3. April 2011

„Geknipst im Sachsenkleid“. Biographische Notizen zu Helene Platz

In der Siebenbürgischen Zeitung vom 15. Oktober 2010 wurde in einem kurzen Beitrag des 135. Geburtstages der sächsischen Mundartdichterin Helene Platz (1875-1963) gedacht. Neben Bekanntem enthält er auch ein Bild der Autorin, das mich zu diesem Text veranlasste. Dass Platz auch eine bemerkenswerte Vortragskünstlerin, Pianistin und Komponistin war, belegen bislang unbekannte Tondokumente.
Eigentlich ist es nicht mehr als ein 34seitiges Buch, mit dem sie sich in die Herzen von Groß und Klein im Siebenbürger Sachsenland geschrieben hat. Doch das sich bis heute einer ungebrochenen Beliebtheit erfreuende Kinderbuch „Saksesch Wält e Wirt uch Beld“ (1912) von Helene Platz war mehr als nur das. Der Literaturwissenschaftler Karl Kurt Klein bescheinigte ihm, es sei „ein prächtig gelungener Versuch, die mundartliche Kinderdichtung, die in der siebenbürgisch-sächsischen Literatur eine Vergangenheit hat, neu zu beleben“. Zwar verfasste Platz „äm Krächsjohr 1915“ auch das mit Jugendstilzeichnungen von Dolf Hienz (Vater der Malerin Katharina Zipser) ausgestattete Kinderbuch „Det Rotkäppchen und det Schneewittchen än sakseschen Raimen“ (1920), doch hat dieses schmale Bändchen eher den Status einer bibliophilen Rarität. Wie auch immer: Die beiden Bilderbücher machten Platz zur bekanntesten Unbekannten in der sächsischen Kinderliteratur, denn über das Leben der musisch vielseitig begabten Apothekertochter ist nur wenig bekannt.

Was mein Interesse an Hanni Markels und Bernddieter Schobels Beitrag über Helene Platz zunächst weckte, war das dem Artikel beigegebene Foto. Dazu eine Berichtigung vorweg. Das Bild wurde nicht – wie angegeben – von „Helene Zipfelmayer, geborene Platz“ aufgenommen (das ist ja die Dargestellte selbst!), sondern stammt aus dem Wiener „Foto-Salon Rohringer“. Platz hatte sich sicher deshalb in diesem Atelier fotografieren lassen, weil sein Inhaber Otto Rohringer (1893-?) ein gebürtiger Hermannstädter war. Rohringer hatte – wohl nach einer Ausbildung bei Emil Fischer – den Sprung nach Wien geschafft und dort 1921 sein Atelier in der Haidmannsgasse 10 im XV. Bezirk eröffnet und dort bis 1941 betrieben (vgl. T. Starl: Lexikon der Fotografie in Österreich, 2005, S. 405).

„Geknipst im Sachsenkleid“: Helene Platz, ...
„Geknipst im Sachsenkleid“: Helene Platz, aufgenommen 1926 von Otto Rohringer in Wien (Samml. Dr. Thomas K. Ziegler, Aspang Markt/ Österreich)
Die Aufnahme, die die Autorin in sächsischer Tracht zeigt, ließ sich diese als Fotopostkarte sicher in größerer Menge anfertigen. Mir ist sie in drei Exemplaren bekannt. Eine davon zeigt Platz in einer Variante mit ovalem Ausschnitt und befindet sich heute im Besitz von Dr. Helga Stein, der Tochter der Ornithologin Silvia Stein von Spiess. Frau Stein erinnert sich noch gut an „Zipfeltante“, die damals im Hause ihres Großvaters, des königlichen Hofjagddirektors und Oberst d.R. August von Spiess verkehrte und im übrigen darüber klagte, dass sie als Offiziersfrau nach der Heirat mit Oberst Zipfelmayer ihren Jour fixe im Café wahrzunehmen hatte und nicht mehr ins Kränzchen der ‚Bürgerlichen‘ durfte. Was die Fotokarte aus Dr. Steins Besitz noch wertvoller macht, ist ein Gedicht auf der Rückseite, das mit den ligierten Buchstaben HZ (Helene Zipfelmayer) unterzeichnet ist. Im Gedicht, das in den 1940er Jahren entstanden sein dürfte, wird sogar der Fotograf erwähnt.

