17. August 2007

„Einbruch in die Moderne“ – Rumänienbild durch die Epochenbrüche

Vor rund 200 Gästen eröffnete Gernot Erler, Staats­minister im Auswärtigen Amt und Präsi­dent der Südosteuropa-Gesellschaft, am 19. Juli in der Glashalle des Tübinger Landratsamts die Ausstellung „Brechungen. Willy Pragher: Ru­mänische Bildräume 1924-1944.“ Der Staats­minister hob dabei die Art und Weise hervor, in der der „Europäer“ Pragher den Einbruch der Moderne in eine rückständige Agrargesellschaft dokumentierte. Mihai Gheorghiu, Staats­se­kre­tär im rumänischen Außenministerium, er­kannte in den Aufnahmen das Bild eines Landes vor dem „historischen Trauma“ des Kom­munismus. Zeno Karl Pinter, Unterstaats­sekretär im Bukarester Departement für Inter­ethnische Beziehungen, hob Praghers Interesse für die re­gio­nale und ethnische Vielfalt des Lan­des hervor. Seine Bilder vermittelten Ethnizität als wesent­lichen Faktor von Gemeinschafts­bildung. Ab 18. August ist die Ausstellung in Hermannstadt zu sehen.
Die vom Institut für donauschwäbische Ge­schichte und Landeskunde, Tübingen, und vom Landesarchiv Baden-Württemberg (Staats­archiv Freiburg) präsentierte Ausstellung zeigt 172 großformatige Fotografien, die der Berliner und Freiburger Bildjournalist und Repräsentant des „Neuen Sehens“, Willy Pragher (1908-1992), in seiner väterlichen Heimat aufgenommen hat. Mit über 12 000 Fotos zählt sein Nach­lass im Staatsarchiv Freiburg zum Grund­be­stand historischer Bildquellen über Rumä­nien in dieser Zeit.
Willy Pragher, Hermannstadt: Blick auf die Dächer ...
Willy Pragher, Hermannstadt: Blick auf die Dächer der Innenstadt, 25. Mai 1941. Foto: © Staatsarchiv Freiburg
Vor dem Hintergrund der Epo­chen­umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts werden die politischen und kulturellen Bruch­linien der ru mänischen Zeitge­schichte und der von Prag­her mitgestaltete Wan­­del in der fotografischen Wahrnehmung des Landes thematisiert. Die Ausstellung zeigt meisterhafte Dokumente aus einem Land, das damals noch vor dem großen Umbruch stand und zu den östlichen Wachs­tumsregionen des Kon­tinents zählte, ja gewissermaßen als Schwellenland be­trachtet wurde. Es sind Bilder, die in Willy Pra­ghers eigener Weise die Porträts von Land­schaften, Städten und Menschen miteinander ver­binden und daraus etwas entstehen lassen, was viel mehr ist als bloße Bildrepor­tage.

Das Interesse des Fotografen für diesen Raum wird vor dem familiären und biographischen Hintergrund verständlich. Als Sohn eines aus Bukarest eingewanderten Chemieingenieurs und einer aus dem sächsischen Mittweida stammenden deutschen Mutter hat Pragher die Kon­takte zu der väterlichen Heimat stets aufrechterhalten. Der Großvater Willy Praghers kam als junger Kaufmann aus Mähren nach Bukarest. Sein in zentraler Lage, auf der Calea Victoriei, der Prachtstraße der rumänischen Gründerzeit, gelegene Laden florierte: Der erfolgreiche Händ­ler schaffte es in wenigen Jahrzehnten in das wohlhabende Bukarester Bürgertum aufzusteigen. Nach dem Tode des Großvaters eröffnete sich dem Vater des Fotografen, Moritz Sigismund Prager, ein neues Feld beruflicher Betätigung. 1937 kehrte der seit 1908 in Berlin lebende und zeitweilig im Automobilhandel tätige Chemie­ingenieur nach Bukarest zurück. Kaum zwei Jahre später, im März 1939, vermittelte er auch seinem Sohn eine Arbeitsstelle als Grafiker bei dem Buka­rester Erdöl- und Gasunternehmen OSIN.

