4. Juli 2016

Schlaraffia und ihre „Reyche“ in Siebenbürgen

Das Ständetheater war von jeher eine kulturelle Institution in Prag. 1783 wurde es mit Lessings „Emilia Galotti“ eröffnet. Und hier gab es auch einen kleinen, aber feinen Verein, die „Arcadia“. Franz Thomé, der Direktor des Theaters, war als Mitglied willkommen, der talentierte, aber weniger wohlhabende Bassist des Ensembles Albert Eilers wurde hingegen als „Proletarier“ abgewiesen. Das empörte Thomé so sehr, dass er den Verein verließ und sich mit Eilers einem Künstlerstammtisch anschloss, der sich ab sofort – horribile dictu – „Proletarier-Club“ nannte. Man sang, schimpfte, dichtete und becherte viel. Als der Stammtisch auseinanderzufallen drohte, hielt Eilers am 10. Oktober1859 eine begeisternde Rede und schweißte die verbliebenen Freunde zu einem neuen Verein zusammen – die „Schlaraffia“.
Im Prager Vereinsregister von 1861 steht: „Der Direktor und die Mitglieder des Ständ. Theaters bilden einen Verein, dessen Zweck folgender ist: Sich durch Heiterkeit und harmlosen Scherz nicht nur zu unterhalten, sondern (...) sich zu belehren und die Kenntnisse zu vermehren.“ Dabei persiflieren die Schlaraffen den Standesdünkel der adeligen Gesellschaft. Sie orientieren sich hierfür am Rittertum, haben als Wappenvogel einen Uhu statt eines Adlers, wählen drei Oberschlaraffen auf den Thron, die „erleuchtet“ zu sein haben, empfangen Gäste mit einer Schwertergasse, begrüßen sie mit Fanfaren und sprechen ein altertümliches Deutsch. Ihr Wahlspruch ist „In arte voluptas“ „In der Kunst liegt das Vergnügen“. Dieses Konzept und die festen Regeln, die sich der Verein gibt, sind so erfolgreich, dass bald vom Mutterreich Prag („Allmutter Praga“) aus weitere schlaraffische „Reyche“ in Berlin, Leipzig, Graz, Breslau, Brünn, Köln, Sopron, Amsterdam und Stuttgart entstehen.

Schlaraffia-Willkomm. Medaille auf die „Tagung ...
Schlaraffia-Willkomm. Medaille auf die „Tagung der Schlaraffen-Reyche Romäniens“ 1934 in Hermannstadt („Villa Hermanni“), Sammlung Konrad Klein. Foto: Klein
Als Erfolgsrezept erweist sich das strikte Verbot von Politik- und Religionsthemen. Dafür kann man unter Freunden ganz entspannt Humor und Kunst genießen, das Kind im Manne pflegen und gesundheitsfördernd lachen. Das ermöglicht, aus dem Berufsstress auszusteigen und darüber hinaus im Alter nicht zu vereinsamen, weil ein Schlaraffe bis zu seinem „Ritt gen Ahall“ von Freunden mitgenommen oder besucht wird. Die „Reychsgründungen“ gehen bis heute auf allen Kontinenten weiter. 2011 wird als vorläufig letztes das Reych Nr. 426 in Bad Vöslau in Oberösterreich gegründet. Nr. 427 in Görlitz ist erst „Colonie Gorlitia“, die Vorstufe zum richtigen „Reych“. Grundsätzlich wird überall deutsch gesprochen, ob in Paris, auf Mallorca, in Nord- oder Südamerika, Südafrika, Australien oder Thailand.

Auch an Siebenbürgen ging die Pflege von Kunst, Freundschaft und Humor nicht ohne Reychsgründungen vorbei. 1909 wurde in Hermannstadt das Reych Nr. 170 „Villa Hermanni“ gegründet, 1921 Nr. 220 „Claudiopolis“ in Klausenburg, 1925 Nr. 254 „Nösen“ in Bistritz und schließlich 1931 Nr. 290 „Corona“ in Kronstadt. Schon 1889 war die „Temesia“ in Temeswar ­entstanden, die mit der nationalistischen ungarischen Politik große Probleme hatte. Man unterstellte ihr „germanisierende und dem ungarischen Vaterlande feindliche Tendenzen“. Sie ließ sich aber nicht unterkriegen und gründete 1926 sogar die „Villa Bucuriana“ in Bukarest.

