24. Oktober 2022

Literarisch-musikalischer Abend in Deutsch-Weißkirch

Am zweiten Tag der zehnten Kulturwoche Haferland stand unser schönes Dorf Deutsch-Weißkirch im Mittelpunkt des Geschehens. Wir vom Hof Nr. 160 fühlten uns sehr geehrt, dass sich eine beträchtliche Hörerschaft zu der Lesung von Dagmar Dusil, am Klavier begleitet von Johann Markel, einfand, darunter bekannte Gäste wie der Bundesvorsitzende des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Rainer Lehni, mit Gattin Heike-Mai-Lehni, der Kronstädter Bezirksdechant Dr. Daniel Zikeli, Heidi Sander, Martin Eichler mit Ehefrau, Caroline Fernolend, Direktorin der Eminescu Stiftung, das Organisatorenehepaar Gerhild und Dietmar Gross sowie aufmerksame Freunde von literarischen Texten und klassischer Musik.
Die Schriftstellerin Dagmar Dusil begann mit einer kurzen Erläuterung zur Entstehungsgeschichte ihres Gedichtbandes „Beleuchtete Busse, in denen keiner saß“. Es sei das Ergebnis eines innigen Gedankenaustausches mit einer Dichterfreundin, Ioana Ieronim, während der Pandemie, berichtete sie. Beide sind der Sprache der anderen mächtig und hatten Freude daran, die Gedichte der Freundin in die eigene Sprache zu übersetzen. Es entstand ein zweisprachiger Gedichtband in Deutsch/Rumänisch bzw. Rumänisch/Deutsch. Für uns Zuhörer und späteren Leser der Gedichte ist es ein doppelter Genuss. Längst vergessene oder gar nicht geläufige Wörter aus dem Rumänischen in deutscher Sprache zu hören als auch Gedanken in wunderbaren Metaphern in zwei Sprachen zu erfahren. Zwar gingen beim Vortrag die in Schwarzweiß gehaltenen Seiten des Buches mit den symbolträchtigen Scherenschnitten von Gerhild Wächter verloren, wer allerdings den Gedichtband erwirbt, wird zusätzliche Freude am Buch haben. Zum Ausgleich dafür gab es für uns Zuhörer an diesem Abend passende klassische Klänge zu den Texten, die Johann Markel an seinem historischen Bechstein-Flügel mit viel Leidenschaft darbot. Mit dem Klavierstück von Mozart D-Dur Allegro KV 626:16 begann der musikalische Teil des literarisch-musikalischen Abend.

Dagmar Dusil und Johann Markel beim musikalisch ...
Dagmar Dusil und Johann Markel beim musikalisch-literarischen Abend in Deutsch-Weißkirch
Mit der Vorlesung des ersten Gedichtes „Resümee“ 2020 lenkte die Autorin unmissverständlich unsere Aufmerksamkeit auf die zurückliegende Zeit der Pandemie, eine Problematik, mit der sich alle Gedichte des Buches auf unterschiedliche Weise beschäftigen. Das gesamte Spektrum von Verzweiflung, Angst, Erschütterung, Erstarrung, Wut und Konfrontation mit Tod ließ uns plötzlich aufhorchen: „Die Welt ist aus den Fugen geraten…das Jahr warf seine Schatten voraus…2020 das Jahr, das Menschen entblößte bis auf die Haut… Kummer wird digital geteilt… was ist schon normal – fragst du leise hinter der Maske“. Die unheilvolle Stimmung des Gedichtes setzte Johann Markel mit seiner Interpretation des Klavierstück von Tchaikovsky Op. 39 Nr. 1 „Das Morgengebet“ fort. Russische Komponisten wurden bewusst für diesen Abend ausgewählt. Es sollte ein Zeichen gegen diejenigen gesetzt werden, die nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine dazu neigten, russische Kunst verstummen zu lassen. Es erklangen am Abend weitere russische Kompositionen von Tschaikowski und Scriabin.

Mit der Lesung der Gedichte in beiden Sprachen wie „Stille“ und „Abendlied“ erreichte die Autorin weiter die Gemüter der Zuhörer. Erlebtes flackerte unwillkürlich auf: „So viel Stille… Die Stadt in der Schwebe… die Osterglocken vergessen… tektonische Platten im zögerndem Warten… Wege atmen tiefe Dunkelheit“. Mit dem Prélude Op. 11 Nr. 4 vom jungen Scriabin unterstrich Johann am Klavier eindrucksvoll den vorgelesenen Text. Mit dem Stück von Tschaikowski Op. 38 Nr 7 „Die kranke Puppe“ schaffte er dann Ausblick auf die nachdenklichen Worte des Gedichtes „Im Heim“. Wir tauchten in eine Welt der älteren Menschen während der Pandemie ein, die in ihren vier Wänden zur Isolation verdammt waren und in eine Welt der Erinnerungen, soweit möglich, versanken. Wir hörten: „Zimmer wird zur Heimat gemacht mit Ausblick auf imaginäre Berge… entschwundene Geschichten der Kindheit… Heimat auf der Zunge gespürt… mit Sarmale und … Holunder… Lieder der Heimat gehört, als das Herz im Trommeltakt schlug“.