Der Wohn­ortwechsel ins Ausland sollte den Lebens­entwurf des Fotografen tiefgreifend verändern. Im lebensgeschichtlichen Rückblick führte Pragher dafür auch politische Gründe an: fehlende Liberalität und die Verschlech­terung des „Klimas für Künstler und Freischaf­fende“ im nationalsozialistischen Deutschland als Gegen­satz zu der in Rumänien vorgefundenen „relativen Freiheit“. Der Umzug hatte sich zumindest unter publizistischen Gesichtspunk­ten gelohnt: Pragher war nebenberuflich als Journalist und Werbefotograf tätig und konnte in der überschaubaren rumänischen Illustrier­ten­landschaft Fuß fassen. Einen ersten Kar­rierehöhepunkt als Fotograf erreichte er mit dem 1942 im Berliner Wiking Verlag zweisprachig erschienenen Bild­band „Bukarest – Stadt der Gegensätze. Bucu­rești – orașul contrastelor“, auf dem seine Be­kanntheit sowohl in der deutschen als auch in der rumänischen Öffent­lichkeit gründete.

Willy Praghers Rumänienfotografien sind auf mehreren Fotoreisen entstanden, die ihn von 1924 bis 1944, 1971 und zuletzt 1988 in alle Regionen des Landes, vor allem aber in das südliche Altreich, nach Siebenbürgen und in das Banat führten. Nach 1940 ist das an Ungarn abgetretene Nordsiebenbürgen in Praghers Bild­archiv kaum vertreten. Dafür fehlte ihm die journalistische Akkreditierung, auch lag das Gebiet abseits von seiner Reiseroute nach Ber­lin. 1971 bereiste er das Land abermals, auch die nordsiebenbürgischen Gebiete, insbesondere Klausenburg und Großwardein. Um den Wandel sichtbar zu machen, betrachtete er manche städtischen Motive (Bukarest, Hermann­stadt, Kron­stadt) vom Standort früherer Auf­nahmen aus. Neben Aspekten des gesellschaftlichen und politischen Lebens dokumentierte er in seinen rumänischen Bildräumen vor allem städtische Lebensformen. Seine Fotos kreisen um das Ver­hältnis von Tradition und Moderne und bilden die industrielle Arbeitswelt des damaligen Schwellenlandes ab. Damit unterscheidet er sich von anderen Reisefotografen, die vorwiegend die ländliche Traditionsgesell­schaft eines rückständigen Agrarstaats vermitteln.

Als Pressefotograf steht Pragher im Span­nungsfeld zwischen Dokument und Erfindung. Seine Bilder entwerfen scheinbar objektive Sach­verhalte: Raumstrukturen und Land­schafts­­formen, Lebensweisen der Menschen und die sie umgebende Dingwelt. Ohne sich vordergründig auf politische oder ideologisch motivierte Posi­tionen festzulegen, berichtet er über Ereignisse, die die Entwicklung des Landes im Innern und im europäischen Kontext bestimmen. Seine von der Sehweise der klassischen Mo­derne und der Avantgarde geprägten wie auch am Fotografie­konzept der Neuen Sach­lichkeit geschulten Bild­inhalte unterscheiden sich auffällig von anderen Darstellungen des Lan­­des in der deutschen Öffentlichkeit jener Zeit.

Zwischen den beiden Weltkriegen beeinflussten drei deutsche Fotografen – Kurt Hielscher (1881–1948), Hans Retzlaff (1902–1965) und Willy Pragher (1908–1992) – die visuelle Ge­stal­tung des deutschen Rumänienbilds maßgeblich. Ihre Rumänienbilder schließen sowohl Gemein­samkeiten, aber auch konkurrierende Bilder und Deutungen ein. Als Klassiker der modernen Reisefotografie setzte Hielscher zwar hohe foto- und druckästhetische Maßstäbe, das von ihm vermittelte Bild war jedoch eher rückwärts gewandt. Sein Auftraggeber – die rumänische Regierung – knüpfte bestimmte Er­war­tungen an einen verständnisvollen und authentischen Blick auf ein Agrarland, das durch seine politische Rolle in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan größere öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Der „völkische“ Blick Retz­laffs hingegen verengte den räumlichen Aus­schnitt fotografischer Betrachtung auf die „volks­deutschen“ Siedlungsräume. Im Unter­schied zu anderen Fotografen, die in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in das Land kamen, um es nach kurzer Zeit wieder zu verlassen, verlegte Pragher seinen Lebensmittel­punkt dauerhaft in die rumänische Hauptstadt. Die Intensität seiner im familiären Hintergrund verwurzelten Erfahrung von Raum und Men­schen wie auch seine der Moderne verpflichteten weltanschaulichen und ästhetischen Vor­stel­lungen heben ihn von seinen westeuropäischen und deutschen Zeitgenossen unverkennbar ab.

