29. September 2024

Predigt beim Großen Sachsentreffen: „Heimat ohne Grenzen“

In ihrer Predigt anlässlich des Großen Sachsentreffens am Sonntag, dem 4. August 2024, stellte Pfarrerin Bettina Kenst Heimat in der Zeit der Globalisierung in Frage: Enge vs. Geborgenheit. Grenzen vs. Fremde. Tradition vs. Neues. Ist Heimat ein Ort – oder vielmehr, was dieser Ort bedeutet? Geborgenheit, Vertrautheit, verstanden werden. Die Predigt wird leicht gekürzt wiedergegeben.
Pfarrerin Bettina Kenst Foto: Akzente/TVR.ro ...
Pfarrerin Bettina Kenst Foto: Akzente/TVR.ro
Das Predigtwort für den heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis steht im Buch des Propheten Sacharja im achten Kapitel:

20 So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte,
21 und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen.
22 So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen.
23 So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.


Der Herr segne diese Worte an unseren Herzen.

Liebe Festgmeinde!
Liebe Brüder und Schwestern!
Es hätte kein trefflicheres Bibelwort geben können für Tage wie diese! Tage, in denen mehr als sonst starke Gefühle in uns allen hochkommen, allen voran die Sehnsucht nach dem, was Heimat bedeutet. Die Suche nach dem, was tragend, verbindlich und bleibend ist, letztlich die Suche nach der Anwesenheit Gottes in unserem Dasein – gipfelt in dem heutigen Wort von der Gewissheit „wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“

Das diesjährige große Sachsentreffen steht unter dem Motto „Heimat ohne Grenzen“. Bereits dieses Motto birgt einen Widerspruch in sich, so wie die gesamte Debatte der Jahrhunderte zum Thema „Heimat“. Die deutsche Journalistin und Autorin Verena Schmitt-Roschmann urteilt in ihrem Buch „Heimat. Neuentdeckung eines verpönten Gefühls“: „Wenn Globalisierung Grenzenlosigkeit bedeutet, dann ist das Konzept Heimat, das von Begrenzung lebt, tödlich.“ Weiter führt sie aus: „Unter der Käseglocke dieser kleinen Dorfwelt lässt sich ziemlich genau nachvollziehen, zwischen welchen Polen sich die Heimatdebatte seit Jahrhunderten abspielt: das Neue und die Tradition, Innen und Aussen, Geborgenheit und Enge, Zugehörigkeit und Fremde, Öffnung und Abgrenzung, das Politische und das Private. Das Bedürfnis ist tief, Landschaft und Althergebrachtes zu bewahren.“

In vielen meiner Begegnungen und Gespräche der letzten Tage wurde genau dieses Bedürfnis thematisiert.

Nun, was ist Heimat für dich?

Ein Land, ein Ort, oder nur ein Haus, mit dem man emotional verbunden ist? Die meisten Menschen verbinden Heimat weniger mit einem Ort, sondern viel mehr damit, was dieser Ort für sie bedeutet. Es geht um etwas Vertrautes, etwas Bleibendes. Ein Ort, an den es sie immer wieder hinzieht, weil sie sich dort geborgen, in ihrem Wesen verstanden und sicher fühlen. Heimat scheint eine Sache des Herzens zu sein.

Viele Menschen haben heutzutage durch Migration oder Krieg ihr eigentliches Zuhause verloren. Dies durfte ich erleben und mir erzählen lassen in den letzten zwei Jahren im Elimheim, wo das landeskirchliche Flüchtlingsprojekt für die Ukrainer auch einen Standort hatte. Aber auch Einsamkeit, Mangel an echten Beziehungen und die Schnelllebigkeit sowie Oberflächlichkeit der heutigen Zeit erschweren es, dass unser Herz Heimat finden kann. Manchmal finden Menschen nicht mal mehr in der Familie Heimat. Ist es denn überhaupt möglich, Heimat zu finden? Oder finden wir uns damit ab und versuchen, die Sehnsucht danach so gut es geht mit Konsum zu überdecken?