Die Jahre fliegen pfeilgeschwind,
ich denk, es war nur heut’
als mich in Wien Herr Rohringer
geknipst im Sachsenkleid.

Die schönen Zeiten sind vorbei,
mein Haar ist silbergrau,
der Spiegel zeigt, seh ich hinein,
mir eine alte Frau.

Doch einen Sorgenbrecher gibt’s
der Dunkles bald erhellt,
’s ist der Humor, der uns verjüngt
und sonnig macht die Welt.

Eine weitere Variante des Trachtenbildes von Otto Rohringer entdeckte ich in einem Fotoalbum im Nachlass von Dr. Kurt Ziegler, jenes kunstsinnigen Arztes, in dessen Haus oft Hauskonzerte, Lesungen und Künstlertreffen stattfanden (siehe Abbildung). Auch diese Porträtkarte ist ein Autograph von Helene Platz und dürfte in Wien geschrieben worden sein. Darin bedankt sich „Helen“ aus Wien(?) bei ihrer alten Freundin Grete, geb. Hertel (1877-1955), der Mutter Kurt Zieglers, für deren Geburtstagssendung. Der am 25.10.1938 geschriebene Kartentext ist ebenfalls in Reimen verfasst: „Mit Gusto besah ich die leckeren Sorten/Und danke Dir nochmals mit diesen Worten...“ Bei der Adressatin handelt es sich übrigens um das seinerzeit vom Dichter George Coșbuc angehimmelte „Gretchen“ Hertel, deren Schönheit und Anmut den damals in Hermannstadt lebenden Tribuna-Redakteur zu dichterischen Höhenflügen animierte – allen voran zum Gedicht „Numai una“ (vgl. hierzu Annemarie Webers Artikel „Auf ihre Schulter fällt das Haar ...“ in Hermannstädter Zeitung vom 25.7.1997).

Das in der Siebenbürgischen Zeitung im Oktober letzten Jahres abgedruckte Foto geht auf eine weitere Fotopostkarte aus dem Atelier Rohringer zurück (Original im Besitz von Arch. Adolf Mazanek). Leider besaßen Markel und Schobel nur eine minderwertige Laserkopie davon, was die mangelhafte Qualität der Reproduktion erklärt. Die Bildrückseite ist unbeschrieben.

„Man weiß, dass Dichtung im Dialekt durch den Vortrag und weniger durch die Lektüre lebt“. An dieses Satz von Horst Schuller aus seiner Rezension über die jüngst erschienene Mundarttext-Anthologie „Sachsesch Wält“ in der Siebenbürgischen Zeitung vom 20. Februar 2011 musste ich denken, als ich bei meinen Recherchen auf Tondokumente stieß, die – auch wenn sie nicht an die Unmittelbarkeit eines Mundartabends reichen – gleichwohl einen guten Eindruck von Helene Platz’ mitreißender Vortragskunst vermitteln.

Es war ein Glücksfall, als der vor allem als Graphiker bekannte Ferdinand Mazanek ein Jahr vor Helene Platz’ Tod die Idee hatte, die Mundartautorin mit seinem neuen Tesla-Tonbandgerät aufzunehmen. Die Aufzeichnungen sind eine echte Überraschung. Die alte Dame ist nicht nur eine muntere Pianistin, die selbstkomponierte Instrumentalstückchen zum Besten gibt (Die Spieluhr, Die Schlittenfahrt, Wiegenlied, Försterliedchen, Erinnerung), sondern auch eine begnadete Vortragskünstlerin der eigenen Geschichten und Sketche. Mal in bestem Wiener Dialekt (Im Flugzeug), mal mit deutsch-ungarisch-jiddischem Zungenschlag (Beim Arzt), mal auf Sächsisch und Kucheldeutsch (Em Flachzech). Gleich in mehreren Rollen und Mundarten und nicht minder virtuos in De Londpartie. Das Ganze aufgelockert durch Zungenbrecher, Lautmalereien und Reimspäße (Die schaurige Geschichte vom Bockerl und Böckerl, Nockerl und Weckerl).

