1. März 2020

Erwin Neustädter: "Wie ich wurde, was ich bin"

Aus dem Nachlass des Schriftstellers Erwin Neustädter (1897-1992) hat sein Enkel Ortwin Galter, Pfarrer in Linz, nach dem Bericht über die Haftzeit des Autors zwischen 1961-1963 „Mensch in der Zelle“ (2015) nun auch die Erinnerungen seines Großvaters an die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg herausgegeben. Neustädter hatte nach mehreren Anläufen und verschiedenen Fassungen seine Zeit- und Selbstbefragung 1976 als Typoskript in Form gebracht, aber nicht veröffentlicht.
Das nun erschienene Buch enthält das Vorwort des Autors und seine in 47 Kapiteln zusammengefassten Erinnerungen. Nachwort des Herausgebers, Erläuterung der Vorgehensweise bei der Zusammenstellung der Texte, eine summarische Kurzbiografie sowie Angaben zu Fotos und den eingebauten fünf Skizzen Neustädters, der sich ja auch als Graphiker versucht hat, schließen den Band ab.

Nach seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik 1965 drängte es Erwin Neustädter, dem „Zickzackkurs seines Lebenslaufes“, den er in verschiedenen Situationen unter beruflicher oder politischer „Nötigung durch zweckbedingte Perspektive“ zu verfassen hatte, frei und mit dem Ziel einer Erkundung nachzugehen, ob sich in all dem Erlebten ein Sinn oder eine „Grundrichtung“ erkennen lasse, die jenseits der äußeren historisch-politischen und kulturellen Gegebenheiten sein So-Sein bestimmt haben. Von solcher Erkenntnis erhoffte er sich einen „festen Grund unter den Füßen“. Mit diesem im Vorwort geäußerten Programm startet der Autor seine Selbst- und Welterkundung. Es sei eine Welt gewesen, „in der es möglich war, gleichsam über Nacht Heer und Front und Staatsform zu wechseln, und zwar sozusagen ,legal‘, oder aber es hinzunehmen, dass man am Abend in einem Königreich zu Bette gehen, am nächsten Morgen aber, ohne sich vom Fleck gerührt zu haben, in einem ,Hammer und Sichel‘-Staat aufwachen konnte.“
Erwin Neustädter im April 1952 ...
Erwin Neustädter im April 1952
Die Suche nach sich selbst, das Nacherleben und Begreifen eigenen Werdens innerhalb der begrenzten siebenbürgisch-sächsischen Welt, ja innerhalb des Kleinkosmosses einer Stadt, seiner Heimatstadt Kronstadt, förderte einen unterhaltsamen und höchst informativen Bilderbogen zutage, bei dem ein heutiger Leser durch interessante Geschichten Geschichte erfährt, ja erlebt, die er in keinem Geschichtsbuch finden kann. Alle Facetten des einst so reichen Lebens dieser Stadt, ihre landschaftliche Umgebung, ihre Straßen, Plätze, Wohnviertel, die Häuserarchitektur, die Bewohner mit ihren Berufen, das Leben an Werk- und Festtagen, die gesamte soziale Struktur der Stadt, werden sowohl aus der Erlebnisperspektive des einstigen Kindes geschildert als auch aus der Erinnerungsperspektive des alternden Erzählers hinterfragt. Die agierenden Personen sind Familienmitglieder, Verwandte und Nachbarn, Freunde, Männer und Frauen unterschiedlicher Charaktere, Beschäftigungen und Berufe. Einige von ihnen sind regelrechte Typen, in farbenreichen Porträts gezeichnet.

Wiewohl Neustädter im Vorwort erwähnt, dass er vor allem „sächsische Bürger“ ins Rampenlicht stelle, da sie bis zum beginnenden 20. Jahrhundert die bestimmenden Akteure der Stadt waren, agieren sie in einer bereits multiethnischen Umwelt, so dass sich ihre Wege mit Ungarn, Rumänen, Juden und „Ausländern“ unvermeidlich im Alltag wie bei besonderen Anlässen kreuzen. Beispiele hierfür sind etwa die „Prozessionen“ der verschiedenen Glaubensgemeinschaften: Bei feierlichen Amtseinsetzungen der sächsischen Obrigkeiten (beispielsweise des Stadtpfarrers oder des Obergespans) mit festlichem Reiterbanderium der sächsischen Patrizier und Vertretern der Gemeinden des Burzenlandes; sodann der Auf- und Ausmarsch sämtlicher Schulen, Vereine und Körperschaften zum alljährlichen „Honterusfest“ (das mit allen Details und Abläufen geschildert wird – somit ein historisches Dokument!). Erwähnt werden auch die Fronleichnamsprozession der ungarischen Katholiken, die Feier der „boboteaza“ (Wassertaufe) der orthodoxen Rumänen und der Umzug der sogenannten „Juni“. Auch „sesshafte“ und Wanderzigeuner gehören zum Völkerpanorama. Das Auftreten des k. und k. Heeres mit all seinen Regimentern, zum Beispiel jedes Jahr am 18. August, dem Geburtstag des Kaisers, samt Feldgottesdienst und Zapfenstreich, beeindrucken die Stadtbewohner, so dass dieser Tag sozusagen „von oben“ alle Nationen nolens volens vereint. Ebenso geschieht es beim regelmäßigen Wochen-, vor allem den alljährlichen Herbstmärkten, deren Szenen zu den gelungensten und detailfreudigen Schilderungen im Buch gehören. Spannungen zwischen den „Völkern“ der Stadt werden vom Autor lediglich angedeutet, denn die friedliche gegenseitige Duldung bestimmte noch die Atmosphäre vor dem bevorstehenden „Weltbrand“. Den sächsischen Bürgern der Stadt spricht der Autor dank ihrer Mehrsprachigkeit bereits für jene Zeit eine Art Dolmetscher- und Vermittlerrolle zu.

