weiten Welt und schnell auch gewechselt werden bei der heutigen Mobilität der Menschen, die alle miteinander „mobil“ sind, egal ob in Europa oder Amerika, in Afrika, Asien oder Australien. Angeblich fühlt man sich nirgends fremd und versteht sich überall ganz gut, wenn man bloß Englisch versteht. So laut der FAZ vor wenigen Tagen. Wozu also noch Heimattage und Heimat?

Ubi bene, ibi patria, sagt der Lateiner. „Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland, da bin ich zu Hause“. So hat schon vor mehr als 2000 Jahren ein alter Römer geschrieben, damit die Schüler in unseren Schulen heute darüber schreiben können, von ihren Lehrern zu rechten Weltbürgern erzogen, möglichst ohne Vater- und Mutterland, ohne Heimat und Herkunft. Wozu auch? Ubi bene, ibi patria. Der alte Römer, Cicero oder Kikero hat er geheißen, und wir haben gekichert in der Schule über diesen Namen; Cicero hat es leicht gehabt: Fast die ganze Welt war damals Rom und gehörte den Römern. „Ich bin in meinem Vaterland, in meiner patria, ich bin zu Hause“, konnte Cicero sagen in Klein-Asien und in Nordafrika, wenn er in Griechenland oder Gallien Urlaub machte; und wenn er länger gelebt hätte, dann hätte er eine „römische Villa“ im Breisgau haben können oder in Klausenburg in Siebenbürgen, was damals Napoca hieß und in Dacia lag. Überall hätte man sein Latein verstanden – anders als heute. Ubi bene, ibi patria. „Wo’s mir gut geht, ist mein Vaterland!“ Vielleicht hat man aber doch nicht ganz verstanden, was der Kicherer Cicero gemeint hat. Er schrieb über patria auch in etwa so: „Ich weiß nicht, warum und wieso mir etwas heimlich ans Gemüt geht, wenn ich patria / Vaterland höre, lese, schreibe, sage. Ich weiß nicht, was das ist.“

Das Vaterland ist nicht mobil


Ubi – ibi – überall. Irgendwie klingt Vaterland nicht wie „überall“, ist Heimat nicht egal wo in der Welt. Wenn ich an meinen Vater denke und an sein Heimweh, lebenslang unerfüllt, zuerst aus finanziellen, dann aus politischen Gründen! Gut, dass es einen Verein der Siebenbürger Sachsen in Wien gab, in dem man sozusagen zu Hause war. Wenn ich an meinen Vater denke, dann ist mir sein Vaterland nicht egal, dann ist das Land meines Vaters eben mein Vaterland, ganz und gar nicht mobil, übertragbar, verlegungsfähig. Ich weiß nicht, warum und wieso. Es ist einfach so! Ich denke an Vater und Mutter und an den Vater des Vaters und an die Mutter der Mutter und an deren Vater und Mutter, immer weiter zurück in der Geschichte von Vaterland und Mutterland.

Zugegeben, es gibt auch andere unter unseren Landsleuten. Erst vor wenigen Wochen sagte mir einer: „Für mich ist Siebenbürgen ein abgeschlossenes Kapitel meines Lebens. Was soll ich in und mit einem Land, wo man uns Sachsen alles, aber auch alles weggenommen hat, uns von zu Hause wegdeportiert hat, jahrelang zur Zwangsarbeit wie Sklaven im Donbass und in den Baragan, als Deutsche und nur weil wir Deutsche sind. Gut, dass es vorbei ist. Hieß nicht einmal ein Kinofilm ‚Blick zurück im Zorn‛? So tue ich vielleicht nicht, aber: Was soll’s? Ich bin jetzt hier mit Kindern und Enkeln, zum Teil schon hier geborene. Wozu daran, wozu zurück noch denken? Ich weiß es nicht!“

Und ebenfalls erst vor wenigen Wochen sagte mir eine waschechte „Reichsdeutsche“ bzw. „Bundesdeutsche“ ohne jeden Migrationshintergrund, wie das heute so schön heißt und den wir alle haben: „Hätten sich die Siebenbürger Sachsen besser den Rumänen integriert, statt ständig zu schreien: Wir sind Deutsche, wir sind Deutsche, wir sind Deutsche, dann wäre es ihnen wohl besser ergangen in ihrer Geschichte.“ Meine Gesprächspartnerin hat – wie gesagt – keinen Migrationshintergrund, aber auch keinen historischen Hintergrund. Wie vielen hätten wir Siebenbürger Sachsen uns integrieren müssen in den letzten 850 Jahren? Erst den Ungarn, in deren Königreich man uns gerufen hat wegen der dauernden Kriege und zur dauernden Kultivierung des Landes; dann den Türken, denen man Tribut zahlen musste aus Siebenbürgen; dann für ein paar Wochen dem Mihai Viteazul und seinen siegreichen Walachen, viele Monumente mahnen; dann den Österreichern als brave Untertanen des Kaisers in Wien; dann wieder den Ungarn, den gar nicht braven Untertanen des Kaisers und Königs; dann den Rumänen und ihrem deutschstämmigen König aus Hohenzollern-Sigmaringen; dann halb den Ungarn, halb den Rumänen; dann ganz und gar den Genossen, den tovarișelor.