Seifenfabrikant Gustav Meltzer sen. (1862-1923), ...
Seifenfabrikant Gustav Meltzer sen. (1862-1923), fotografiert 1914 von Emil Fischer. Aufnahme: Bildarchiv des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien.
Ferdinand Mazaneks Sohn Adolf Mazanek hat sich die Mühe gemacht, aus dem vorhandenen Tonmaterial eine CD zu erstellen und als Kopie 2009 dem Siebenbürgen-Institut zu überreichen – übrigens zusammen mit einer DVD der 8-mm-Filme seines Vaters, auf denen mehrfach auch „Helentante“, wie Helene Platz-Zipfelmayer in der Familie von allen genannt wurde, charmant in die Kamera lächelt. Trotz teils unbefriedigender Tonqualität kommt die erstaunliche Lebendigkeit und Präsenz der Dreiundachtzigjährigen auf der CD voll zur Geltung. Mit ein wenig professionellem Know how ließe sich aus den bearbeiteten Tonaufnahmen eine spritzige Humor-CD zusammenstellen.

Zwei weitere Tonbänder mit Aufnahmen von Platz hatte Adolf Mazanek Anfang der 1970er Jahre dem seinerzeit in Bukarest lebenden Hörfunkredakteur Ernst Kulcsar („Küss die Hand, Frau Schwarz“) geliehen. Ob dieser damit eine Rundfunksendung bestritt oder sie lediglich für seine Dissertation zur Theorie und Praxis des deutschen und rumänischen Hörspiels benötigte, war nicht mehr zu klären, weil Kulcsar im August vergangenen Jahres verstarb. Wie er seinem Schulfreund Mazanek mitteilte, gingen die Bänder noch vor seiner Auswanderung 1984 „beim Sender“ verloren. Unaufklärbar bleibt auch, ob Kulcsar 1972 tatsächlich mit einer Arbeit über das Hörspiel promovierte, wie dem Kriterion-Klappentext von „Ansichtskarten für Frau Schwarz“ zu entnehmen ist. 2001 jedenfalls erlangte er die Doktorwürde in Erlangen – mit einer literatursoziologischen Arbeit, in der es um Adolf Meschendörfer, Hans Liebhardt und Arnold Hauser ging („Literatur des Abwegs – Literatur des Irrwegs“). Unauffindbar sind derzeit auch zwei Helene-Platz-Manuskripte in Heftform, die Adolf Mazanek dem Siebenbürgen-Institut übergab.

Dass sich die Lebenswege von Helene Platz und Ferdinand Mazanek kreuzten, ist kein Zufall. Er hängt mit dem Umstand zusammen, dass Platz 1919 den bekannten Seifenfabrikanten Gustav Meltzer heiratete. Für Platz – damals immerhin 44jährig – war es die erste Ehe, für Meltzer die vierte. Als dieser 1923 starb, heiratete Platz in zweiter Ehe 1928 den römisch-katholischen k.u.k. Oberst Mathias Zipfelmayer (1860-1947). Die freundschaftlichen Beziehungen zu Familie Mazanek begannen freilich erst später. Der Kronstädter Ferdinand Mazanek, seit 1929 mit Grete, der Tochter des Seifenfabrikanten Meltzer verheiratet, war 1934 von Kronstadt, wo er als Buchalter bei der Bierbrauerei Czell gearbeitet hatte, nach Hermannstadt gekommen, um hier die Buchhaltung der Seifenfabrik Meltzer zu übernehmen. Erst mit der Verstaatlichung der Firma 1948 hängte Mazanek seinen alten Beruf an den Nagel und wandte sich der Malerei und Graphik zu.

