13. Februar 2023

Stalins Befehl zur Deportation der Deutschen in Südosteuropa: Podiumsdiskussion in Berlin

Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin startete am 10. Januar mit einer Vorstellung eines dokumentarischen Foto-Text-Buchs des Luxemburgers Marc Schroeder in das neue Jahr, das wieder viele interessante Veranstaltungen bereithält. Im großen Vortragssaal begrüßte Direktorin Gundula Bavendamm die Partner dieser Buchvorstellung: den Autor, die Kulturreferentin für Siebenbürgen am Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim, Dr. Heinke Fabritius, das Rumänische Kulturinstitut, die Deutsch-Rumänische Gesellschaft und den Kulturreferenten der luxemburgischen Botschaft Guido Jansen-Recken.
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Autor und Fotograf Marc Schroeder (Mitte) im Gespräch mit Dr. Heinke Fabritius und Dr. Andreas Kossert. Foto: Ulrich Miksch
Nach auch geschichtlich einführenden Worten von Heinke Fabritius schloss sich ein Einführungsfilm mit kurzen Erzählsequenzen der Protagonisten des Buches an, dann diskutierte der Historiker Dr. Andreas Kossert vom Dokumentationszentrum mit dem Autor Marc Schroeder und Heinke Fabritius über die Beweggründe und die Gestaltung des Buches.

Was war der Befehl 7161, der als Titel des Buches auf Englisch ORDER 7161 fungiert? Am 16. Dezember 1944 unterzeichnete Stalin den Befehl 7161ss, ein geheimer Beschluss des Staatskomitees für Verteidigung, zur „Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen Deutschen, Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30 Jahren“ aus Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei. Die Deportation zur Zwangsarbeit sollte dem Wiederaufbau der Sowjetunion dienen und galt als Reparationsleistung für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Von den 112 480 Männern und Frauen war die Mehrzahl, nämlich 69 332 Personen, Deutsche aus Rumänien, 215 waren aber auch Deutsche aus der Tschechoslowakei. Sie sollten zum Wiederaufbau der Bergwerke im Donezbecken und im Kaukasus, und in der Schwerindustrie und den Hüttenwerken eingesetzt werden. Zwischen 12 und 20 Prozent überlebten die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht. Ende 1949 kehrten die ersten wieder nach Rumänien zurück.

Der Luxemburger Fotograf Marc Schroeder stieß 2010 in einem Artikel der „Zeit“ über Rumäniendeutsche in einem Altersheim in Hermannstadt erstmalig auf diese Minderheit und es interessierte ihn auch deshalb, weil die Vorfahren der Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert beginnend aus dem luxemburgischen Raum gekommen waren, was noch immer sprachlich im deutschen Dialekt der Siebenbürger nachweisbar ist. Bei einer ersten Erkundungsreise im Oktober 2010 durch Rumänien erfuhr er dann von der Deportation der Rumäniendeutschen und biss sich daran fest. Über die Jahre vor allem 2012, 2013, als ihm ein Reisestipendium für sein Projekt der Sammlung von Porträts der Überlebenden der Deportation in ihren letzten Lebensjahren zur Verfügung stand, traf er insgesamt 40 Betroffene, die er im Buch auch namentlich nennt und zeigt. Die Aussagen dieser Menschen jedoch, die im Buch chronologisch zum Ablauf der Deportation und der Zeit davor und danach geordnet sind, hat er anonymisiert und nur mit männlich oder weiblich zugeordnet. Dabei entsteht ein Bild der kollektiven Erfahrungen der Betroffenen. Die Fotografien, meistens schwarz-weiß, zeigen Winterlandschaften und Landschaften aus dem fahrenden Zug – so wie zur Zeit, als die Deportationen im Winter 1945 begannen.

Alltagsszenen im Leben der Deportierten heute, alte Fotografien, Dokumente des Lagerlebens, Postkarten, Schriftstücke, die ihm die porträtierten Rumäniendeutschen zeigten; aber auch Farbbilder mischen sich in den Erzählmodus des Buches. Sie lassen die Schönheit der rumänischen Landschaften aufscheinen und sie bildeten auch bei den Porträts einen Abschluss. In den Tagen nach den Gesprächen über ihre Erlebnisse während der Deportation machte Marc Schroeder jeweils noch ein farbiges Porträt in der eigenen Wohnung. Es ist der irgendwie versöhnliche Schlusspunkt eines Lebens mit dessen schrecklichen prägenden Erlebnissen, über die die Betroffenen meist niemandem vorher je so detailliert berichtet hatten.

Schroeder erzählt von den Mühen der Entstehung des Buches, das im Oktober 2022 auf der Short List eines Fotobuch-Wettbewerbs der Messe Paris Photo nominiert wurde und im niederländischen Breda vom Verlag „The Eriskay Connection“ auf Deutsch und Englisch herausgegeben wurde, wobei die englische Ausgabe bereits ausverkauft ist.

Er berichtet im Gespräch, wie stark der Druck für ihn wurde, wegen der Verantwortung, die er aufgrund der vielen offenherzigen Begegnungen und Erzählungen seiner Porträtierten spürte, nachdem nun immer mehr seiner Protagonisten verstarben. Mittlerweile, so schätzt er, leben nur noch zwei oder drei dieser 40 Porträtierten. Es musste unbedingt zur Publikation kommen, die dann auch vom Nationalen Kulturfonds Luxemburgs und vom Förderprogramm Publishing Romania des Rumänischen Kulturinstituts unterstützt wurde.

Begeistert von den Filmaufnahmen, die am Anfang der Veranstaltung von den Porträtierten gezeigt wurden, forderte ein Zuschauer den Autoren und Fotografen Marc Schroeder auf, unbedingt eine Filmdokumentation noch nachzuschieben. Dafür bräuchte Schroeder allerdings noch einen versierten Schnittmeister und irgendwie hat ihn das Projekt mit den vielen Porträts und den tiefen emotional fordernden Begegnungen über die Jahre sehr gefordert, sodass er in der letzten Zeit nur Landschaften und keine porträtierten Menschen mehr fotografierte. Aber vielleicht lassen ihn die Rumäniendeutschen und ihr Deportationsschicksal doch nicht ganz los und wir können alsbald einen Dokumentarfilm mit Porträts sehen. Die Aufnahmen, die er machte, hat er jedenfalls noch gespeichert und sie sind ein Dokument über den Tod der Betroffenen hinaus, wie schon das gut orchestrierte Buch, das, wie die Direktorin Bavendamm anmerkte, bereits kurz nach Erscheinen Eingang in die Bibliothek des Dokumentationszentrum gefunden hatte.

Ulrich Miksch



Autor und Fotograf Marc Schroeder (Mitte) im Gespräch mit Dr. Heinke Fabritius und Dr. Andreas Kossert. Foto: Ulrich Miksch

Schlagwörter: Deportation, Russlanddeportation, Fotograf

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