Der Blick in die Bibel lohnt sich. Heimat ist hier ein zentrales Thema. Denn die Geschichte von Gott und den Menschen beginnt mit einem Ort. Am Anfang erschuf Gott einen blühenden Garten als Zuhause für die Menschen (1. Mose, Kapitel 1-2). Am Ende der Bibel wird von einer wunderbaren Stadt berichtet (Offenbarung, Kapitel 21-22). Dort leben viele Menschen miteinander in Frieden, es gibt keine Tränen, kein Leid, keine Einsamkeit, keine Not und keine Schmerzen mehr. Das hebräische Wort „Shalom“ bezeichnet diesen tiefen innern Frieden, der diesen Ort zu einer Heimat macht, in dem das Herz sein Zuhause findet. Es ist jedoch nicht die konkrete Stadt allein, die dafür verantwortlich ist, dass hier Heimat ist, sondern die Anwesenheit Gottes darin. Sie steht für ein gelingendes Leben und Frieden auf allen Ebenen. Obwohl sich die Menschen immer wieder dafür entschieden haben, Heimat ohne Gott zu suchen, zeigt uns die Bibel, dass es Gottes Plan ist, Menschen Heimat zu geben. Das sieht man deutlich in den Geschichten des Alten Testaments. Auch wenn Gott dem Volk Israel ein konkretes Stück Land in Aussicht stellt, ist es doch immer seine Gegenwart, die dazu führt, dass dieses Land auch wirklich Heimat sein kann.

Der heutige Sonntag ist nun nicht nur für uns hier ein Festtag und zugleich ein Gedenktag früherer Zeiten. Als solches Erinnern an die Heimat und an große Ereignisse, die das Schicksal eines ganzen Volkes geprägt haben, gedenken wir heute, am sogenannten Israelsonntag, der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christus - der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des zweiten Tempels durch die Römer. Ein schreckliches Ereignis für das jüdische Volk. Sie sind als Volk damals für eine lange Zeit vernichtet worden. Ihre Volksgeschichte ist zu Ende gegangen. Was danach folgte, war etwas anderes. So sehen auch wir in unseren Tagen besorgt und wehmütig eine fast 900-jährige Geschichte zu Ende gehen. Vieles, was uns wert und teuer war, worin wir uns geborgen gefühlt haben, bricht zusammen und wir fragen uns: ist dies nun das Ende oder dürfen wir Hoffnung auf eine Zukunft haben jenseits der äußeren Gestalt, die wir kennen?

Wir gedenken heute an dies Ereignis mit einem Wort Gottes aus dem Buch des Propheten Sacharja. Auch dort geht es um das Gedenken an die Zerstörung Jerusalems und die Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier im Jahr 586 vor Christus. Ihr merkt, das Volk Israel hat das zweimal erlebt und durchmachen müssen. Inzwischen ist das Volk Israel aber wieder aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt. Jedes Jahr haben sie viermal mit Fastentagen und Fastenzeiten an dieses schreckliche Ereignis gedacht. Jetzt sind sie aber seit 20 Jahren wieder zurück im Land und der Tempel ist noch nicht wieder aufgebaut. Und da taucht die Frage auf: Sollen sie mit dem Fasten und den Gedenktagen weitermachen? Denn dieses Fasten wird ihnen zu einer Last, die schwer zu tragen ist. Und Gott antwortet ihnen. Wir betrachten heute nur den letzten Teil dieser Antwort Gottes; den Teil, der auch mit uns zu tun hat. Gott spricht dort von der Zeit des Heils; und wir heute wissen inzwischen, dass diese Zeit des Heils mit Jesus Christus begonnen hat. Denn die Geschichte der Juden ging damals zu Ende, aber es blieb ein Rest, aus dem Jesus Christus und die Jüngergemeinde ersteht, die sich als die Wenigen versammeln und zu etwas Neuem fähig werden, zur Gemeinde Jesu Christi, die sich unter seinem Kreuz bildet.Der Prophet spricht in die mühsame Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft hinein. Die Gemeinde der Heimkehrer muss sich neu finden, das alte Erbe wiedergewinnen und sich religiös neu definieren. Das Damals ist nicht so verschieden von unserem Heute. Es geht damals wie heute um Zukunftssuche und Zukunftsmut.

Wir versammeln uns hier vor dem Gott Israels, dem dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist. Wir hören sein Wort, wir lassen uns von ihm die Schuld vergeben und wir antworten Gott, indem wir beten und singen, indem wir hören. Gemeinsam sind wir auf dem Weg mit Gott, mit Jesus Christus; mit Jesus Christus, der auch Jude ist und der Messias des Volkes Israel.

