5. März 2011

Von Fünfkirchen bis Konstanza: Eine Fotoreise von Frank Gaudlitz

Messer – Abendkleid – Messer – Abendkleid. So ein Buchumschlag fesselt. Eine junge Frau blickt direkt in die Kamera. Ihr grünes Kleid und die Messer im Hintergrund schimmern um die Wette. Auf den nächsten Seiten: Menschen unterschiedlicher Kultur und Herkunft in sorgfältig eingerichteten Räumen. Mal kühl und modern, mal fröhlich und bunt. Nein, hier geht es nicht um den aktuellen IKEA-Katalog, sondern um „Casa Mare“, den neuesten Bildband des Fotografen Frank Gaudlitz. Und die geheimnisvolle Dame auf dem Titelblatt ist nur einer der vielen Menschen, die Gaudlitz auf seiner Reise durch entlegene Regionen Europas besucht und um ein Portrait gebeten hat. Diese Arbeit brachte ihm 2006 den Kunstpreis für Fotografie der Land Brandenburg Lotto GmbH ein.
Siebenbürgen, die Maramuresch, Dobrudscha (Rumänien), die Republik Moldau, Wojwodina (Serbien) und die „schwäbische Türkei“ (Ungarn) sind die sechs Stationen der zweijährigen Exkursion. Und alle weisen eine besondere Gemeinsamkeit auf: Sie sind seit jeher Heimat vieler Nationen. Die Minderheiten haben hier jahrzehntelang für ihre Rechte gekämpft, das Verhältnis zum Nationalstaat ist ein zwiespältiges. Je nach Region trifft man (unter anderem) auf Rumänen, Ungarn, Serben, Türken, Deutsche, Roma und Moldauer. Auch jüdische Bevölkerung, die zu Zeiten des Nationalsozialismus zum größten Teil vernichtet oder vertrieben wurde, ist heute vereinzelt wieder anzutreffen.

Vertreter aller dieser vielfältigen Volksgruppen gewähren uns in diesem Bildband Einblick in ihre Welt. Es ist ein sehr persönlicher, authentischer Einblick, denn sie erlaubten dem Fotografen – und damit auch uns – ihre „gute Stube“ zu betreten und empfingen ihn dazu in „festlichem Alltagsgewand“. Mehr oder weniger bewusst geben sie uns dadurch auch Informationen über ihren sozialen Status und ihre Gewohnheiten oder Vorlieben preis. So bekommen wir moderne Zimmer ebenso zu sehen wie alte Stuben, Ballkleider und Anzüge ebenso wie Strickjacken und Jogginghosen. Die Menschen präsentieren sich vor gemusterten Tapeten und Teppichen, bunten Wänden, leeren Räumen, oder Bücherregalen. Wir lernen Vassile Macarie aus Șieuț kennen, einen über 80-jährigen Rumänen, der stolz neben seinem Kaktus posiert. Im nächsten Moment finden wir uns im Jagdzimmer des Siebenbürger Sachsen Johann Schopp aus Alzen (Alțina) wieder, um anschließend noch einen Abstecher in die Wojwodina, zur Ungarin Kristina Tamsko zu machen. Auch der siebenbürgisch-sächsische Buchautor Eginald Schlattner steht für den Fotografen Modell – zwischen zwei Gemälden seiner selbst.
Umrahmt werden die über 70 Portraits von zwei Aufsätzen. Karl-Markus Gauß liefert unter dem Titel „Die unaufhörliche Wanderung. Europa im Kleinen“ die einleitenden Worte. Er erzählt kurz die Geschichte der einzelnen Regionen und welche Volksgruppe sich wo als Erste angesiedelt hat und wie die Rechtslage für Minderheiten sich mit der Zeit verändert hat. Er spricht auch über die verschiedenen Werte, die sogar innerhalb der Volksgruppen bestehen, aber nicht ohne zu betonen, dass es auch nationalitätenübergreifende Gemeinsamkeiten gibt.

Matthias Flügge rundet schließlich mit seinem Aufsatz „Identität, was ist das? Über die Moral der Fotografie“ den Bildband ab. Darin geht er auf die Bedeutung der „Identität“ ein und bietet theoretische Hintergründe zur Fotografie sowie eine kurze Abhandlung über Mediengesetzgebung zur Fotografie.

Die Textstellen im Buch wurden durchgehend ins Englische übersetzt, die Ortsnamen sind im Inhaltsverzeichnis in mindestens zwei Sprachen angegeben. Dafür bietet die Landkarte, die wohl zur Übersicht dienen sollte, die Ortsnamen nur in der Landessprache an. Wäre sie grafisch etwas aufwändiger und ansprechender gestaltet worden, hätte man aber selbst darüber hinwegsehen können.

Abgesehen davon ist „Casa Mare“ ein beeindruckendes Buch, in dem man immer wieder neue Details und künstlerische Momente entdecken kann. Seien es die mutigen Kombinationen von Mustern in manchen Räumen, die durch die selbstbewusste Präsentation auf einmal viel weniger geschmacklos wirken, oder die Zehen, die kaum merklich unter dem grün schimmernden Kleid auf der Titelseite hervorblitzen. Egal, wie fremd manches wirken mag, es gibt wohl kaum jemanden, der in den guten Stuben nicht auch etwas Bekanntes wieder findet.

Wer nun Lust bekommen hat, zu reisen, kann ja mit Ulm an der Donau anfangen, denn dort wird am 31. März im Donauschwäbischen Zentralmuseum, Schillerstraße 1, die Sonderausstellung „Casa Mare“ eröffnet, die bis 26. Juni Station macht.

Meike Kolck-Thudt

Frank Gaudlitz: „Casa Mare“. Mit Texten von Karl-Markus Gauß und Matthias Flügge. Hg.: Kulturforum östliches Europa; Koordinierung Ostmittel- und Südosteuropa. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009, 176 Seiten, 76 farbige Abbildungen, 35,00 Euro, ISBN 978-3-7757-2492-0.
Frank Gaudlitz: Casa Mare
Matthias Flügge
Frank Gaudlitz: Casa Mare

Hatje Cantz Verlag
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Schlagwörter: Rezension, Buch, Fotografie, Europa

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