27. September 2009

Disziplin hat im Nokia-Werk hohe Priorität

NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich im Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfa­len mehrfach abfällig über die Arbeitsmoral von Rumänen geäußert. Bei einem Wahlkampfauf­tritt am 26. August in Duisburg sagte der CDU-Politiker im Zusammenhang mit der vor andert­halb Jahren erfolgten Verlagerung der Nokia-Handy-Produktion von Bochum nach Rumänien: „Im Unterschied zu den Arbeitnehmern hier im Ruhrgebiet kommen die Rumänen eben nicht morgens um sieben zur ersten Schicht und bleiben bis zum Schluss da, sondern sie kommen, wann sie wollen, und wissen nicht, was sie tun.“ Die durch diese Aussage ausgelöste Kritik veranlasste Ministerpräsident Rüttgers, sich öffentlich zu entschuldigen. Ruxandra Stănescu, Kor­res­pondentin der Siebenbürgischen Zeitung, und Cora Sevianu haben das Nokia-Werk in Jucu (bei Klausen­burg) besucht, um sich einen Eindruck von der Arbeitsmoral zu verschaffen.
Kurz vor sieben Uhr morgens steigen die No­kia-Mitarbeiter im rumänischen Jucu aus Bus­sen und Kleinbussen aus. Einige Arbeiter sind über zwei Stunden unterwegs. Im kleinen Dorf mit 4 200 Einwohnern ist frühmorgens schon Bewegung. Busse fahren aus allen Richtungen zur Nokia-Fabrik. Erst zwölf Stunden später, wenn die nächste Schicht zur Arbeit kommt, wird hier wieder so viel Bewegung sein. Die rund 1 500 Arbeiter im Werk des finnischen Handy-Herstellers kommen aus vielen Dörfern bei Klau­senburg, Dej und Gherla. Einige, die aus Bistritz kommen, legen 120 Kilometer zurück, um hier zu arbeiten. Das Dorf ist recht schmuck, keines der Dörfer in der Gegend ist richtig arm. Noch vor zwei Jahren hatten wenige Rumänen von Jucu gehört – bis Nokia auf dem Industrie-Ge­lände ein Werk eröffnete. Auch dieses Ereig­nis hätte kaum Schlagzeilen gemacht, hätte Nokia nicht das Werk in Bochum geschlossen, um nach Rumänien zu gehen. Die Medienresonanz war gewaltig.

Die Fabrik steht auf dem Tetrarom-Gelände: zwei graue Würfel sind von der frisch asphaltier­ten Straße aus zu sehen. Die Schichtmitarbeiter werden in Firmenbussen hierher gebracht, alle zur gleichen Uhrzeit, entgegen der Aussage von Jürgen Rüttgers. Das Manage­ment des Nokia-Werkes und die Gewerkschaftsleiter haben dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten widersprochen. Cristian Copil, der Lei­ter der Freien Gewerkschaft (Sindicatul Liber), erklärt die fehlende Reaktion der Arbeiter: „Die einfachen Arbeiter schauen sich solche Nachrichten gar nicht an, die sind sogar nebensächlich. Als sie durch den rumänischen Medienrummel davon gehört haben, haben sie diese Informa­tion eher mit Unverständnis als mit Empörung aufgenommen. Für sie war das verglichen mit der Realität so falsch, dass sie Rüttgers Anspra­che ignoriert haben. Meiner Meinung nach wur­de aber die ganze Nation vom deutschen Politi­ker beleidigt, nicht nur wir, die Nokia-Ange­stellten.“

Eher zurückhaltend hat auch Staatspräsident Traian Băsescu reagiert: „Ich weiß, dass Politi­ker aus einem westlichen Land, das mit uns befreundet ist, über die Qualität der Arbeit unserer Landsleute sprechen. Als Staatschef möchte ich auf diese unkorrokte Äußerung sagen, dass sie den Erfolg der Automobilwerke in Rumänien mal bewerten sollten.“