Im „Zauberspruch des Jahres“ erlebten wir, dass: „eine Gefahr (doch nicht wie von uns geplant) die Menschen zum ersten Mal vereinte … das Jahr 2020 hält uns den Spiegel vor“. Offen bleibt allerdings, was wir ins nächste Jahr mitnehmen und was wir daraus lernen: „vereint haben wir verloren, nur vereint werden wir siegen“, sind Worte, die nachdenklich stimmen. Es ist eine eigenartige Gegenwart, die uns eingeholt hat und den Weg in nur eine Richtung weist. „Wir leben im Abschied/ in der Vorläufigkeit des Seins/ wir leben im leisen Tod des Augenblicks/ im Trommelwirbel der Stille“, beginnt Dagmar Dusils Gedicht „Memento mori“.

Markels Interpretation der „Romanze ohne Worte“ von Carl Filtsch, dem viel zu früh verstorbenen siebenbürgischen Wunderkind, passte nicht nur zu den Aussagen des gehörten Gedichtes, sondern auch zu dem Raum, in dem wir uns gerade befanden. Es ist die alte Schreinerwerkstatt des Großvaters des Pianisten, die im neuen Glanz einer Musikwerkstatt erstrahlt und uns für diesen Abend ein herrliches Ambiente bot.

Dagmar Dusil ließ uns auch an der schwierigen Übersetzungsarbeit ins Deutsche der rumänischen Gedichte ihrer Freundin Ioana Ieronim, die in New York lebt, teilhaben. Die in der Nacht übersetzten Texte wurden am Morgen beim Frühstück zusammen mit dem Ehemann Dieter Zink begutachtet und gerichtet. Jedes Wort musste stimmen, das war der hohe Anspruch des literarisch aktiven Ehepaares. So entstand, wie sollte es anders sein, ein nächstes Gedicht: „Sei gegrüßt zur Zoom-Stunde“: „trăim în timp suspendat timp furat/ tempo rubato/ fără promisiunea întoarcerii“, schreibt Ioana Jeronim aus New York und Dagmar Dusil in Bamberg übersetzt: „Wir leben in schwebender Zeit, gestohlener Zeit/ tempo rubato/ ohne das Versprechen einer Wiederkehr“.

Die Autorin beendet ihre Lesung mit meinem Lieblingsgedicht: „Panta rhei“. Schon während sie ihre Verse las, ordneten sich meine Gedanken in eigene Reime und begleiteten mich in die nächsten Tage hinein.


Panta rhei
Lass es geschehen
das Werden, Vergehen
lass es geschehen
das Leben im warmen Atem
lass die Wasser fliessen
über die Stoppeln der Felder
lass Türme sich neigen
und Äpfel verfaulen
lass Brunnen austrocknen
lass es geschehen
dass Menschen kommen
dass Menschen gehen
lass es geschehen
im Blätterfall
lass Abschiede regnen
und Pfützen entstehen.


Meine Gedanken in Versform dazu:
Geplant wars anders,
gekommen ists, wies kam.
Erbe übersprang den Erben,
nur der Anfang ward getan.
Die Werkstatt strahlt nun wieder,
die Hämmer schlagen an.
Es tönen neue Lieder
und alles geht voran.
Lass es geschehen,
die Welt erholt sich schon.
Es wird ihn immer geben,
Den wilden Marathon.
8.08.22, R. Markel

Mit wenigen, aber aussagekräftigen Wörtern schließt Dagmar Dusil den literarisch-musikalischen Abend: „Jede Katastrophe ist nur dann zu Ende, wenn eine größere Katastrophe folgt. Die Pandemie hat sich verabschiedet, aber leider haben wir eine größere Katastrophe vor der Tür.“ Mit den hoffnungsvollen Klängen der Arabesque Nr. 1 von Debussy geht ein berührender Abend in Deutsch-Weißkirch zu Ende. Danke an Dagmar Dusil und Johann Markel.

Das Buch „Beleuchtete Busse, in denen keiner saß / Și trec autobuze goale“, Deutsch/Rumänisch von Dagmar Dusil/Ioana Ieronim, ISBN 978-86356-339-4, ist über jede Buchhandlung, direkt beim Pop Verlag in Ludwigsburg oder in der Erasmus Buchhandlung in Hermannstadt zu erwerben.

Roselinde Markel

Schlagwörter: Deutsch-Weißkirch, Literatur, Musik, Markel, Dusil

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