Defizit an historischem Wissen


Davon hört man freilich nichts in deutschen Schulen, davon ist nichts vorgesehen in deutschen Lehrplänen und nichts davon gehört zur deutschen Erinnerungskultur und deutscher Vergangenheitsbewältigung. Hätten sich im hohen Mittelalter die deutschen Kolonisten in der Mark Brandenburg integriert, dann wäre Berlin heute vielleicht das Herrenhaus des Häuptlings eines slawischen Völkchens – oder, wie man heute sagt, einer Ethnie – zwischen Polen und Deutschland, aber nie und nimmer deutsche Hauptstadt. Als Berlin 1244 zum ersten Mal genannt wurde in den Geschichtsquellen, war Riga schon längst eine Lübecker Pflanzstadt mit deutscher Gemeinde unter einem deutschen Erzbischof, und in Ostpreußen gab es längst den Deutschen Ritterorden, der vorher in Siebenbürgen gewesen war, und in Schlesien waren viele villae Teutonicorum begründet worden, deutsche Dörfer mit deutschem Recht, und in Prag hatten die Teutonici schon längst verbrieft bekommen, dass sie nach deutschem Recht leben dürften, und in Budapest, auf der Ofener Burg, begann man mit dem Bau der Matthiaskirche, heute ein Touristenmagnet; aber niemand sagt den Touristen, dass dies die ehemalige Kirche der hier wohnenden deutschen Bürger war. Zwanzig Jahre vor Berlin erhielten 1224 die Siebenbürger Sachsen ihren Goldenen Freibrief und waren schon seit Jahrzehnten dort in Siebenbürgen daheim, gerufen von Geisa II., dem König der Ungarn. Berlin ist ein Spätling der deutschen Ostkolonisation. Ob man das wissen soll oder muss? Vielleicht müsste man die Lehrpläne der Schulen ändern, und vorher die Politiker in Berlin und allen Bundesländern.

Heimatlosigkeit ist ein Defizit an historischem Wissen. Heimat gehört zur Menschheitsgeschichte, nicht zur Naturgeschichte. Heimat hängt nicht an der Bewunderung eines Bergmassivs, sondern dass man sagen kann: „Da war ich oben mit Vater und Mutter; welch ein Erlebnis; ich war erst zehn – und dort am Bach bauten mein Bruder und ich unsere Kalib – dort war unser Schulweg – dort gab mir menj Schazken den ersten Kuss – dort in unserer Kirche haben fast alle meine Vorfahren Hochzeit gehalten – unsere Stadt hatte aber auch böse Zeiten, als der Tatter kam und als ein Adelsherr hier seine Burg baute, aber das haben wir uns nicht gefallen lassen und haben das Schloss gestürmt und aus den Trümmern den Kirchturm gebaut, und oben ist der Ritter eingesperrt: man sieht ihn jetzt noch; so war’s, so haben’s wir gemacht.“ Wir – wir – wir. Heimat hängt am Wir-Gefühl, an Erlebnisgemeinschaft, an Generationen überbrückender Zugehörigkeit, am Sich-dazu-zählen, am Miteinander, am Wir.

In Berlin beraten Politiker immer wieder, was man wissen muss und wissen sollte, um ein Deutscher zu sein. Es ist so gut wie nichts, so schlecht wie nichts, schlechterdings nichts, und ob das gut geht in der Zukunft? Selbst beim Sprachtest gibt es, wie man hört, Ausnahmen. Wozu braucht auch ein Bachelor Deutsch, und mindest ein Bachelor sollte ja jeder Deutsche sein, um amerikanischen Normen zu entsprechen, wenn nicht gar Master mit oder ohne Meister-Prüfung, mit oder ohne Magister-Diplom. Ob man jemandem mit Migrationshintergrund zumuten kann zu sagen: „Goethe ist doch unser größter deutscher Dichter, unser größter!“ Vielleicht sagt er: „Io preferisco ‚I Promessi Sposi’ di Alessandro Manzoni“ oder: „En szeretem olvasni Petöfi Sándor verseit“ oder „Schuld und Sühne“ von Dostojewski finde ich aufregender“.