Gemeinsam auf dem Weg – das ist ein alter Ausdruck für die Gemeinschaft, die Christen im Glauben pflegen - Gemeinsam auf dem Weg sein - Wir wollen mit euch gehen - Können wir uns vorstellen, wie die Leute in Jerusalem sich damals gefühlt haben? Klein und unscheinbar. Und der Tempel lag noch in Trümmern. Keine schönen, großen Tempelgottesdienste. Und dann das Wort Gottes: Die Völker werden sich gegenseitig dazu auffordern, den Gott Israels zu suchen und ihn anzubeten. Angesichts des zerstörten Tempels ein unglaubliches Wort Gottes. Und damit nicht genug. Gott gibt dem Volk Israel hier noch eine Verheißung: „So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Es ist ein Versprechen dass das so geschehen wird. Den Zipfel eines Gewandes zu ergreifen bedeutete damals, dass man sich unter den Schutz dessen stellte, der das Gewand anhatte. Weil Gott mit dem jüdischen Volk, mit seinem Volk ist, werden sich die Völker unter den Schutz jüdischer Menschen stellen. Was für eine unbegreifliche Verheißung für ein Volk, das gerade dabei ist, die Heimat wieder aufzubauen, die in Trümmern lag. Die Völker werden bei ihnen Schutz suchen – unglaublich. Gott ist der Gott Israels und das Volk Israel ist immer noch das Volk Gottes – und Gott bekennt sich zu ihnen, damals wie heute, weil seine Verheißungen ihn nicht gereuen können, so wie Paulus uns das gelehrt hat. In Auseinandersetzung mit Sacharja werden Fragen umrissen denen sich alle zu stellen haben, die sich auf dem Weg zu Gott sehen und von anderen daraufhin geprüft werden.

Eine, wenn nicht gar die zentrale Frage aus christlicher Perspektive ist diejenige, nach der eigenen Verortung. Wo stehen wir? Aus der Perspektive des Textes scheint die Sache klar. Als Christinnen und Christen gehören wir zu den Völkern und sind hineingenommen in die Suchbewegung am Rockzipfel der judäischen Menschen. Das ist eine wichtige Erinnerung heute für uns. Zugleich hat der Jude Jesus von Nazareth in diesem Traditionsstrom eigene Akzente gesetzt, die sich im Laufe der Zeit als eigener Weg zur heilvollen Gegenwart Gottes verdichteten.

„Wir wollen gehen ..., um JHWH zu suchen“ (Sach 8,21), heißt es aus den Völkern. Wie lässt sich dieses Suchen unterstützen? Indem sich die Völker denjenigen anschließen können, die bereits in dieser Richtung unterwegs sind.

Der Prophet Sacharja zeichnet ein Hoffnungsbild. Sacharjas Schau zeigt das Heil, dass den Juden angeboten wurde, von dort an die Heiden ging und an den Ursprung zurückkehrt. Sein Wort ist Ermutigung für ein zerschlagenes Volk, dass es Hoffnung und Zukunft hat. Es lohnt sich, aufzustehen und weiterzumachen, weiter an Gottes Stadt und Tempel zu bauen. Daran werden die Völker erkennen, dass Gott mit ihnen ist, und sie werden angesteckt und sagen: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist.“
Festgottesdienst am 4. August 2024 in der ...
Festgottesdienst am 4. August 2024 in der Evangelischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt Foto: Martin Eichler
Wie ist das mit uns heute? Verstehen wir uns als Teil dieser Geschichte oder meinen wir, wir könnten die alten Wurzeln abhaken? Nehmen wir die Ermutigung aus dem alttestamentlichen Wort Gottes an, auch als kleiner Rest in einer zunehmend säkularisierten Welt weiter an Gottes Reich zu bauen, damit Gott in der Welt erkennbar bleibt? Es gilt, einen ansteckenden Glauben zu praktizieren, über den Menschen sagen: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist“.

Ist dies nicht ein wunderbare Gesprächseröffnung: Interessiert, lernbereit und mit der Möglichkeit, dass das Gegenüber sich zeigen kann, mit dem, was ihm wichtig ist und einen trägt. „Glauben wird personal übertragen“, so hat es Karl Ernst Nipkow gut formuliert.

Es heißt auch für uns zunächst einmal, sich von anderen davon erzählen und sich von dem berühren zu lassen, was anderen wichtig geworden ist. Es heißt ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen. So wird es möglich, von Erfahrungen anderer zu profitieren. Manchmal reicht es aus, einfach „nur“ mitzugehen und dabei zu sein auf dem Weg zur Gegenwart Gottes, auf dem Weg nach Hause. Wir alle bewegen uns in solchen Übertragungsketten. Wir suchen, wo wir etwas finden, was uns hilft auf unseren Wegen in unsere eigene Heimat.

Gehen wir den Weg gemeinsam und stellen uns dabei unter den Schutz des einen jüdischen Mannes, der am Kreuz für uns starb und uns mit Gott versöhnt hat; des einen jüdischen Mannes, der nicht nur wahrer Mensch, sondern auch wahrer Gott ist: Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit. Amen.

(Diese Predigt erschien zuerst in der Beilage „Kirche und Heimat“, Siebenbürgische Zeitung, Folge 14 vom 9. September 2024, S. 15 und 16)

Schlagwörter: Sachsentreffen 2024, Kirche und Heimat, Predigt

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