Bei den Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben fühlte Willy Pragher sich „fast wie zu Hause“. Sie waren nicht nur privilegierte Sub­jekte seiner Aufnahmen, sondern er teilte auch ihr Schicksal. Beim Frontwechsel Ru­mä­niens konnte er zwar der sowjetischen Kriegs­ge­fan­genschaft zunächst entkommen. In rumäni­schen Gewahrsam genommen kam er nach mehrmaliger Verlegung nach Târgu Jiu (Olte­nien), dem berüchtigten Sammellager für einen weiten Per­sonenkreis „reichsdeutscher“ und „volks­­deut­scher“ Herkunft. Von hier wurde er am 13. Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sow­jet­union deportiert. Im Dezember 1949 wur­de Pragher aus dem am Ural gelegenen Ar­beits­lager entlassen und kehrte nach Deutsch­land zurück. Es waren unter anderem seine Ru­mä­­nienbilder, die ihm einen publizistischen Neu­­anfang in Freiburg ermöglichten. Bezeich­nenderweise waren es Aufnahmen, die die Tra­ditionsgesellschaft der von Heimatverlust be­troffenen Siebenbürger Sachsen und Banater Schwa­ben zum Gegenstand hatten, und die Do­nau als völkerverbindende Wasserstraße präsentierten.

Wenn auch nicht ausdrücklich thematisiert, so soll die Ausstellung dem Betrachter die Per­spektive auf übergreifende Fragen von Konti­nuität und Wandel visueller Bildstereo­typen mit Bezug auf Rumänien eröffnen. Vielleicht mag das damalige Bild, für das Willy Pragher fotografisches Werk emblematisch steht, auch der Gegenwart Denkanstöße bieten. Einzelbilder der Ausstellung, bestimmte Bild­motive und Topoi erinnern den Betrachter an Fremdbilder und Klischees, die teilweise auch noch heute wirksam sind. In den letzten Jahren ist uns das bäuerliche Ochsen- oder Büf­fel­gespann Pra­ghers als Symbol von Rückstän­digkeit und dauerhafter Topos der Wahr­neh­mung rumänischer Wirk­lichkeit mehrfach in der deutschen Tages­presse begegnet.

Das sich aus einzelnen Mo­saik­steinen im Kopf des Be­trachters zusammensetzende his­torische Ru­mänien­bild zeigt, wie schwierig es ist, der strukturellen Kom­plexität des heutigen, von den Medien kolportierten und an das Land herangetragenen Bil­des gerecht zu werden. Aber auch Betrachter, die keinen Bezug zu dem von der Ausstellung thematisierten Raum und dessen national- und regionalspezifischen Bild­gedächt­nis haben, werden sich dem emotionalen Ein­druck des dar­gebotenen visuellen Mate­rials kaum entziehen können. Fotografie erhebt eben den An­spruch, eine universale Sprache zu sein.

Josef Wolf



Die Ausstellung Brechungen. Willy Pra­gher: Rumänische Bildräume 1924-1944 war bis zum 10. August im Landratsamt Tü­bingen, Glashalle, Wilhelm-Keil-Straße 50 zu sehen. Vom 18. August bis zum 8. Sep­tember 2007 wird die Schau in Her­mann­­­stadt in der Kunst­galerie des Bru­ken­­thalmuseums, Quergasse 6 (Strada Tri­bu­nei 6), präsentiert.

Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Be­gleitband erschienen, der neben den Ab­­bildungen aller in der Ausstel­lung ge­zeig­ten Exponate auch Beiträge zur Bio­grafie des Fotografen, zur Geschichte Rumä­­niens, zum „Neuen Sehen“ und zur Bild­­propaganda im Dritten Reich und in Rumänien während des Zweiten Welt­krie­ges enthält. „Brechungen. Willy Pragher: Rumänische Bildräume 1924-1944“. Stuttgart: Jan Thor­becke Verlag 2007, 320 Seiten, Preis: 24,90 Euro, in der Ausstel­lung: 20, Euro, ISBN 978-3-7995-0185-9.
Brechungen. Willy Pragher: Rum
Brechungen. Willy Pragher: Rumänische Bildräume 1924-1944

Thorbecke, Jan, Verlag GmbH u. Co.
Gebundene Ausgabe
EUR 24,90
Jetzt bestellen »

Schlagwörter: Kulturhauptstadt, Fotografie, Ausstellung

Bewerten:

6 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.