Schuld und Sühne: Wenn Integration mit Wir-Gefühl zu tun hat, mit Dazugehörigkeit, und wenn – wie man sagt – zur deutschen Identität Schuld und Sühne wesentlich dazugehören, dann eben auch das Bekenntnis dazu. Aber wäre es nicht absurd, das etwa einem Wolga-Deutschen zuzumuten, der den letzten Krieg in Kasachstan als Deportierter gerade noch überlebt hat, oder einem deutschen Juden mit russischem Migrationshintergrund? Würde das nicht aus Opfern Täter machen? Wenn es aber Ausnahmen gibt von der deutschen Schuld-und-Sühne-Gesellschaft mit (un)beschränkter Haftung, dann: Warum sollen sich meine Kinder und Enkel schuldig fühlen für etwas längst vor ihrer Zeit und wofür auch ihre Groß- und Urgroßeltern nicht schuldig gesprochen, nicht verurteilt wurden?

In jüngster Zeit hat das späte „Bekenntnis“ von Günter Grass für Medienwirbel gesorgt. Mir ist erinnerlich, dass unmittelbar danach und noch in derselben Fernseh-Nachrichten-Sendung ein Sprecher sagte, die SS-Division Frundsberg sei in Frankreich stationiert und an keinerlei Untaten beteiligt gewesen. Wenn es also auch hier Ausnahmen gibt, die öffentlich anerkannt werden, dann stimmt wohl nicht, dass durchwegs alle Angehörigen der SS Verbrecher waren. Wahr ist vielmehr, was mir ein siebenbürgischer Freund, ein Pfarrerssohn aus Nösen, erzählte, dass er und seine Kameraden am Kriegsende auf der Flucht in den Westen erst auf deutschem Boden von einem deutschen Zivilisten aufgeklärt wurden: „Nehmt doch eure Abzeichen ab; wisst ihr nicht, dass ihr eine verbrecherische Organisation seid?“ – Sie wussten es nicht, die da alle aufgrund eines Menschenhandels zwischen Bukarest und Berlin nach feierlichem Gottesdienst in der heimatlichen Kirche von zu Hause in den Krieg unterm Totenkopf entlassen wurden. – Und auch Josef Ratzinger hat erst am Kriegsende die NS-Abzeichen abgelegt vom Arm, von der Brust und vom Kopf, und niemand zweifelt an der Rechtmäßigkeit seiner Papstwahl. Und die kürzlich verstorbene Elisabeth Schwarzkopf, deutsch oder deutschstämmig aus Posen, war zweifelsohne eine begnadete Sängerin, obwohl dazu in Deutschland ausgebildet mit HJ-Hochbegabten-Stipendium. Und der aus Österreich stammende Herbert von Karajan war Mitglied der NS-Partei seit Anfang an, wohl weil er sich in Deutschland integrieren wollte, was man damals sicher wie heute lobt.

Vielleicht darf man sich manchmal doch die Amerikaner als Vorbild nehmen. Weltweit treten sie für Freiheit und Gleichheit ein und das verdient allen Respekt. Aber keinem Amerikaner würde es wohl einfallen zu sagen: „Wir tun das vor dem Hintergrund unserer amerikanischen Geschichte“, weil bei uns die Sklaverei erst vor 150 Jahren abgeschafft worden ist, lange nach Europa und nicht ohne kriegerischen Widerstand, und weil erst vor 50 Jahren ein evangelischer Pfarrer, Martin Luther King, ein Schwarzer, die Rassendiskriminierung zu Fall gebracht hat.

„Deutscher, aber kein Deutschländer“


Ein Schuldbekenntnis fällt nie leicht. Wir Deutsche sind angeblich Weltmeister geworden in dieser Disziplin, wenn auch nicht im Fußball, der uns aber einen neuen Patriotismus beschert hat, wie es heißt. Überall schwarz-rot-gold, wie zum ersten Mal in den Befreiungskriegen gegen die Franzosen und Napoleon vor rund 200 Jahren. Freilich, für Napoleon waren die deutschen Freiheitshelden nur Rebellen und Terroristen, die Schill’schen Offiziere in Preußen 1809 und Andreas Hofer 1810 in Tirol, wo man singt: „Ganz Deutschland lag in Schmach und Schmerz, mit ihm sein Land Tirol.“ Ja, Geschichte verstehen fällt nie leicht. Um richtig zu urteilen, muss der Historiker vergleichen, was mit Relativieren absolut nichts zu tun hat. Es gibt keine andere historische Methode.

