12. April 2021

Leserecho: Zeitreise zurück ins Deportationsjahr 1945

Schmerzvolle Erinnerung an die Russlanddeportation der Mutter
Als ich 1997 in Jerusalem in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem war, stand da ein Viehwaggon zum Abtransport der Juden – da habe ich unwillkürlich an meine Mutter denken müssen! Genau in solch einem Viehwaggon wurde sie am 13. Januar 1945 von Kronstadt aus abtransportiert. Im gleichen Waggon wie zahlreiche Tartlauerinnen und Tartlauer.

Im Jahr 2009 wurde die Geschichte der Deportation mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Ich habe das Buch „Atemschaukel“ von Herta Müller gelesen und alles war mir sehr vertraut durch die Erzählungen meiner Mutter. Die Jahre im russischen Arbeitslager haben meine Mutter geprägt. Als sie von dort zurückkam, war sie eine kranke, gebrochene Frau von 27 Jahren, die ihrer Jugend und Schulausbildung beraubt wurde.

Der Abtransport erfolgte im Winter bei Kälte im Viehwaggon, Männer und Frauen zusammengepfercht und ohne Toilette. Keiner wusste, wohin die Reise geht und wie lange es dauern wird. Das Lager, in dem sie ankam, war mit Stacheldraht umzäunt und die Wachsoldaten waren allgegenwärtig. Eine Flucht war aussichtslos. Sie verrichteten die Normarbeit auf dem Bau bei minus 40° C. Das Gesicht und die Füße waren erfroren. Sie hatte große Schmerzen. Die warmen Stiefel und die Kleidung hatte sie für das Essen verkauft. Im Lager wurden deshalb Holzsohlen mit Stoff als Schuhe angefertigt, in denen sie und ihre Mitleidenden im hohen Schnee, bei Nässe und Kälte die Norm erfüllten.

Meine Mutter war in verschiedenen Lagern und hat viele Arbeiten verrichten müssen, die für eine Frau schwer und anstrengend waren. Sie erzählte Folgendes: „Mein erstes Lager war neben Makejewka. Ende September 1945 brachte man aber russische Gefangene aus Deutschland zurück, die dann dort wohnen sollten. Uns schaffte man nach Trudowskaja, wo ich bis 14. Juni 1947 arbeitete. Da wurden die Schwächsten ausgewählt und nach Stalino in das ,Batschka-Barackenlager‘ geschafft, das einzige ,freie‘ Lager ohne Bewachung. Wir mussten acht Stunden arbeiten, beim Bau im Steinbruch, bei der Schlacke, in der Kohlengrube, an den Koksöfen, in der Tischlerei, an den Drehbänken, in der Ziegelei. Der Obernatschalnik war 1945 eigens nach Moskau gereist, um sich von dort die Erlaubnis zu holen, dass ,seine‘ Deutschen die Freiheit hatten. Denn dann würden sie besser arbeiten und kämen nicht auf den Gedanken zu desertieren. Und so war es auch. Als wir, fast nur noch ,Haut und Knochen‘, dort ankamen (obwohl wir alle Kleider gegen Lebensmittel eingetauscht hatten), fanden wir die Batschka-Deutschen alle gut genährt. Und sie hatten keine Kleider verkauft. Sie mussten jeden Tag von 8.00-16.00 Uhr im Unternehmen arbeiten. Je nachdem, wo sie eingeteilt waren, konnten sie nachher privat arbeiten, wo sie wollten. Nur am nächsten Morgen um acht Uhr mussten sie wieder anwesend sein.“

In den meisten Baracken, in denen meine Mutter war, wimmelte es von Wanzen und Läusen, so dass sie nachts nicht schlafen konnte. Am schlimmsten war jedoch der ständige Hunger. Nachts, wenn der Schlaf dann doch mal kam, hat sie ihre Zunge gekaut. Durch die Unterernährung wurde sie krank, hatte Skorbut und kam mit nur vier Zähnen aus Russland zurück. Mutters Schwester ist im Lager an den Folgen der Unterernährung gestorben. Die Massengräber, die im Frühling auftauten, die Menschenknochen – täglich musste sie daran vorbeigehen.

Als sie einmal auf dem Heimweg ins Lager von der Kolchose eine Futterrübe geklaut hatte, vor lauter Hunger, wurde sie vom Wachsoldaten erwischt und kam in Einzelhaft. Das geschah öfter und es war schrecklich. Vom Hunger geplagt hat sie oft Unkraut und Gras vom Straßenrand gegessen, wovon sie krank wurde und Durchfall bekam. Sie musste trotzdem arbeiten und wurde von der Tagesnorm nicht befreit. Die Ungewissheit, ob sie noch einmal zurück nach Hause zu ihren Eltern dürfen, machte sie alle im Lager seelisch krank. Viele weinten, wurden depressiv und gaben den Lebenswillen auf. Es wäre noch vieles zu berichten, aber es fällt mir sehr schwer, in den alten Wunden meiner Mutter zu stacheln. Wieso musste meine Mutter die schönsten Jahre ihres Lebens im fernen Russland unter schwersten Bedingungen verbringen?

Gertrud Ungar, geb. Kleisch, Frankfurt am Main

Schlagwörter: Leserecho, Deportation, Russland, Kronstadt

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  • 12.04.2021, 10:25 Uhr von Holger Stefan: Das gleiche Schicksal , hat auch unser Mutter erleiden müssen. Ihren 21.Geburtstag erlebte Sie in ... [weiter]

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