„Wenn du greifst, dann greife ...“

Meine Vermutung, dass Helene Platz der Texter des damals bekannten Werbespruches „Wenn du greifst dann greife, stets nach Meltzers Seife“ gewesen sei, erwies sich indes als falsch. Er geht vielmehr auf Ferdinand Mazanek zurück, der nicht nur wie Platz ein begnadeter humoristischer Gelegenheitsdichter war, sondern auch lustige Zeichnungen und Karikaturen bis hin zu Bildgeschichten und launigen Lehrbüchern über Buchführung (die leider ungedruckt blieben) fertigte – immerhin hatte er 1925/26 auch den Fernlehrgang des damaligen Berliner Werbegurus Dr. Kurt Friedländer „Lehr-Kursus für Reklame“ erfolgreich besucht. Es lag auf der Hand, dass die beiden kongenialen Geister Platz und Mazanek einander bis zuletzt dichterisch und menschlich schätzten. Hinzu kam, dass Helene Platz-Zipfelmayer nach dem Tod ihres Gatten keine Unterstützung bezog und sich mit Klavierstunden über Wasser halten musste. Aus diesem Grund wurde sie auch oft von wohlhabenderen Familien zum Mittagessen eingeladen – allen voran den Mazaneks.

Noch 1930 warb der mittlerweile zum Verlag Krafft ...
Noch 1930 warb der mittlerweile zum Verlag Krafft & Drotleff fusionierte W. Krafft Verlag für Helene Platz’ 1920 erschienenes Kinderbuch „Det Rotkäppchen ... än sakseschen Raimen“ (Schreibung der Erstfassung). Inserat aus dem Neuen Volkskalender 1930, Samml. d. Verf.
Wie sehr die in die Jahre gekommene Dame „zur Familie“ gehörte, wird auch aus den zwischen 1940-44 entstandenen 8-mm-Filmen deutlich, die Mazanek in Hermannstadt und im Sommerhaus in Hammersdorf drehte (7 Filme, davon einer in Farbe, mit einer Gesamtspielzeit von 105 Minuten sind erhalten, ein weiterer mit der Einberufung der Freiwilligen zur Waffen-SS wurde leider noch 1944 vernichtet).

Als man die lebenslustige Witwe am 2. Dezember 1963 zu Grabe trug, notierte Pfarrer Hellmut Klima in seinem Tagebuch: „In Hermannstadt wird die fast 90-jährige Dichterin Helene Platz verwitwete Zipfelmayer und Meltzer geborene Platz begraben. 1940 hat sie bei meiner Präsentation in einem neckischen Vers mir eine gute Pfarrerin gewünscht. Sie war eine begnadete Gelegenheitsdichterin. Kinderbücher waren ihre Stärke.“

Die Klavierklänge aus dem ersten Stock des Hauses Burgergasse 15 in der Unterstadt sind längst verklungen. Und mit ihnen auch eine der authentischsten Stimmen der guten alten k.u.k. Zeit. Das Pianino hat Helene Platz Adolf Mazanek vermacht – in Erinnerung an gemeinsames Musizieren.

Nachbemerkung. Wenig bekannt ist, dass der 1971 (2. Aufl. 1975) im Bukarester Kriterion Verlag erschienene fotomechanische Nachdruck von „Saksesch Wält“ die Seite mit dem Zigeunerjungen aus Gründen der politischen Korrektheit unterschlug. „Ta gewädderter Zegunn!/Glech guege mer dich dervun!/Kees uch brit huet e bekun,/und wäll uch noch Pali hun!“ Dieser Umstand entging auch den Siebenbürgischen ­Jugendseminaren, die 1987 ebenfalls die bereinigte Fassung und erst 1988 die vollständige Fassung als Reprint herausbrachten. Der Fall erinnert stark an die DDR-Wilhelm-Busch-Aus­gaben, die das gesamte 5. Kapitel aus „Plisch und Plum“ mit seinen heute als anstößig empfundenen Klischees über Juden einfach wegließen („So ist Schmulchen Schievelbeiner./Schöner ist doch unsereiner!“)

Konrad Klein

Schlagwörter: Porträt, Mundart, Schriftsteller, Kinder

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Neueste Kommentare

  • 03.04.2011, 08:09 Uhr von bankban: Sehr interessanter, warmherziger Artikel mit vielen Details und einer stupender Kenntnis sowie ... [weiter]

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