Auch diese politische Äußerung hat die No­kia-Arbeiter kalt gelassen: „Die deutschen Poli­tiker sind eben wie die rumänischen: wenn sie gewählt werden wollen, sagen sie, was das Volk hören will, auch wenn es lauter Lügen sind“, meint Maria, eine 45-jährige Arbeiterin.
Das Nokia-Werk in Jucu bei Klausenburg rückt ...
Das Nokia-Werk in Jucu bei Klausenburg rückt durch die Äußerungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten in den Fokus deutscher Medien. Foto: Cora Sevianu
„Die meisten Leute hier sind froh, einen Job zu haben“, betont der Gewerkschaftler Copil. Dabei sei die Arbeit im Nokia-Werk hart, die Angestellten seien allerdings zufrieden: „Die Leute sagen, dass im Nokia-Werk die besten Ar­beitsbedingungen in ganz Rumänien herrschen. In der Fabrik-Kantine erhalten sie zwei Mahl­zei­ten am Tag. Und sie wissen, wenn sie die Dis­ziplin nicht einhalten, sind viele Arbeitslose in der Gegend, die auf so eine Chance warten.“

Disziplin wird groß geschrieben im Werk. Die Kontrollen sind sehr streng, da die Teile, die hier hergestellt werden, klein und auch teuer sind. Seit Eröffnung der Fabrik habe es laut Copil nur fünf Diebstahlsversuche gegeben.

Nicht alle sind von den Arbeitsbedingungen begeistert. Der 35-jährige Alin hat sein Glück in Hermannstadt gesucht: „Als qualifizierter Ar­bei­ter zwölf Stunden für keine 300 € zu arbeiten, ist nichts für mich. Ich habe als unqualifizierter Arbeiter in Hermannstadt für acht Stun­den pro Tag 400 Euro Gehalt bekommen. Außerdem sind die Kontrollen am Ausgang für mich sehr ernie­drigend. Viele bleiben aber trotz Unzufrieden­heit, weil sie keine Wahl haben.“

Die wenigsten in dieser Gegend denken so, denn auf dem Land ist es schwierig, einen Job zu finden, insbesondere für Frauen. Copil: „Etwa 70 Prozent der Arbeiter hier sind Frauen. Das Durchschnittsalter liegt bei 35 bis 40 Jahren. Die meisten Arbeiter wurden vor zwei Jahren angestellt, nach harten Tests: Fähigkeiten, Ge­schicklichkeit, Arbeitserfahrung.“ Gearbeitet wird in Dreier- oder Achtergruppen: „Wenn die Leute nicht diszipliniert wären oder gar schwän­zen würden, müsste die Arbeit jede Minute eingestellt werden, denn das ist Laufband­produk­tion und da haben wir strenge Normen.“ Wenn die Normen für die Gruppen oder die Schichten eingehalten werden, und manchmal auch übertroffen werden, „können die Gewerkschaften für eine Geldprämie kämpfen. Im vergangenen Monat haben wir es geschafft, soche Prämien zu erhalten, trotzt Wirtschaftskrise. Außerdem haben wir diesen Monat um eine Ge­haltserhö­hung verhandelt und kein einziger Angestellter wurde entlassen, obwohl die Zahl der Bestel­lungen gesunken ist“, betont Copil.

Der Gewerkschaftler ist stolz auf „sein“ Werk, und findet die Qualität der Arbeit sehr gut. Er hofft auf stetige Optimierung: „Nach der Krise wird hoffentlich das Nokia-Werk erweitert. Neun Handy-Modelle werden zurzeit hier hergestellt, vielleicht werden es mehr.“

Die Mitarbeiter im Bus scheinen nach Schicht­ende zwar müde, aber zufrieden zu sein. Die meisten von ihnen erklären, dass sie auf Ge­haltserhöhungen hoffen – noch immer werden Arbeiter in Rumänien schlecht bezahlt im Ver­gleich zu anderen EU-Ländern. Dazu meint eine Mitarbeiterin, Mirela: „Ich weiß, dass ich besser als die Grundschullehrerin meiner Kinder verdiene. Es ist wenig im Vergleich zum Gehalt meiner Cousine in Spanien, aber ich lebe zumindest zu Hause. Und was der eine oder andere Politiker über meine Arbeit denkt, ist mir egal. Hauptsache, der Chef ist zufrieden.“

Ruxandra Stănescu, Cora Sevianu

Schlagwörter: Wirtschaft, Politik, Nordrhein-Westfalen

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