27. August 2013

Adolf Meschendörfers Roman "Leonore" neu aufgelegt

„Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit ...“ – Den Schriftsteller Adolf Meschendörfer, 1877 in Kronstadt geboren und 1963 dort gestorben, kennen die meisten wohl als Schöpfer der „Siebenbürgischen Elegie“, die für Generationen von Siebenbürger Sachsen den Inbegriff von sehnsuchtsvoller Heimatverklärung darstellt. Sein erstmals 1908 in Fortsetzungen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Karpathen erschienener Roman „Leonore“ ist der breiten Öffentlichkeit dagegen weniger bekannt, obwohl er als „d e r moderne siebenbürgisch-deutsche Roman“ (Stefan Sienerth) gilt und sich mit der siebenbürgischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ungewohnt kritischer Weise auseinandersetzt. Die liebevoll gestaltete Neuauflage des Schweizer Verlags Traversion ist ein Glücksfall, der zur (Wieder)Entdeckung dieses bemerkenswerten Prosastücks einlädt.
April 1905: Der 25-jährige Dr. Svend, von Wien kommend, nach Indien reisend, macht Station in Kronstadt und trifft dort auf die 18-jährige Leonore Kraus. Die Selbstverliebtheit und der Egoismus, die der junge Doktor an den Tag legt, grenzen an Unverschämtheit: „Ich bin groß, blond und schlank; gegenwärtig vielleicht der schönste Mann in Europa, jedenfalls der intelligenteste.“ Leonore interessiert ihn nur „für zwei Wochen“, und das auch nur wegen ihrer Beine, wie er ihr unmissverständlich in einem Brief mitteilt: „Was mir aber am meisten an Dir gefällt, das sind Deine schlanken Beine. Zum Teufel auch, Du hast die schönsten Beine, die ich von Wien bis Kronstadt gesehen habe.“ Ein Häppchen für zwischendurch, eine kleine Ablenkung auf der Durchreise, mehr soll Leonore nicht sein für den charmanten Weltenbummler Svend. Aber weil sie nicht nur schöne Beine hat und ihm „in diesem Nest im Herzen des Waldlandes“ ein ganz besonderer Wind um die Nase weht, kommt es anders. Er verstaucht sich den Fuß – Zufall oder Absicht? – und ist gezwungen länger zu bleiben. Aus den geplanten zwei Wochen Aufenthalt werden mehrere Monate. Frühling, Sommer und Herbst gehen ins Land und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Der Dandy umgarnt fürderhin die Bürgerstochter und verliebt sich in sie. Sehr zu seinem eigenen Erstaunen, denn „der Romantiker ist ein Seelenkrüppel. (...) Bin ich ein Romantiker? Ich hasse die Romantik.“

Wenn Leonore keine Zeit für ihn hat oder haben will, streift Svend durch Kronstadt, in dem „man für vornehm gilt, wenn man in einem weißen Anzug an einem Stock durch die Straßen hinkt und ab und zu stehenbleiben muß, um Atem zu schöpfen“, und hängt seinen Gedanken nach. Er theoretisiert über Literatur, Theologie, Moral und Kunst und besonders intensiv über die Siebenbürger Sachsen, denen er kein gutes Zeugnis ausstellt. „Die hiesigen Sachsen sind zu verstehen: erstens aus der kesselähnlichen Lage der Stadt und zweitens aus der jahrhundertelangen Inzucht, die hier getrieben wurde. (...) Alle Familien sind hier miteinander verwandt, das Zweikindersystem herrscht wie bei allen alten, absterbenden Völkern; ebenso eine selbstsüchtige Geistesrichtung.“ Eines gewissen positiven Eindrucks kann er sich aber trotz der von ihm festgestellten Degeneration nicht erwehren. „Doch daß diese Handvoll Menschen sich eine eigene Kultur geschaffen hat, vom Bau ihrer Häuser bis zum kleinsten Gebrauchsgegenstand, eine vollkommen selbständige Mundart, die in allen Städtchen und Dörfern, ja, was fast unglaublich klingt, in einigen Dörfern selbst von Straße zu Straße verschieden ist, das ist eine für ganz Europa bewunderungswürdige Tatsache, das allein erklärt es, wie sich diese Bauern hier bis heute behaupten konnten.“ Dass er sich seines überheblich-ironischen Tons nicht enthalten kann, versteht sich.

Leonore wird bald zur Obsession. Der junge Doktor halluziniert vor Sehnsucht nach ihr und ihren „dunkelroten feuchten Lippen wie frische Himbeeren“ und rechtfertigt das ungewohnte Verhalten sehr geschickt vor sich selbst: „Schließlich, wozu ist dieses elende Leben nütze, wenn nicht, um in einer gewaltigen Leidenschaft ausgetrunken zu werden!“ Sie wird wie eine Königin, wie eine Göttin gar dargestellt, was sich auch in der elegischen Sprache zeigt, die oft genug an ein Gebet erinnert: „Du, die ich nie besitzen werde, du mit den dürstenden Lippen und der hungernden Seele, früher kamst du oft an mein Bett, wenn ich einschlafen wollte, mahntest mich stumm mit deinen Augen, und ich nahm dich mit in meine Träume.“ Dass seine Schwärmerei kein gutes Ende nehmen wird, lässt sich erahnen. Leonore heiratet einen Ingenieur, ihr Name klingt plötzlich „süß und bitter zugleich, wie der Geschmack einer Mandel“, und nach Monaten zwischen Dekadenz und Bodenständigkeit, zwischen Verstand und Gefühl verlässt Dr. Svend „diese merkwürdige Stadt“.

Von seinen Erlebnissen in Kronstadt, von Herablassung, Verliebtheit und Verzweiflung berichtet der Ich-Erzähler Svend in Tagebucheinträgen und Briefen, die in 107 Kapitel gegliedert sind. Manche dieser Kapitel bestehen nur aus einem einzigen Satz; reiht man diese Sätze aneinander, ergibt sich ein Psychogramm der Hauptfigur, das gleichzeitig als roter Faden des Romans fungiert. Sprachlich elegant, ironisch, bissig zeigt sich Adolf Meschendörfer in diesem Roman und hält den Siebenbürger Sachsen einen sehr großen, blank polierten Spiegel vor. Was der Neuauflage fehlt, ist ein Vor- oder Nachwort über den Autor, Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans. Ansonsten ist „Leonore“ unbedingt zu empfehlen.

Doris Roth


Adolf Meschendörfer, „Leonore“. Roman eines nach Siebenbürgen Verschlagenen. Traversion Verlag, Deitingen, 2012, 176 Seiten, 19,00 Euro, ISBN 978-3-906012-02-5

Schlagwörter: Kronstadt, Roman, Rezension

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