Das beste Buch über die deutsche Ostsiedlung stammt von einem Franzosen. Das beste Buch über deren Ende, über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten stammt von einem Amerikaner, von einem aus Spanien stammenden Amerikaner, einem Spanisch-Stämmigen. Alfredo Maurice de Zayas hat unter anderem auch in Tübingen studiert und arbeitet in Genf bei der UNO im Referat für Flüchtlingsfragen. Sein Buch, erst im Sommer neu erschienen, heißt: „Die deutschen Vertriebenen, keine Täter, sondern Opfer“, ein Titel, den wohl kein deutscher Autor seinem Werk zu geben gewagt hätte; darin Belege, Berichte, Bilder, die man nur mit Erschütterung und Entsetzen betrachten kann: „Keine Täter, sondern Opfer!“ Das Buch endet mit einem Zitat von Papst Benedikt XVI.: „Heimat ... gehört zum Menschen und zu seiner Geschichte und darf niemandem gewaltsam genommen werden.“ – „Dem ist nichts hinzuzufügen“, schreibt dann de Zayas. – Das klingt recht fromm, stimmt aber nicht. Den Worten wären Taten hinzuzufügen in Genf und New York, in Straßburg und Brüssel, in Berlin und auch in Rom: eine lange Liste längst nötiger Taten.

Das andere Buch von dem Franzosen über „Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter“ steht mir als Mittelalter-Historiker näher. Charles Higounet war Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Bordeaux und ist 1988 gestorben. Er erzählt im Vorwort, dass er als französischer Offizier in deutscher Kriegsgefangenschaft in Schlesien war und, wie auch andere Mitgefangene, die Erlaubnis hatte, in der deutschen Universität Breslau zu studieren und Bücher aus der Universitätsbibliothek zu entleihen, ins Gefangenenlager. Ich zitiere: „Alle 14 Tage mußte ein junger Feldwebel, im Zivilberuf Lehrer im Badischen, für uns den Chauffeur spielen.“ Anscheinend ging es nicht nur in die Universitätsbibliothek und wieder zurück: „Wir hatten auch Gelegenheit, Bücher zu kaufen“ und „Außer den Büchern habe ich auch eine gewisse Kenntnis des Landes erworben“. Alles Zitate aus dem Buch. – Es muss recht humane Gefangenenlager in Deutschland gegeben haben, nur muss man das Jahrzehnte später auf dem Umweg über Südfrankreich, aus Bordeaux, erfahren.

Charles Higounet hat sich vergleichend mit Migrationsbewegungen auch abgesehen von der deutschen Ostkolonisation beschäftigt, beispielsweise mit Spanien und Portugal, wo in der Reconquista gar durch Kreuzzüge das Land von den Muslimen freigekämpft wurde, um Platz zu schaffen für christliche Siedler, wo also Vertreibung stattfand. Im Buch über „Die deutsche Ostsiedlung“ gibt es kein Kapitel über „Gewalt in der deutschen Ostkolonisation“. Für Siebenbürgen könnte ich nur einen einzigen Fall nennen, als der Deutsche Ritterorden im Burzenland war.

Der deutsche Bürgermeister von Hermannstadt, Klaus Johannis, hat neulich in einem Interview bekannt, er sei Deutscher, aber kein Deutschländer. Das hat dem deutschen Journalisten gefallen, innenpolitisch korrekt und außenpolitisch ungefährlich: ein richtiger Deutscher kann man nur in Deutschland sein, nur mit deutschem Pass. Ob das stimmt? Muss man dann nicht auch unterscheiden zwischen Russen und Russländern, zwischen Türken und Türkei-ern, zwischen Portugiesen und Portugal-en, grenzt sich die dänische Minderheit in Nordschleswig von den Dänemarkern jenseits der Staatsgrenze ab, und sind die Franzosen in Kanada etwas anderes als die Frankreich-er in Europa? Ja.

Muss in Deutschland jeder deutsch integriert sein?


Nach dem Pass hat im Mittelalter niemand gefragt, wohl aber nach der Herkunft. Es galt, dass jeder Mensch ein ihm angeborenes Recht habe, unverlierbar und sozusagen an den Knochen haftend, das er mit sich trage, wo immer er sich aufhalte. Nach diesem Recht wurde er beurteilt und gefragt; zu ihm musste er sich bekennen, wenn irgend etwas sozusagen behördlich geregelt werden sollte. Es galt das persönliche Recht, noch nicht Territorialrecht. Wenn der Ungarn-, Polen- oder Böhmenkönig also deutsche Kolonisten haben wollte, musste er ihnen konzedieren, in ihren Siedlungen nach ihrem gewohnten deutschen Recht zu leben, unter von ihnen selbst gewählten Richtern, die dieses Recht kannten und auch sprachlich imstande waren es anzuwenden. Das haben denn auch die Könige getan, in Siebenbürgen von Broos bis Draas, im Nösner Gau, im Burzenland. Identitätsmerkmal war hier das deutsche Recht.

