21. April 2021

Es war die Stimme meiner Mutter: Wertvolle Mundartaufnahmen der Siebenbürger Sachsen und Landler auf www.siebenbuerger.de

Auf der Suche nach Geschichten über Osterbräuche in Siebenbürgen besuchte ich kürzlich die Seite des Verbandes der Siebenbürger Sachsen www.siebenbuerger.de mit Sprachaufnahmen aus verschiedenen Ortschaften. Es ist immer wieder spannend, Dialekte aus anderen Ortschaften anzuhören. Ganz besonders aber interessierten mich die Sprachaufnahmen aus Großpold. Neugierig geworden, wer sich wohl unter „Frau, 40 Jahre, aus Großpold“ verbergen könnte, klickte ich den Bericht „Erinnerungen an die Westkarpaten“ an. Die sächsische Frauenstimme, die ich hörte, war die vertraute Stimme meiner Mutter! Obwohl sie nicht mehr lebt, war sie in dem Moment lebendig und präsent, als wäre sie noch da. Die Klangfarbe ihrer Stimme war die einer jüngeren Frau, die Intonation, Begeisterung und Wortwahl waren die ihren. Mir war, als säße sie neben mir. Gebannt lauschte ich ihrer Erzählung, als sie 1943 als Schülerin mit einer Freundin in das Goldbachtal (Roșia Montană) in die Westkarpaten bei Abrud geschickt worden war.
Vor der Schule und dem Internat in Roșia ...
Vor der Schule und dem Internat in Roșia Montană (Goldbach) 1943, Katharina Rieger (rechts) und Maria Bartesch (links), jeweils mit Koffer.
Roșia Montană (deutsch Goldbach, ungarisch Verespatak) und die gleichnamige Mine liegen im Siebenbürgischen Erzgebirge (Munții Metaliferi), einem Teil der Westgebirge (Munții Apuseni) im Westen Siebenbürgens. Es zählt zu den ältesten und bedeutendsten Gold-Lagerstätten Europas. Bereits Herodot erwähnt den Goldabbau in dieser Region. Die nächstgelegene größere Stadt Abrud (Großschlatten) liegt zehn Kilometer westlich, die Kreishauptstadt Alba Iulia (Karlsburg) etwa 80 Kilometer (43 km Luftlinie) südöstlich entfernt. Mit seinen 16 Dörfern und Weilern ist Roșia Montană Teil des historischen Motzenlandes. Der Ort Roșia Montană wurde erstmals 1592 urkundlich erwähnt. Im Mittelalter gehörte der Ort zur Gemarkung der sächsischen Bergarbeitersiedlung Großschlatten.

Erst im späten Spätmittelalter griffen die Zuwandermaßnahmen der ungarischen Könige, die deutsche „Sachsen“, ungarische Siedler und umgesiedelte Szekler ins Land holten, und es kam zu einer Beruhigung und einem bescheidenen Bergbau, der jedoch an seine frühere Größe nicht anschließen konnte. Nachdem die Türkengefahr gebannt war, konnte Kaiserin Maria Theresia (1717-1780) den Bergbau auf größere Basis stellen. Roșia Montană wurde als eines der größten Bergwerke der Monarchie zur finanziellen Stütze des Reiches und des Herrscherhauses. Der Ausbau der Bergwerke erfolgte mit Hilfe deutscher Bergarbeiter, was auch die Landschaft prägte: Bergdörfer im Stil der früheren Heimat zierten die Landschaft der Karpaten. Heute wird das Gold in kleinen Tagebauen gewonnen und einige wenige Häuser zeugen von der ehemaligen deutschen Besiedelung. Die höchste Anzahl der Deutschen (261) wurde 1850 registriert. Heute leben keine Deutschen mehr in dem Ort.

Der Minenkomplex erstreckt sich auf 21,2 Quadratkilometern und gehört damit zu den größten Goldlagerstätten in Europa. Das unterirdische, zum Teil bis vor wenigen Jahren noch genutzte Stollensystem ist mehrere hundert Kilometer lang. Traurige Berühmtheit erlangte der einst staatlich geführte Bergbau durch zahlreiche Schlagzeilen um 2007 über den geplanten Verkauf an einen kanadischen Minenbetreiber (Gabriel Resources), der in nur wenigen Jahren die Restbestände an Gold und Silber mittels eines großflächigen Tagebaus fördern wollte und auch vor dem Einsatz von Cyanid nicht zurückschreckte. Eine dauerhafte Zerstörung der wunderschönen Landschaft und der einmaligen Kulturgüter wäre die Folge gewesen. Als Roșia Montană wegen seiner Goldvorräte und diesem Vorhaben wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, waren die Erinnerungen meiner Mutter wieder präsent.
Diese Postkarte schickten Midi und Kathi 1943 aus ...
Diese Postkarte schickten Midi und Kathi 1943 aus Roșia Montană zum Namenstag an ihre Freundin Maria Scheiber in Großpold.
Die dort lebenden Familien, die im Goldbergwerken arbeiteten, sprachen überwiegend rumänisch oder ungarisch. In den Jahren 1941-1944 war man bestrebt, den Kindern in der Schule wieder die deutsche Sprache nahe zu bringen. Damals lebten noch 123 deutsche Familien im Goldbachtal und in der Region. Die deutschsprachigen Schüler und Schülerinnen aus Siebenbürgen lebten mit diesen Kindern gemeinsam in einem Internat. In Stockbetten untergebracht, sollten sie ständig deutsch sprechen. Aus Großpold wurden 1943 Maria Bartesch (geb. Nietsch) und meine Mutter Katharina Rieger (geb. Stulz) nach Goldbach geschickt. Ohne elektrisches Licht, nur mit Kerzen oder Gaslampen ausgestattet, erzählten die dortigen Mädchen Geschichten über Vampire und Werwölfe aus der Gegend. Der Aberglaube war überaus verbreitet und man glaubte fest an die zirkulierenden Geschichten und in ihren Augen auch stattgefundenen Ereignisse. Ich erinnere mich an zahlreiche Geistergeschichten, in denen meine Mutter vom „Strigoi“ erzählte. Trotz logischer Ausführungen, dass es keine Gespenster gäbe und auch durch manche Streiche, die sie den dortigen Kindern spielten, um sie zu überzeugen, dass es für alles eine rationelle Erklärung gäbe, glaubten die Kinder fest an die Vorfälle und waren überzeugt, diese auch persönlich erlebt zu haben. Für uns Kinder war das Goldbachtal ein mystischer Ort voller Geheimnisse und sagenumwobener Geschichten, düster und gespenstisch.