Schon den „Knaben“ Erwin erfassen – wie seinen Kronstädter Landsmann und „Berufskollegen“ Meschendörfer – „früh Schauder der Ewigkeit“ und das Staunen angesichts von Tod, Vergänglichkeit und der Geschichtsträchtigkeit siebenbürgischen Bodens. Mauern und Türme der Stadt, die allgegenwärtigen Spuren und Ruinen früherer Jahrhunderte in unmittelbarer Umgebung beflügeln seine Phantasie und stacheln den Wissensdurst an. Wie sehr ihn jene frühen Welterfahrungen unbewusst geprägt haben, erkennt Neustädter aus der Altersperspektive, „im Glanz der Abendsonne“ gewissermaßen, und fragt sich trotzdem auch selbstkritisch, was denn der höchst subjektive Anteil an seinem Werdegang und welches besondere Wendepunkte in seinem „metamorphosenreichen Entwicklungsgang“ gewesen sein mögen. Indem er das Allgemeine schildere, sei er selber Durchschnitt, „spätes und winziges Glied einer unendlich langen Kette unbekannter Vorfahren“, doch suche er auch seinen ureigensten Platz darin.

In jener bunten und äußerlich geordneten Welt des Vorkriegskronstadt beginnt das bewusste Erleben und Erfahren des wohlbehüteten Einzelkindes, das sich aber aus der eigenen Sicht so gar nicht geordnet vollzogen habe. Der Umzug vom Land in die Stadt (von Tartlau nach Kronstadt), physische Anfälligkeit bis schwere Krankheit setzten ihm arg zu, verursachten Schwäche, Unsicherheit, Einsamkeit und Einzelgängertum, in der Folge aber auch den strapazierenden Willen zur Ertüchtigung, zu Ehrgeiz, gar gelegentlich praktizierten Täuschungsmanövern einerseits, andererseits jedoch auch zu der frühen altersuntypischen Leseleidenschaft, phantasievollem Spiel und der Freude am Zeichnen. Außergewöhnliche Beobachtungsgabe und geschärfte Sinneswahrnehmung versetzen das Kind früh in ein Dilemma mit den Widersprüchen in der Gruppe der Altersgenossen sowie der Erwachsenenwelt und deren häufiger Doppelmoral.

Denkt man als Leser die beiden Bereiche der Welt- und Selbstbefragung Neustädters in den vorliegenden Erinnerungen zusammen und wägt sie gegeneinander ab, so gelangt man freilich zu dem Schluss, dass objektive Gegebenheiten und subjektive Eigenheiten und Begabungen Erwin Neustädter schon früh zu künstlerischer Gestaltung seiner Erlebnisse drängten, ihm jedoch historische Umbrüche, unselige Fehlentwicklungen, Kriege und in deren Folgen Verfolgung und Heimatverlust die erfüllende Selbstverwirklichung nicht nur gebremst, sondern versagt haben.

Der vorliegende Band endet zeitlich mit dem Jahr 1915. Dank der Erzählweise des Autors, bei der die zeitliche Abfolge in der der anekdotischen Schilderung von Erlebnissen und Ereignissen des Öfteren unterbrochen und durch Vor- und Rückgriffe ergänzt und erweitert wird, gelangen gelegentlich auch Hinweise auf spätere Jahre aus dem gut über 90-jährigen Leben Neustädters in den Text, doch hätte seine Biografie sicher Stoff für mehrere Romane geboten. Bekanntlich waren es lediglich zwei, die vor 1945 erschienen sind und damals eine bedeutendere Schriftstellerkarriere anzukündigen schienen.

Es ist dem Herausgeber sehr zu danken, dass er nun mit einem zweiten Erinnerungsband aus Erwin Neustädters nachgelassenen Typoskripten nicht nur seinem Großvater ein Denkmal gesetzt, sondern hoffentlich vielen Lesern ein interessantes und unterhaltsames Lesevergnügen ermöglicht und somit einen Schriftsteller aus zeitbedingter Vergessenheit holt.

Gudrun Schuster


Das Original des Typoskripts vom 13. Oktober 1976, 188 Seiten, befindet sich im Familienbesitz. Seine Digitalisierung besorgte Georg Aescht im Auftrag des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München.
Im Glanz der Abendsonne. Wie ich wurde, was ich bin. Herausgeber: Pfarrer Ortwin Galter, Linz © 2019 Inge Galter. Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt, 340 Seiten, 11,30 Euro, ISBN 978-3-748140-58-0.

Schlagwörter: Rezension, Erinnerungen, Schriftsteller, Kronstadt, Erwin Neustädter, Gesellschaft

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