Warum soll das nicht heute auch so sein? Warum muss in Deutschland alles deutsch integriert sein, zwar nicht von der Maas bis an die Memel, aber von der Nahe bis zu Neiße und vom Feldberg bis nach Flensburg? Muss es so sein, weil man sich gefälligst der Majorität anzuschließen hat? Aber wir Deutschen haben ja leidvoll erlebt, dass Majoritäten Unrecht haben können und bei der Minorität das Recht ist. Muss es so sein, weil der Staat, die Obrigkeit, die Regierung das so will? Das wäre ja ein Zwangsstaat. Das wäre ja so ähnlich wie im so genannten Konfessionellen Zeitalter, als 1555 ein Reichstag in Augsburg beschloss, dass jeder Untertan sich in der Religion nach seinem Fürsten zu richten habe: Das war sicher keine gute Idee und kein Geschichtslehrer würde in der Schule das behaupten wollen. Es hat entweder zur Heuchelei geführt oder zu Heimatlosigkeit. Tausende Hugenotten mussten aus Frankreich weg, 20 000 evangelische Salzburger wurden aus dem Erzbistum vertrieben, und die brav katholischen Habsburger schickten ihre protestantischen Untertanen aus dem „Landl“, aus Oberösterreich und von anderswo als Landler nach Siebenbürgen, übrigens auch aus Vorderösterreich, aus dem Breisgau, aus dem Hauensteinerland, aus dem Schwarzwald und natürlich aus den Gebieten von St. Georgen und St. Blasien.

Siebenbürgen war und blieb ein „Land der Duldung, jedes Glaubens sichrer Hort“, wie es in unserer Hymne heißt. Diese von dem Preußen May Moltke 1846 während eines Siebenbürgen-Aufenthaltes gedichtete Hymne zählt auf, was es in diesem Lande alles zu bewundern gibt. Nur ein kleiner Teil davon ist heute als Weltkulturerbe anerkannt. Man könnten noch viel mehr nennen und müsste es sogar tun: Wenn Sie zum Beispiel mit dem Auto nach Siebenbürgen kommen, dann fahren Sie durchs Harbachtal und finden rechts in Henndorf die meines Erachtens schönste Kirchenburg. Meinen Familiennamen liest man auf Kanzel und Empore. Und wenn Sie in Kronstadt zu Fuß durch die Fußgängerzone gehen, dann sehen Sie vor sich die Schwarze Kirche, den östlichsten gotischen Dom, in dem noch immer deutsch gepredigt wird und die Hälfte meiner Vorfahren sind dort getauft, getraut und ausgesegnet worden. Wir biegen aber links ab, am Apollonia-Haus vorbei und rechts die zweite Gasse zu Haus Nr. 5: für mich Weltkulturerbe. Und jetzt wären eigentlich Sie dran, welches Weltkulturerbe Sie noch ganz speziell nennen wollen, und wohin Sie Ihre Kinder und Enkel führen, wenn Sie nach Siebenbürgen kommen.

Ähnlich wie der Hermannstädter Bürgermeister Johannis haben Stephan Ludwig Roth und andere schon vor 150 Jahren in ihrer Grußadresse namens der siebenbürgisch-sächsischen Jugend an die Frankfurter Nationalversammlung 1848 unterschieden zwischen Vaterland und Mutterland, Siebenbürgen und Deutschland. Sie könnten nun entscheiden, was für Sie das eine und das andere ist. Heimat ist für uns wohl beides und sollte es auch bleiben: Deutschland und Sevenbergen. Ob man jemals in Deutschland ein Mahnmal gegen Vertreibung wird errichten können, weiß ich nicht. Die politische Großwetterlage und auch die politische Kleinwetterlage ist eher dagegen. Für die Losung „Vertreibung ächten“ muss man vielleicht erst Rechtsgeschichte studieren, um zu wissen, was das heißt und welche Folgen es hat. Ich würde für mich anders formulieren, nämlich: Wer etwas sagt gegen mein Vaterland, mein Mutterland, gegen Detschland und Sewenbergen, wer es schlecht macht unter uns, vor der Hintergrund unserer Geschichte oder auch ohne Hintergrund, den will ich nicht ächten, aber von ganzem Herzen, gründlich und mit Inbrunst verachten.

Schlagwörter: Vortrag, Geschichte

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