Die Stimme meiner Mutter fand ich auch in einigen weiteren Berichten in den Sprachaufnahmen auf www.siebenbuerger.de, sie erzählt über Bräuche wie „Lichtert und Weihnachten“, „Gemeinschaftliche Birnenernte“ „Backen und Kochen“ oder „Das Weberhandwerk in Großpold“.

Ich erinnerte mich an die 70er Jahre, als ich zusammen mit meiner Mutter auf den Pfarrhof gerufen wurde. Es hieß, ein Sprachforscher aus Bukarest wolle Aufnahmen über Dialekte machen. Gerade in Großpold war der Einfluss der beiden Dialekte im jeweiligen Sprachgebrauch interessant und wichtig. So wurde bei meiner Erzählung über den Pfingstbrauch des „Birkensetzens“ darauf geachtet, ob ich Worte oder Redewendungen aus dem Landlerischen ins Sächsische übersetzte oder unbewusst anwendete. In Großpold entstanden von 1966 bis 1975 mehr als 20 Tonbandaufnahmen sowohl in landlerischem als auch sächsischem Dialekt. Das vom Linguistikinstitut Bukarest getragene Projekt führten seinerzeit die Germanistin Ruth Kisch (1994 verstorben) und Heinrich Mantsch gemeinsam durch. Für Heinrich Mantsch, der heute in Düsselsdorf lebt, waren diese Mundartaufnahmen „unmittelbarer Beleg für unsere Sprache und wertvolle Klangspuren, die zurückverweisen auf die Herkunft der Siebenbürger Sachsen“. Heinrich Mantsch war in fast allen siebenbürgischen Ortschaften unterwegs und machte Tonaufnahmen. In freier Rede erzählten die Leute vom Alltagsleben, Geschichten oder besondere Ereignisse. Diese Sprachdokumente sind, gerade nach dem Massenexodus, von unschätzbarem Wert. Der siebenbürgische Dialekt ist eine Kulturleistung von besonderem Rang. Die verschiedenen Mundarten sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Identität der Siebenbürger Sachsen, sondern enthalten auch viel kultur- und sozialspezifisches Wissen.
Rückseite der Postkarte, die Midi und Kathi 1943 ...
Rückseite der Postkarte, die Midi und Kathi 1943 aus Roșia Montană zum Namenstag an ihre Freundin Maria Scheiber in Großpold schrieben.
In den alphabetisch gelisteten Ortschaften finden sich faszinierende Beispiele über Sitten und Bräuche, der Arbeit auf dem Feld und Hof, Ereignisse aus den Dörfern, Märchen oder Begebenheiten aus dem täglichen Leben. Die Sprecher unterschiedlichen Alters, Geschlechts oder Berufes erzählen in freier Rede von dem, was sie beschäftigt oder was ihnen interessant erscheint.

Wer sich für die siebenbürgisch-sächsische Mundart interessiert, kann die Sprachaufnahmen auf der Webseite https://www.siebenbuerger.de/medien/sprachaufnahmen anhören. Im Moment sind 712 Aufnahmen aus 170 Ortschaften bearbeitet und gelistet. Den Webmastern von Siebenbuerger.de gilt ein großer Dank. Sie kramen immer wieder Neues aus den Archiven heraus, bearbeiten es und machen es der Öffentlichkeit zugänglich. Es ist sicherlich für jeden etwas dabei und es wäre schade, diese authentischen Sprachdokumente im Archiv verstauben zu lassen. Hören Sie sich die Aufnahmen an und bestimmt entdecken auch Sie neue Schätze, hören längst vergessene, aber vertraut klingende Stimmen und Dialekte oder erinnern sich an Begebenheiten, die es wert waren, aufgezeichnet zu werden.

Christa Wandschneider


Link zur Sprachaufnahme: www.siebenbuerger.de/medien/sprachaufnahmen/ortschaft/grosspold/729-geistergeschichten-vom-strigoi.html

Schlagwörter: Sprachaufnahmen, Mundart, Siebenbürger Sachsen, Landler, Siebenbuerger.de, Erinnerungen

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