Dass die Sprache der Schlaraffen grundsätzlich Deutsch ist, war kein Hindernis, dass sie für alle Nationalitäten buchstäblich zur gemeinsamen Sprache wurde. Ein schönes Beispiel hierfür liefert die „Claudiopolis“.
Schlaraffische Orden der „Reyche“ in Temeswar, ...
Schlaraffische Orden der „Reyche“ in Temeswar, Czernowitz, Hermannstadt, Klausenburg, Bukarest und Kronstadt, Exponate im Mozarteum Salzburg. Fotos: der Verfasser
In der 1959 vom Verband „Allschlaraffia“ zu seiner 100-Jahrfeier herausgegebenen Chronik wird über deren Gründung berichtet: „Dies war kein leichtes Beginnen, weil die Stadt Klausenburg bereits im Mittelalter ihren deutschen Charakter verloren und jetzt nur ca. 2% deutsche Einwohner hatte. Trotzdem gelang die Gründung, denn der schlaraffische Gedanke zündete nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei den Ungarn und Rumänen, die deutsche Bildung genossen hatten. Diese schlossen sich mit Begeisterung an, so dass das neu entstandene Reych Claudiopolis ein getreues Abbild der aus den drei Nationen zusammengesetzten Bevölkerung Siebenbürgens wurde (...). Versinnbildlicht wur­de diese Dreieinigkeit auch durch die Wahl dreier Ehrenschlaraffen, des deutsch-sächsischen Dichters Michael Albert als ‚Sachs von Harteneck‘, des ungarischen Dichters Petöfi als Ehrenschlaraffe ‚Alexander‘ und des rumänischen Dichters Eminescu als Ehrenschlaraffe ‚Nirwana‘.“

Zu „Ehrenschlaraffen“ wurden im Übrigen nicht nur Goethe unter dem Namen „Faust“ und Schiller als „Funke“ (von „Freude schöner Götterfunken“) ernannt, sondern auch Nichtdeutsche wie Mark Twain als „Huckleberry“ oder Molière als „Sganarelle“.

Wer Schlaraffe werden möchte, besucht erst einmal als „Pilger“ die wöchentlichen „Sippungen“. Da kann er was erleben: Das „Einreiten“ fremder Ritter unter dem Geklapper von Holzschwertern, das Verneigen vor dem weisen Uhu (ausgestopft oder kunstvoll aus Holz geschnitzt), ernste und heitere Vorträge zu gegebenen Themen, musikalische Darbietungen, aber auch wüste Rededuelle mit anschließenden Versöhnungsumarmungen. Wenn ihn das alles nicht abschreckt, lernt er als „Prüfling“, „Knappe“ und „Junker“ unter der strengen Knute des Junkermeisters die schlaraffischen Bräuche und den schlaraffischen Sprachgebrauch. Die Ehefrau heißt hier Burgfrau, die Freundin Burgwonne und die Schwiegermutter Burgschreck. Man kommt nicht mit dem Bus, sondern mit dem Benzinelefanten. Und man trinkt kein Quell (Bier) oder gar Brandlethe (Schnaps), sondern Froschlethe, wenn man noch mit dem Benzinross heimfahren muss. Hat man das alles verinnerlicht, wird man mit viel Pomp zum „Ritter“ geschlagen und erhält einen schlaraffischen Ritternamen, der oft eine Anspielung auf den „profanen“ Beruf enthält. Die Ritter erkennen sich weltweit an einer kleinen Perle („Rolandnadel“), die unauffällig am linken Revers steckt, und begrüßen sich mit „Lulu!“ – wohl eine Verkürzung des Ausrufs „Lustig! Lustig! da kommen die Prager“ aus Schillers Wallenstein und somit eine Anspielung auf die Prager Herkunft der Schlaraffia.
Das Restaurant Bugl in der Heltauergasse 10 war ...
Das Restaurant Bugl in der Heltauergasse 10 war von 1918-1925 das Stammlokal der Hermannstädter Schlaraffen („Hermannsburg“). Rechts das Michael-Brukenthal-Haus. Ansichtskarte, um 1925, Sammlung Konrad Klein.
Wer aber waren die Männer, die an so einem Spiel Freude haben? Wenn man die alten „Stammrollen“ durchsieht, findet man in den siebenbürgischen Reychen eine Vielzahl von bekannten Persönlichkeiten. In Hermannstadt sind 1909 24 „Erzschlaraffen“ (Gründungsmitglieder) verzeichnet. Die Hälfte davon waren k.u.k. Offiziere, drei weitere Theater-, Bank- und Musikdirektor, zwei Professoren, zwei Zahnärzte, einer Sanatoriumsleiter und fünf Beamte. Im Laufe ihrer 30-jährigen Existenz bevölkerten 96 „Sassen“ das Hermannstädter „Reych“. Auch Dichter und Musiker waren dabei.

Der dichtende Zahnarzt Dr. Heinrich Ernst hieß sinnigerweise „Stockzahn der Willi-Busch“ nach dem von ihm hochverehrten Dichter und Zeichner. 1926 veröffentlichte er in München ein Bändchen mit seinen Gedichten. Sein Sohn Dr. Siegfried Ernst, Frauenarzt seines Zeichens, half so manchem Hermannstädter auf diese Welt, was ihm den Namen „Ahadebar der Verseschmied“ einbrachte (in Buchform erschienen seine heiteren Verse 1985 unter dem Titel „Das Leben ist eine Bahnfahrt“).

