6. März 2009

Erinnerungsbuch „Flucht aus Siebenbürgen“

Beim Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Wels im September 2008 stellte die in Steyr/Oberösterreich wohnende Kindergärtnerin und ausgebildete Trauerpädagogin Monika Görig das mit ihrer Mutter, Maria Schneider geb. Scholtes, gemeinsam erarbeitete Erinnerungsbuch vor, welches in dem auf Zeitzeugengeschichte spezialisierten Verlag Ennsthaler in Steyr/Oberösterreich erschienen ist.
Das beachtenswerte Werk ist die Lebensgeschichte einer sächsischen Bauerntochter von ihrer Kindheit bis zur Flucht aus Siebenbürgen im 24. Lebensjahr und beruht auf den Aufzeichnungen und Erinnerungen der Erzählerin Maria Schneider geb. Scholtes über das Fluchtgeschehen im Herbst 1944, ergänzt durch die in der Familie Schneider in Sierning ihren fünf Kindern übermittelten Erzählungen der Eltern von ihrer Jugendzeit in der sächsischen Gemeinde Weißkirch bei Bistritz. Belegt und aufgelockert durch über 50 Bilder und Abbildungen von Familiendokumenten liegt somit, als Ergänzung zur Dokumentation in den bisher erschienenen 45 Heimatbüchern der sächsischen Gemeinden des Nösnergaues, ein weiteres Werk der Erinnerungsliteratur zum Geschehen in diesem Raum in Österreich vor.

Von der Ich-Form des Erzählens und der einfachen klaren Sprache fasziniert wird der Leser in die geordnete, idyllische, aber auch schwere Lebenswelt einer sächsischen Bauernfamilie geführt. Man erlebt in vielen Details die Verzweigung der Familiensippen, den Ablauf des Landjahres, das Treiben der Dorfjugend, die Entwicklung eines Schulmädchens über die Konfirmation zur Schwesternschaft und die Eheschließung der Erzählerin (Jahrgang 1920) mit dem Nachbarburschen Martin im Jahre 1937. Die Mühe und Plage der nach dem Einrücken des Gatten zur Waffen-SS mit drei Kleinkindern allein gebliebenen jungen Bäuerin und das Verlassen der Heimat im Treck der Gemeinde Weißkirch am 16. September 1944, werden in dramatischer Dichte anschaulich. In diesen Schilderungen der Lebenslast und der seelischen Not wird das Erinnerungsbuch seinem Untertitel „Tagebuch des Elends“ (rumänisch: necaz, im Buch oft verwendet und dort phonetisch „Naggas“ geschrieben) gerecht und wird ein Dokument menschlicher Leidensfähigkeit und Überlebenskraft.

Die Erzählung spiegelt nicht nur linear das Schicksal der Betroffenen und ihrer Familien, sondern enthält auch Gedanken und Betrachtungen der Erzählerin zum Brauchtum, zur Geschichte, zum kirchlichen Leben und zu den politischen Entwicklungen ihrer Zeit. Diese in ihrer Naivität beeindruckenden Textstellen entsprechen weitgehend dem Wissens- und Bildungsstand der dörflichen Bevölkerung jener Zeit, spiegeln deutlich deren geistige Regsamkeit, sind farbig und lebendig und erheben, wie die Koautorin im Vorwort richtig vermerkt, keinerlei Anspruch auf Richtigkeit. Für den informierten Leser sind sie einigermaßen gewöhnungsbedürftig.

Die Koautorin (Jahrgang 1954) hat es verstanden, zu den Schilderungen ihrer Mutter authentisches ergänzendes Informationsmaterial (Familiendokumente, Heimatbilder, Brauchtumsgedichte, Lieder u.Ä.) zu sammeln und in den Handlungstext einzufügen. Zusätzlich hat sie bei einigen Themen Reflexionen zur Gegenwart angestellt und dadurch dem Werk eine überraschende Zeitnähe und Frische verschafft. Monika Görig konnte den Vorabdruck dieses Buches der Mutter gerade noch vor deren Tod im März 2008 vorlesen und übernahm von ihr mit vielen Aufzeichnungen auch das Vermächtnis, das Schicksal der Flüchtlingsfamilie Schneider in Oberösterreich und den Aufbau einer neuen Heimat als Andenken für die Nachkommen in einem Fortsetzungsband herauszubringen. Auf diese erste Integrationsdarstellung in Oberösterreich kann man mit Recht gespannt sein, wie man auch dem vorliegenden Buch eine große Leserschaft wünscht.

Dr. Fritz Frank

Monika Görig/Maria Schneider: „Flucht aus Siebenbürgen“, Ennsthaler Verlag Steyr, 2008, 230 Seiten, Preis: 14,90 Euro, ISBN 978-3-85068-792-8, zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag Ennsthaler GmbH, Stadtplatz 26, A-4402 Steyr bzw. im Internet unter www.ennsthaler.at.

Schlagwörter: Nordsiebenbürgen, Flucht und Vertreibung, Österreich

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