Von anderem Holz war „Teut der Drache, Edler von der Knute“. Otto Phleps war Realschulprofessor, auch wenn der Name mit seinen Unterrichtsmethoden sicher nichts zu tun hatte. Es war aber sicher kein Zufall, dass er die Rolle des „Junkermeisters“ innehatte. Dr. Friedrich Kepp, „Sokrates das Husarenfieber“, war Gymnasiallehrer. „Ein sehr milder Geschichtler war er“, wie mir sein letzter, noch lebender Schüler verriet. Als Weichei kann man ihn sich gleichwohl nicht vorstellen, war er doch von 1919 bis 1941 Vorstand des Siebenbürgischen Karpatenvereins.

„Rhyth-Musikus zum ¾ Takt“, profan Arthur Stubbe, war königlicher Musikdirektor und Professor am evangelischen Mädchenlyzeum. Ob er sich da ein wenig wie Vivaldi in Venedig fühlte? Jedenfalls findet man in seinem Nachlass in der Siebenbürgischen Bibliothek Gundelsheim geistliche Musik und zahlreiche Lieder. Und wer den Bachchor mit seinen wunderbaren Motetten erlebt hat, weiß auch gleich, wer der Ritter „Motett gib-o-Bach-t“ ist: der Stadtkantor und Organist Prof. Franz Xaver Dressler. Der viermanualigen Sauer-Orgel in der Hermannstädter Stadtpfarrkirche zuliebe wurde der aus dem katholischen Aussig stammende Deutschböhme evangelisch und prägte das Musikverständnis vieler Generationen in Hermannstadt. Als Beispiel für eine Persönlichkeit aus einem anderen siebenbürgischen „Reych“ sei hier auch der bekannte Maler Eduard Morres genannt, der als „Ölfleck der Träumende“ firmierte.

„Villa Hermanni“ wuchs bis 1935 auf 44 Ritter an, erlosch aber gezwungenermaßen bereits drei Jahre später. Der Nationalsozialismus duldete keine Organisationen, die sich nicht gleichschalten ließen – und schon mal gar nicht so weltoffene wie die Schlaraffia. Ausgerechnet Reinhard Heydrich, das „Burgknäpplein“ (Sohn) eines Schlaraffen, unterzeichnete 1937 die Anordnung, derzufolge sich der „Bund Deutscher Schlaraffen“ auflösen musste. Über ganz Europa senkte sich „uhufinstere Zeit“. Nur in der Schweiz und in Amerika überlebten schlaraffische Reyche die Nazizeit.

Nach 1945 lebten die Vereine in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich wieder auf, nur im Machtbereich des Kommunismus wurde weiterhin jede Vereinigung und nichtstaatliche Initiative unterdrückt. Da nützte es Schlaraffia auch nichts, dass sie einst als „Proletarier-Club“ begonnen hatte. Der Unterdrückungsapparat war so effizient, dass selbst die Erinnerung an diese humanistisch geprägte, wenn auch etwas exotische Blüte der bürgerlichen Kultur ausgelöscht wurde. Sie wieder ins Bewusstsein zu rufen, ist mein Anliegen. Dabei hat mich Konrad Klein ermuntert und mit Materialien unterstützt, und um Unterstützung bitte ich auch Sie, liebe Leser, wenn Sie noch Texte, Bilder oder Erinnerungsstücke von siebenbürgischen Schlaraffen haben. Lulu!

Berndt Schütz

Weitere Schlaraffen der „Villa Hermanni“

Leo Bauer, Theaterdirektor
Leo Bunzl, Direktor der Bleistiftfabrik
Julius Fabritius, Architekt (Vater v. Juliana Fabritius-Dancu)
Bernhard Frenkel, Diplomgärtner (Erlenparkgärtnerei)
F. A. Friedsmann, Offizier, Musiklehrer, Hochalpinist
Karl Glückselig, Bankbeamter, Musikdirektor (Vater v. Joana Gorvin)
Dr. Franz Haas, Rechtsanwalt
Norbert Hann von Hannenheim, Komponist
Dr. Otto Herzog, Verlagsdirektor, Abgeordneter
Hans Keul, Kaufmann, Fabrikant
Hermann Knall, Bankbeamter, Journalist
Ferdinand Königer sen., Baumeister
Dr. Fritz Kraus, Direktor der „Transilvania“
Anton Maly, Schriftsteller, Redakteur
Ernst Ott, Offizier, Kinodirektor (Vater v. Günther Ott)
Hermann Plattner, Journalist
Viktor Quandt, Sparkassabeamter, Redakteur
Dr. Ludwig Reissenberger, Stadtarzt
Paul Richter, Generalmusikdirektor
Dr. Fritz Süssmann, Frauenarzt

Zusammenstellung: Konrad Klein

Schlagwörter: Schlaraffia, Siebenbürgen, Hermannstadt

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